Auch Literaturgeschichte wird von Siegern geschrieben. Schon nach Erscheinen des Hauptwerks des deutsch-schwedischen Universalkünstlers Peter Weiss wurde es im Westen Deutschlands bekämpft – zumindest so lange, bis man um die Anerkennung der künstlerischen Genialität dieser Trilogie nicht mehr herumzukommen wusste. Eine Leseempfehlung für ein literarisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das heute viel unbekannter ist als es sein sollte – weil sein Autor die Sieger des kalten Krieges lieber als Verlierer gesehen hätte.
Durchgängiges Motiv des zwischen 1975 und 1981 erstmals erschienenen dreiteiligen Roman-Essays „Die Ästhetik des Widerstands“ (ÄdW) ist die Vermittlung von Kunst und Politik, und zwar in progressiver, revolutionärer Absicht. Er erzählt die fiktive Geschichte eines jungen deutschen Arbeiters und Widerstandskämpfers in den Jahren 1937 bis 1945, der damit ringt, neben seiner Arbeit und seiner meist illegalen politischen Aktivität auch noch die Zeit und Kraft zu finden, sich umfassend ästhetische Eindrücke zu verschaffen und sie zu verarbeiten, um so die Welt erst voll verstehen zu können. Dies wird gleichzeitig als Bedingung zur Veränderung der Welt begriffen, denn „zu einer Revolution der Gesellschaftsordnung gehört auch eine revolutionäre Kunst.“((Peter Weiss: 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, Rapporte 2, Frankfurt aM 1971, Seite 17.)) Der namenlose Erzähler führt, gemeinsam mit Freundinnen und Freunden sowie Genossinnen und Genossen, einen erbitterten Kampf zur „Überwindung einer klassenbedingten Aussperrung von den ästhetischen Gütern“((Peter Weiss: Die Notizbücher, kritische Gesamtausgabe, Digitale Bibliothek 149, Seite 12286.)). Einen Kampf also, der unter den gegebenen Bedingungen an die Substanz gehen muss: „Über Kunst sprechen zu wollen, ohne das Schlürfende zu hören, mit dem wir den einen Fuß vor den andern schoben, wäre Vermessenheit gewesen. Jeder Meter auf das Bild zu, das Buch, war ein Gefecht, wir krochen, schoben uns voran, unsre Lider blinzelten, manchmal brachen wir bei diesem Zwinkern in Gelächter aus, das uns vergessen ließ, wohin wir unterwegs waren.“((Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt aM 2005, Seite 74.))
Schwer kann in wenigen Worten überblickt werden, was die ÄdW alles leistet, denn „in keinem anderen Werk der Moderne wird die Intention auf Totalität so radikal vertreten und eingelöst wie in Weiss‘ Ästhetik des Widerstands“ ((Thomas Metscher: Ästhetik, Kunst und Kunstprozess, Berlin 2013, Seite 133.)). Man möge sich daher auf den Literaturwissenschafter, Philosophen und ÄdW-Interpreten Thomas Metscher stützen: „Bereits formal ist der Text eine höchste Gestalt kultureller Synthesis: als Einheit von Romanform, ästhetischer Theorie, Werkinterpretation, Kunstkritik, Geschichtsschreibung und politischer Theorie, strukturell von Avantgarde und Realismus; sein Gegenstand ist Zeitgeschichte als Geschichte der Arbeiterbewegung und des proletarischen Widerstands in der Zeit des Faschismus, die Geschichte Europas und die Geschichte der Welt. Der Schlüssel zu dieser umfassenden Synthesis liegt im Konzept der umfassenden epistemischen Leistung der Künste, das die Ästhetik des Widerstands als Text ästhetisch exemplifiziert und zugleich theoretisch erläutert. Nach dieser Konzeption ist die Kunst die Form höchster epistemischer Synthesis: Sie allein ist imstande, ästhetisches, begrifflich-wissenschaftliches und alltagspraktisches Wissen in einer epistemischen Form zusammenzuschließen.“((Ebenda, Seite 133 f.))
