96 Jahre alt wurde Esther Bejarano als sie in der Nacht auf den 10. Juli 2021 nach kurzer schwerer Krankheit ruhig und friedlich einschlief. Ruhig war Esther zu ihren Lebzeiten eigentlich nie – und gerade das zeichnete sie als außergewöhnliche Frau und unermüdliche Mahnerin vor Faschismus und Krieg aus. Noch am 8. Mai dieses Jahres nahm sie an einer Kundgebung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in Hamburg teil, deren Ehrenvorsitzende sie bis zuletzt war, und erzählte dort auf der Bühne von ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 durch die Truppen der Rote Armee und der USA, die zu diesem Zeitpunkt in der kleinen Stadt Lübz beinahe gleichzeitig eintrafen.
Esther wurde am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy im saarländischen Saarlouis geboren. Sie war die jüngste von fünf Geschwistern. Esthers Eltern wurden im November 1941 in Kowno (Litauen) von den deutschen Faschisten ermordet, ihre Schwester ein Jahr später im Vernichtungslager Auschwitz. So erzählte Esther, dass sie zuerst gar nicht wusste, was mit ihren Eltern geschehen war, sie fand ihre Namen erst später in einem Buch, in dem die Transporte von Breslau nach Kowno aufgelistet waren. „Und wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind – das ist für mich das Schlimmste und viel grauenhafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe“, sagte Esther Bejarano in einem Interview mit Melodie und Rhythmus.
Esther selbst musste Zwangsarbeit für die Nazis leisten, ehe sie mit gerade einmal 18 Jahren, am 20. April 1943, nach Auschwitz deportiert wurde. Dort tätowierte man ihr die Häftlingsnummer 41948. In den siebziger Jahren ließ sie sich die Nummer von einem Palästinenser in Jerusalem entfernen, weil sie genervt davon war, immer wieder auf diese angesprochen zu werden.
Ihre Stimme und ihre musikalische Begabung sollten ihr im Vernichtungslager das Leben retten. Sie wurde verpflichtet als Akkordeonspielerin im Mädchenorchester von Auschwitz zu spielen. Ohne ein solches Instrument jemals zuvor in den Händen zu halten, lernte sie in nur wenigen Minuten die Tastenbelegung und konnte auf Anhieb den Schlager Bel Ami vorspielen. Esther gehörte damit zur ersten Besetzung des Orchesters. Die Mädchen und jungen Frauen mussten daraufhin bei den täglichen Märschen der Arbeitskolonnen durch das Lagertor spielen, oder auch bei den Selektionen an den Rampen. Gefangene sollten durch die Musik beruhigt werden, bevor sie in den Gaskammern ermordet wurden. Für Esther und die anderen Musikerinnen war dies eine zusätzliche „furchtbare Belastung“, wie sie später erzählte.
Esther erkrankte im KZ Auschwitz an Bauchtyphus, später an Keuchhusten und anschließend an Avitaminose. Aufgrund ihrer Erkrankung wurde sie mit rund 70 anderen Frauen im November 1943 ins KZ Ravensbrück verlegt. Als die Truppen der Befreier näher rückten, wurde Esther im April 1945 gezwungen, an den Todesmärschen von KZ-Häftlingen teilzunehmen. Die Märsche dauerten tagelang, wer nicht mehr konnte, wurde von der SS erschossen. Esther konnte mit anderen Frauen aus der Kolonne flüchten und sich im mecklenburgischen Städtchen Lübz verstecken. Dort konnte sie schließlich gemeinsam mit anderen Überlebenden, mit Rotarmisten und US-Soldaten die Befreiung und das Kriegsende feiern. Der 8. Mai sollte Esthers zweiter Geburtstag werden, wie sie später selbst immer wieder sagte.
In den 1960er Jahren kam sie nach einigen Jahren in Israel zurück nach Deutschland. Ihr Mann wurde als Kommunist in Israel politisch verfolgt und nach dem Suezkrieg, einem Überfall von Israel, Frankreichs und Englands auf Ägypten, entschlossen sich die beiden das Land zu verlassen. Zurück in der BRD eröffnete Esther in Hamburg eine Boutique. In dieser Zeit wurde Esther schnell damit konfrontiert, dass in der BRD auf vielen Ebenen des Staates alte und neue Nazis zu finden waren. Dadurch erwachte auch wieder ihr politisches Bewusstsein. Sie wurde Mitglied in der VVN-BdA und wurde im Jahr 2008 zur Ehrenvorsitzende gewählt. Esther verstand sich als Kommunistin und war Mitglied in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Im Jahr 1986 gründete Esther Bejarano das Auschwitz-Komitee in der BRD. Auf dem 18. regulären Kongress der Fédération Internationale des Résistants (FIR) wurde sie im Jahr 2019 in Reggio Emilia als Mitglied des Ehrenpräsidiums gewählt.
Seit 2009 und dann über viele Jahre hinweg trat Esther gemeinsam mit der im Jahr 1989 in Köln gegründeten Hip-Hop-Gruppe Microphone Mafia und ihrem Sohn Jorem Bejarano auf, sie spielten zusammen hunderte Konzerte. Wie es zu dieser langjährigen Zusammenarbeit gekommen war, erzählte Esther auf ihren Auftritten immer wieder gerne: „Hallo, hier ist Kutlu von der Microphone Mafia“, soll die damals noch fremde Stimme am Telefon gesagt haben. „Da war ich entsetzt. Ich dachte: Was will denn die Mafia von mir?“ Aus dem Musikprojekt entwickelte sich schließlich eine enge und langjährige Freundschaft.
Esther war ihr Leben lang Mahnerin gegen das Vergessen, sie trat stets gegen Faschismus und Krieg auf, mischte sich immer wieder in politische Debatten ein und kritisierte den Staat für sein Versagen, den aufkeimenden Rechtsextremismus und Neofaschismus zu bekämpfen. Esther Bejarano war eine große Kämpferin für Frieden und für eine Gesellschaft frei von Faschismus und Rassismus. Esther meldete sich auch stets als scharfe Kritikerin der israelischen Kriegspolitik und des Besatzungsregimes in Palästina zu Wort. Auch damit wurde sie immer wieder zur Zielscheibe rechter Angriffe, die nicht davor zurückschreckten den Antisemitismusvorwurf selbst gegen jüdische Antifaschisten und Kommunisten zu missbrauchen. Sie war eine Frau von großer Entschiedenheit, eine begnadete antifaschistische Künstlerin, die insbesondere in die Jugend große Hoffnungen setzte. Esther, wir verneigen uns vor dir, soll uns dein Vermächtnis stets Auftrag sein!
Esther Bejaranos Familie, ihren Angehörigen, allen Freundinnen und Freunden sprechen wir unser tiefes Mitgefühl und Beileid aus.