Die undurchsichtige Rolle einer russischen Geschäftsfrau in London und die vielen Ungereimtheiten im Fall des angeblich vergifteten russischen „Oppositionsführers“ Alexej Nawalny.
Berlin/Moskau. Maria Pewtschich (Pevchikh), die angeblich die Ermittlungsarbeit von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung FBK von London aus leitet, ist zur Zeit eine der Schlüsselpersonen zur Aufklärung des mutmaßlichen Giftanschlags auf Nawalny. Sie hatte Nawalny auf dessen Reise nach Nowosibirsk und Tomsk begleitet und ist eine enge Vertraute seiner Financiers. Außerdem wird sie mit britischen Geheimdiensten in Verbindung gebracht.
Nach dem Zeitplan seiner sibirischen Reise hielt Nawalny ein Treffen mit Freiwilligen ab, nahm Material für eine neue Untersuchung vor den Wahlen am 13. September auf und ging später nach Tomsk. Es ist dieser Teil der Reise, der den Schlüssel zur Lösung der mysteriösen Vergiftung bereithält. In Tomsk sammelte Nawalny Informationen und sprach über die Arbeit von Einiges Russland im Wohnungssektor. Besonderes Augenmerk wurde auf Tomskvodokanal LLC gelegt. Das Unternehmen unterhält Wasserversorgungsnetze in der ganzen Stadt, nachdem es den Wettbewerb gegen den Moskauer Konkurrenten Rosvodokanal (RVK) gewonnen hat. RVK ist der größte private Betreiber zentralisierter Wasserversorgungs- und Abwassersysteme des Landes, den Wladimir Aschurkow von Zeit zu Zeit unterstützt. Die Interessen von Rosvodokanal reichen viel weiter als Sibirien. Insbesondere kämpft die RVK für die Wasserversorgung in Rjasan und versucht, einen 49-Jahres-Vertrag zu bekommen. Dennoch traf die Niederlage in Tomsk die Pläne des Unternehmens erheblich, so dass von Aschurkow der „Aufdecker“ Alexej Nawalny, darauf angesetzt wurde, nach schmutzigen Praktiken der Konkurrenz zu stöbern. Wahlen und die Sorge um den Wohnungs- und Kommunalsektor in Sibirien sind zu einem guten Deckmantel für den Kampf um den Markt geworden.
Aber warum genau die Reise nach Tomsk zu einem solchen Thema wurde und welche Rolle Aschurkow und die Besitzerin einer Buchhandelskette aus London bei der Vergiftung Nawalnys spielten, wird deutlich, wenn die Geschichte ihrer Interaktion mit Nawalny nachverfolgt wird.
Nawalny wird aufgebaut und finanziert
Das geht zurück auf das Jahr 2010, damals hatte Nawalny noch keine eigene „Marke“ und führte einen politischen Blog auf der LiveJournal-Plattform, der schließlich die lang erwartete Aufmerksamkeit eines potenziellen Investors auf sich zog. Er wurde von Wladimir Aschurkow kontaktiert, der von September 2006 bis Februar 2012 Direktor für Vermögensverwaltung und ‑kontrolle bei CTF Holdings Ltd, der geschäftsführenden Gesellschaft des Konsortiums der Alfa-Gruppe, war.
Später war es Aschurkow, der Nawalny an die Öffentlichkeit brachte und den Kontakt zu dem ausländischen Finanzier William Browder und Jewgeni Tschitschwarkin vermittelte, der sich in London niederließ. Dies ermöglichte es, eine Strategie zu entwickeln, um ihre eigene Marke zu schaffen und Einfluss auf die soziale und politische Agenda zu gewinnen. Große Aufgaben wurden in Folge für Nawalny entworfen: Er sollte eine breite „demokratische“ Oppositionsbewegung schaffen.