Die „größte Qualität der Kunst“ liegt laut Peter Weiss in der Fähigkeit, „in die Wirklichkeit einzugreifen, um diese zu verändern“((Peter Weiss: Antwort auf einen offenen Brief von Wilhelm Girnus an den Autor in der Zeitung „Neues Deutschland“, in: Rapporte 2, Frankfurt aM 1971, Seite 26.)), gleichzeitig tritt sie in seinem Werk als eine anthropologische Notwendigkeit auf, ja sogar als „höchster Ausdruck der Wirklichkeit“((ÄdW, zit. nach Thomas Metscher: Kunst und Epochenkrise, in: Werner Seppmann (Hg.): Ästhetik der Unterwerfung, Hamburg 2013, Seite 197.)). Die politischen Diskussionen, die in der ÄdW geführt werden, spiegeln die verschiedenen Positionen, die in der Arbeiterbewegung zu den wichtigen Fragen dieser Zeit vertreten wurden, wider. Klar geht dabei auch immer wieder die Meinung hervor, die Weiss selbst wohl vertrat und die nicht immer die richtige sein muss ((So mag zum Beispiel seine Position zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterm Strich falsch sein; als einseitig oder gar als bewusst feindlich gegenüber dem sozialistischen Lager kann man seine Auseinandersetzung mit diesem Thema aber schwer abtun. Ebenso kann ihm kaum zur Last gelegt werden, dass er seinerzeit, wie so viele andere, den folgenschweren „Enthüllungen“ Chruschtschows am XX. Parteitag der KPdSU anhing, die inzwischen historiographisch widerlegt sind.)).
Das heißt aber nicht, dass die jeweils anderen Meinungen immer als unvertretbar beiseitegeschoben würden. Vielmehr bemüht sich Weiss, die widersprüchlichen politischen Positionen aus dem jeweiligen Platz, den jemand in der Welt und in den politischen Konflikten einnimmt, zu verstehen, denn: „Das Wertvolle an der ÄdW ist doch gerade ihre Ausrichtung gegen einen abstrakten Universalismus, der sich ahistorisch, undialektisch und abgehoben gegenüber den konkreten Widersprüchen der geschichtlichen Wirklichkeit und der geschichtlichen Erfahrung der Arbeiterklasse und ihrer Subjekte verhält.“((Hannes Fellner / Stefan Klingersberger: Imaginierte Linie, in: junge Welt, 7.5.2013.)) Diese Ausrichtung setzt wiederum eine klare grundlegende Orientierung voraus: „Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit. Was auch für Fehler im Namen des Sozialismus begangen worden sind und noch begangen werden, so sollten sie zum Lernen da sein und einer Kritik unterworfen werden, die von den Grundprinzipien der sozialistischen Auffassung ausgeht.“((Peter Weiss: 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, Rapporte 2, Frankfurt aM 1971, Seite 22.))
Für Peter Weiss war klar, dass es keinen Platz zwischen Imperialismus und Sozialismus gibt: „Ich sitze nicht zw. 2 Stühlen, sondern weiterhin auf dem unbequemen Holzstuhl des Sozialismus“((Peter Weiss: Die Notizbücher, kritische Gesamtausgabe, Digitale Bibliothek 149, Seite 12525.)), denn „zwischen beiden Wahlmöglichkeiten, die mir heute bleiben, sehe ich nur in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die Möglichkeit zur Beseitigung der bestehenden Mißverhältnisse in der Welt“((Peter Weiss: 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, Rapporte 2, Frankfurt aM 1971, Seite 22.)). Von der in den kapitalistischen Staaten oftmals propagierten Parteilosigkeit der Kunst hielt Weiss nichts: „Heute aber sehe ich, dass eine solche Bindungslosigkeit der Kunst eine Vermessenheit ist.“((Ebenda, Seite 23.)) Warum sollte man als Künstler auch unparteiisch bleiben, wenn man ohnehin „mit dem wissenschaftlichen Sozialismus die Ausdrucksfreiheit der Kunst [verbindet], weil ich im Sozialismus überhaupt erst die Voraussetzung sehe für eine wirklich freie Kunst, d.h. eine Kunst, die sich von der Spekulation, der Kommerzialisierung und dem Dienst an einer herrschenden Klasse losgelöst hat.“((Peter Weiss: Antwort auf einen offenen Brief von Wilhelm Girnus an den Autor in der Zeitung „Neues Deutschland“, in: Rapporte 2, Frankfurt aM 1971, Seite 28.))
Diese seine politischen und ästhetischen Werthaltungen fließen in die ÄdW ein und werden in ihr in einer künstlerisch vollendeten Form zur Einheit gebracht. Den grundlegenden Entwicklungsgang der ÄdW fasste Weiss in seinen Notizbüchern wie folgt zusammen: „Band I der kollektive Kampf um die Gewinnung der Kultur, die Eroberung eines Ausdrucksmittels, mit dem sich die Erfahrungen der (Arbeiterklasse) der Missbegünstigten, der Erniedrigten gestalten lassen / Band II Prozess der Individuation im Versuch, die Ästhetik vom Werkzeug zur Erkenntnis kultureller Vorgänge zum Instrument eines kämpferischen Eingreifens in die Welt der Kultur zu machen / Band III nach den Erkenntnissen zu erzählen“((Peter Weiss: Die Notizbücher, kritische Gesamtausgabe, Digitale Bibliothek 149, Seite 9630 f.)).