In den nächsten Jahren integrierte Aschurkow Nawalny aktiv in die globale Elite. Er schuf einen Namen, ein Bild, eine Marke für einen wenig bekannten Blogger. Er half bei der Finanzierung, förderte hochkarätige Untersuchungen und gab Anweisungen für die Erstellung seines eigenen Projekts. 2011 gründete Nawalny zusammen mit Aschurkow die Antikorruptionsstiftung (FBK). 2012 wurde die Zusammenarbeit des Top-Managers der „Alfa Group“ mit der Opposition öffentlich bekannt, weshalb er seinen Posten abgeben musste. Später wurde Aschurkow offiziell in Nawalnys Team aufgenommen und zum Exekutivdirektor der FBK ernannt.
Alexej Nawalny wurde der informelle Führer der Opposition, nachdem er Medien und finanzielle Unterstützung von ausländischen Investoren und Organisationen erhalten hatte, in Yale studierte und zahlreiche russische Oppositionsbewegungen in seinen Händen konzentrierte. FBK sammelte Hunderte von Millionen Rubel an Spenden, und Millionen von Dollar gingen durch die Bitcoin-Geldbörse des Leiters von Nawalnys Hauptquartier, Leonid Wolkow.
Nawalny beginnt Verbündete zu verlieren
Doch plötzlich begann Nawalny, Verbündete zu verlieren. Die erste schlechte Nachricht war die Tatsache, dass Jewgeni Tschitschwarkin den „Fonds zur Bekämpfung der Korruption und zur Unterstützung des Libertarismus“ drei Monate nach seiner Gründung wieder geschlossen hat. Die Organisation, die im November 2019 in London gegründet wurde, sollte die Finanzierung Nawalnys rationalisieren, die bis dahin persönlich über Tschitschwarkin durchgeführt wurde.
Dazu kam, dass Nawalny im Juli die Liquidation der FBK-Stiftung aufgrund hoher Verschuldung ankündigte, was laut russischen Medien zu heftigen Konflikten mit seinem Förderer Aschurkow und anderen Londoner Oppositionellen führte: „Natürlich mochte Aschurkow keine Amateuraufführungen. In zehn Jahren wurde zu viel in Nawalny und FBK investiert, um ihm zu ermöglichen, das Büro im Alleingang zu schließen, Geld an eine andere juristische Person zu überweisen und über einen neuen Fonds zu arbeiten. Es war auch eine Frage des Rufs sowohl von Ashurkov selbst als auch von Menschen, die ihn unterstützen“, wird eine Quelle aus Nawalnys Umfeld zitiert. Eine riesige Summe Geld in Anlagen und verschiedenen Vermögenswerten war verschwunden. Ende Juli rief Aschurkow den Berichten zufolge aber überraschend Nawalny an, und sagte ihm, dass der Konflikt hinter ihnen liege und alles in Ordnung sei.
Die Reise nach Sibirien
Am 15. August ging Nawalny mit seinen Mitarbeitern sowie mit Maria Pewtschich, die am 7. August nach Russland kam, nach Nowosibirsk.
Maria Pewtschich ist eine 33-jährige Frau mit einer undurchsichtigen Lebensgeschichte und sehr interessanten Fakten in ihrer Biographie. 2008 schloss sie ihr Studium der Soziologie an der Staatlichen Universität Moskau ab. Russischen Quellen zufolge hatte sie während des Studiums an der Moskauer Staatlichen Universität bereits starke pro-britische Ansichten und erklärte öffentlich ein Ziel, die britische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Später graduierte sie an der London School of Economics and Political Science. Sie lebt seit langem in Großbritannien und war mit 22 Jahren Assistentin eines Mitglieds des britischen Parlaments. Sie besitzt eine Kette von Buchhandlungen in Großbritannien und Australien. Ihr genaues Einkommensniveau ist unbekannt, aber es gab genug Geld für eine Wohnung mit Blick auf den Tower of London im Elitekomplex The Circle in der Queen Elizabeth Street.
Ihr Vater Konstantin Pewtschich besitzt ein Forschungsunternehmen und ein biologisches Labor. LLC „Fotisse“ wurde Ende Juli dieses Jahres registriert. Es liegen keine Informationen über den Umfang der Organisation vor. NIOBIS LLC entwickelt seit zehn Jahren Projekte für den Anbau von Viren und biologischen Zellen.
Die Frau, die mit Oligarchen und Geheimdiensten vernetzt ist
Maria Pewtschich unterhält umfangreiche geschäftliche und politische Beziehungen, unter anderem mit Tschitschwarkin und Chodorkowski. Diese beiden Personen sind weithin bekannt für ihre aktive antirussische Position, ihre Beteiligung und Finanzierung verschiedener regierungsfeindlicher Kampagnen in Russland und ihre offensichtlichen Verbindungen zu westlichen, meist britischen Spezialdiensten.
Nawalny und Pewtschich kennen sich seit mindestens zehn Jahren. Seit 2010 unterstützt sie auf Ersuchen Aschurkows die Oppositionellen mit Informationen über das Vermögen hochrangiger Russen im Vereinigten Königreich für Ermittlungen. Solche Daten lassen sich nicht einfach aus irgendwelchen öffentlich einsehbaren Registern beschaffen, und daher gibt es Grund zu der Annahme, dass die Frau mit europäischen Nachrichtendiensten und insbesondere mit dem britischen MI6 zusammenarbeitet. Sie besucht Russland zwei- bis dreimal im Jahr und kontaktiert heimlich Nawalny. Sie selbst macht keine gemeinsamen Fotos und Videos und versteckt ihre Präsenz im Internet über ein VPN. Während ihres Besuchs in Russland verlässt sie Nawalny praktisch nicht und hält den Kontakt aufrecht.
Sie hat auch eine langfristige Beziehung zu Ashurkov: 2013 organisierte sie in Moskau Verhandlungen zwischen dem ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt und dem Berater des litauischen Präsidenten in außenpolitischen Fragen, Renaldas Vaisbrodas, mit Nawalny und Ashurkow. Dies wird durch ein Foto bestätigt, das von Nation News of Nawalny und ihr veröffentlicht wurde.
Fakt ist: Zum ersten Mal seit zehn Jahren gerät Nawalny, bisher unverwundbar für die russischen Behörden und Vollzugsbeamten, in einen Konflikt mit seinen Verbündeten, und liegt sofort im Koma.
Zur gleichen Zeit, nicht irgendwo im Zentrum von Moskau, sondern auf einer Geschäftsreise, auf die er von Aschurkow geschickt wurde, begleitet ihn eine Frau mit engen Kontakten zu seinen Geschäftspartnern und westlichen Geheimdiensten, die die in weiterer Folge eine Schlüsselrolle im Krimi um seine angebliche Vergiftung spielen sollte.
Pewtschich wohnte wie andere Teammitglieder im selben Hotel wie Nawalny, gemunkelt wurde, sie könnte auch eine Beziehung zu ihm haben. Jedenfalls flog sie nicht mit Nawalny mit, sondern blieb in Tomsk und fuhr dann nach Nowosibirsk, um von dort nach Omsk zu fliegen und dann zusammen mit Nawalny und seiner Frau in dem deutschen, von Cinema for Peace finanzierten Rettungsflugzeug nach Berlin zu fliegen. Nachdem die deutschen Ärzte Nawalny im Krankenhaus besucht und die behandelnden russischen Ärzte keine Bedenken mehr wegen seines gesundheitlichen Befindens äußerten, verzögerte sich aber der Abflug noch um einige Zeit. Als Grund wurde genannt, dass die Crew „gesetzliche Ruhezeiten“ einhalten musste.
Möglicherweise wurde aber auch auf Pewtschich gewartet. Sie nämlich könnte die Wasserflaschen aus dem Hotel, verpackt in Plastiktüten, gebracht und mit nach Berlin genommen haben. Vermutlich ist sie kurz zu Beginn des Videos zu sehen, welches das Nawalny-Team eine Stunde nach seinen Zusammenbruch um 11:45, wie sich an der Uhr sehen lässt, gedreht hat, etwa fünf Stunden nachdem Nawalny und seine Begleitung das Hotelzimmer verlassen haben. Angeblich waren die Zurückgebliebenen noch beim Frühstück und das Hotelpersonal hat noch nicht begonnen, das Zimmer aufzuräumen, in dem angeblich Nawalny geschlafen hat.
Nowitschok-kontaminierte Flaschen mit Plastikhandschuhen in Plastiktüten?
Sie haben das Zimmer durchsucht und die drei fast leeren Wasserflaschen in Plastiktüten mit Plastikhandschuhen eingepackt. Das sieht nicht nach Nowitschok-Verdacht aus. Was sie noch mitgenommen haben, ist aus dem Video nicht erkenntlich, aber sie haben mehr eingesammelt, wie sie sagen. John Helmer, der den Fall minutiös verfolgt, geht in einem Artikel davon aus, dass die Plastikhandschuhe nicht zum Schutz, sondern zur Vermeidung von Fingerabdrücken getragen wurden. Er ist auch nach der Unordnung im Zimmer der Ansicht, dass das Hotelpersonal von der Polizei angewiesen worden war, das Zimmer nicht zu betreten.
Die Flaschen der Marke Swatoj Istotschnik wurden offenbar gegen den Einspruch einer Hotelangestellten mitgenommen. Sie sagte nach der Übersetzung von Helmer: „Wenn Sie keine offizielle Genehmigung haben, kann ich Ihnen gar nichts geben.“ Eine Frauenstimme (Pewtschich?) sagte: „Wir brauchen keine Genehmigung, um leere Flaschen mitzunehmen“, worauf die Hotelangestellte entgegnet: „Wenn Sie Flaschen mitnehmen wollen, brauchen Sie die Genehmigung der Polizei.“ Einer der Männer sagt, dem könne man nicht nachkommen.
Interessant wäre zu wissen, ob denn auf der angeblich mit Nowitschok kontaminierten Flasche – das Gift soll nach den Angaben der Sprecherin Nawalnys nicht im Wasser, sondern auf den Flaschen gewesen sein -, Fingerabdrücke abgenommen und identifiziert wurden. Es müssten zumindest die von Nawalny auf der Flasche sein, aber auch vom Hotelpersonal. Zudem stellt sich die Frage, wie der mögliche Täter, der eine der Wasserflaschen mit Nowitschok beschmiert hat (wo? Verschluss? Flaschenhals? Flaschenkörper?), wissen konnte, dass Nawalny sie benutzen würde? Hätte also auch ein anderer aus dem Team vergiftet werden können?
Nachhaltige Verwischung der Spuren
Was das Nawalny-Team auf jeden Fall geleistet hat, ist eine nachhaltige Verwischung der Spuren am Tatort, sollte er es denn gewesen sein. Desto dringender würde es sein, wenn man von Russland eine Aufklärung fordert, alle Informationen über die Flaschen und andere Gegenstände, einschließlich des Nowitschok-Nachweises, der russischen Staatsanwaltschaft zu übergeben. Die konnte alle zurückgebliebenen Mitglieder des Teams befragen, aber angeblich nicht Pewtschich, bevor sie abflog. Sie meinte gegenüber Meduza, die Polizei habe sich bei ihr nicht gemeldet, obgleich sie immer ihr Handy angeschaltet hatte.
Unklar ist, ob Pewtschich in Berlin vernommen wurde oder gegenüber Ermittlern eine Aussage gemacht hat. Sie scheint weiterhin in Berlin zu sein und sagt, sie besuche weiter Nawalny. BBC hat ein Interview mit ihr gemacht, bei dem ihre Angaben aber nicht hinterfragt wurden. Ihre Story ist, dass ihr Kollege Zhora, der von Flugzeugen fasziniert sei, beimFrühstück auf Flightradar gesehen habe, dass das Flugzeug mit Nawalny an Bord in Omsk gelandet sei. Dann soll er an Kira Jarmisch, Nawalnys Sprecherin, die mitgeflogen war, eine SMS geschickt haben, wie es ihnen in Omsk gehe. Erst einmal sei keine Antwort gekommen, dann habe man über Twitter erfahren, dass Nawalny zusammengebrochen und im Koma in ein Krankenhaus gebracht worden war. Man habe auch das Video gesehen, auf dem er vor Schmerzen geschrien habe.
Das soll zu dem Entschluss geführt haben, sofort in das Hotelzimmer zu gehen. Es sei jemand vom Hotel dabei gewesen. Man habe sie zuerst nicht ins Zimmer gelassen, aber dann hätten sie nicht lange diskutiert, sondern seien einfach hineingegangen. Sie hätten wegen Corona Handschuhe mitgenommen und dann alles eingesammelt, was ein Mensch berühren konnte. Sie seien dann nach Nowosibirsk gefahren, weil es keinen Flug vom Tomsk nach Omsk gibt, und von dort aus nach Omsk geflogen. Die Fundsachen hätten sie im Gepäck versteckt. Bei den Wasserflaschen habe man eine „kleine Wahrscheinlichkeit“ vermutet, dass sie wertvoll sein könnten. Wenn sie diese nicht mitgenommen hätten, wären sie sicher weggeworfen worden (das dürfte allerdings eine Schutzbehauptung sein).
Den russischen Ärzten wurden die Flaschen nicht übergeben, sie hätten doch Nawalny gehabt und ihn direkt untersuchen können. Interessant ist, dass sie gleichzeitig die Bedeutung der Flaschen herunterzuspielen versucht. Sie verstehe den Hype um die Flaschen nicht. Man habe auf ihr Spuren von Nowitschok gefunden, drei Labore hätten die gleiche Substanz in Nawalnys Körper entdeckt (möglicherweise waren die Nowitschok-Spuren auf der Flasche aber entscheidend, um Nowitschok-Metaboliten im Körper finden zu können).
Die Flasche sei nur wichtig, um zu beweisen, dass er vergiftet wurde, bevor er am Flughafen ankam. Ansonsten gibt sie sich zurückhaltend: „Ich hoffe wirklich, dass wir eines Tages herausfinden werden, wie Alexej vergiftet wurde. Aber jetzt haben wir nicht die geringste Ahnung.“ Das könnte man auch so verstehen, dass die Aufmerksamkeit vom Flughafen abgelenkt werden soll. Dort hatte Nawalny, auf einem Video dokumentiert, einen Tee getrunken. Bislang hatte auch Nawalnys Team hier die Vergiftung vermutet. Warum man nun, Wochen nach dem mutmaßlichen Giftanschlag, erst das Video vom 20. August veröffentlicht, um zu belegen, dass die Vergiftung bereits im Hotel stattgefunden habe, wurde nirgendwo erklärt – und wird offenbar auch von den Medien einfach akzeptiert. Musste die Herkunft der Flasche geklärt werden, die offensichtlich wichtig für die angebliche Bestätigung von Nowitschok war?
Pewtschich bestätigt, dass sie mit dem deutschen Rettungsflugzeug mitgeflogen sei, Julia Nawalny habe eine Begleitung benötigt: „Diese Person war ich. Das ist alles.“ Natürlich gibt es auch hier keine Nachfrage. Sie machte ziemlich deutlich, dass sie mit russischen Ermittlern nicht sprechen werde. Man stelle ihrer Familie in Russland nach und erzähle verrückte Geschichten über ihren Vater, mit dem sie seit 15 Jahren nicht mehr gesprochen habe, ihre Eltern seien geschieden.
Kreml: Absurde Geschichte
Im Kreml bleibt man dabei, dass die ganze Geschichte absurd ist. Zu der Flasche könne man nichts sagen, sie sei angeblich nach Deutschland gebracht worden, so der Sprecher von Präsident Putin, Peskow. Wenn russische Wissenschaftler die Flasche nicht untersuchen können, können sie auch nichts darüber aussagen. Wenn es Spuren von Nowitschok in Russland geben sollte, hätte es sich um einen Notfall gehandelt und wäre der Präsident sofort informiert worden. Spezialisten würden sagen, dass dann Menschen, die die Flasche berührt haben oder in der Nähe gewesen waren, auch vergiftet worden sein könnten. Das Wegschaffen der Flaschen könne auch bedeuten, dass eine Untersuchung vermieden werden soll.
Überhaupt könne man nicht untersuchen, ob eine Vergiftung stattgefunden habe. Die russischen Ärzte hätten keinen Hinweis darauf gefunden, aber sie würden von Deutschland oder von Nawalny auch keine Untersuchungsergebnisse erhalten, die dies belegen. Man habe auch kaum Möglichkeiten, dies auf eigene Faust zu untersuchen, weil Gegenstände aus Russland fortgeschafft wurden. Und von der OPCW habe man auch noch keine Informationen erhalten: „Die Situation ist so: Das Technische Sekretariat der OPCW sagt, wir wissen nichts, fragen Sie die Deutschen, und die Deutschen sagen, wir wissen nichts, fragen Sie die OPCW.“
Und so lange das Bundeswehrlabor, die Bundesregierung oder die OPCW nicht bekannt geben – nicht gegenüber Russland, sondern vor allem gegenüber der Öffentlichkeit -, um welche Nowitschok-Verbindung es sich handelt, ist auch unklar, ob es ein Fall für die OPCW ist. Auf der OPCW-Liste stehen nur einige Nowitschok-Verbindungen – auf Russlands Gesuch 2019 wurden weitere vier Verbindungen auf die Liste gesetzt. Man hat den Eindruck, dass ein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot suggeriert werden soll, der sich gegen Russland richtet. Sollte es sich um eine nicht von der OPCW gelistete Substanz handeln, wäre es zwar weiterhin ein Mordversuch, aber kein Verstoß gegen das Chemiewaffenverbot.
Nord Stream 2 mit Nawalny zu Fall bringen
Ganz abgesehen von den vielen Fragezeichen, die sich bezüglich des Umfeldes von Nawalny auftun, und der Tatsache, dass über die angeblichen Untersuchungsergebnisse des Bundeswehrlabors eine solche Geheimniskrämerei betrieben wird, stellt sich die Frage, wer sonst noch von dieser ganzen Tragödie profitieren könnte? Die Antwort kam sehr rasch von den Protagonisten selbst: Die atlantischen Falken in der deutschen Politik – bezeichnenderweise mit besonderem Eifer die Grünen – forderten aufgrund des Nawalny-Vorfalls sofort das Aus für die schon so gut wie fertiggestellte Gaspipeline Nord-Stream‑2. Ohne jeglichen Beweis für die Verstrickung des russischen Staates in den Skandal, ja sogar ohne Beweis für die Vergiftung selbst, kam diese Forderung wie aus der Pistole geschossen. Besonders eifrig wurden auch die diversen antirussischen Staatskanzleien Osteuropas in der Sache aktiv. So schickte man den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski nach Wien, um auch Österreich auf die Anti-Nord-Stream-2-Linie einzustimmen, der hatte allerdings wenig Erfolg. Dass die Interessen der USA, ihr schmutziges Fracking-Gas mit Schiffen nach Europa zu bringen, hier auch eine gewichtige Rolle spielen, kann nur übersehen werden, wenn man, so wie die einheimische Mainstreampresse vor allem Propagandameldungen der westlichen Geheimdienste abschreibt.
Quellen: telepolis/southfront.org/johnhelmer.net/BBC