Mehr als 20.000 Lehrer*innen in der Türkei wurden über Nacht aus dem Schuldienst entfernt – ohne Begründung, ohne Verfahren. Was die AKP-Regierung als „Modernisierung“ verkauft, entpuppt sich als politische Säuberung im Bildungssektor.
Ankara. Mit der Einführung der sogenannten „Projektschulen“ im Jahr 2014 hat die islamisch-konservative AKP ein Instrument geschaffen, das heute zentrale Bedeutung in ihrem autoritären Umbau des Bildungssystems einnimmt. Unter dem Deckmantel besonderer Bildungsprogramme wurden hunderte renommierte Gymnasien in der gesamten Türkei der direkten Kontrolle des Bildungsministeriums unterstellt. Was zunächst wie ein harmloser Reformversuch klang, ist heute ein flächendeckender Angriff auf das verbliebene Fundament einer säkularen, wissenschaftsbasierten Schulbildung
Allein in diesem Jahr wurden über 20.000 Lehrerinnen und Lehrer auf einen Schlag ihrer Stellen enthoben. Betroffen sind besonders traditionsreiche Schulen wie das Kadıköy Anadolu Lisesi, das Beşiktaş Atatürk Anadolu Lisesi oder das Istanbul Erkek Lisesi – Bildungsstätten, die einst als Hochburgen der republikanischen Aufklärung galten. Nun sollen hier regierungstreue, oft religiös-fundamentalistisch orientierte Lehrkräfte das Kommando übernehmen.
Die Lehrkräfte, viele von ihnen mit Masterabschlüssen, Promotionsgraden und offiziellen Auszeichnungen des Ministeriums selbst, wurden teils ohne Vorwarnung per SMS oder WhatsApp benachrichtigt: Ihre Dienste seien nicht länger gefragt. Die verbliebenen Lehrerinnen und Lehrer werden unter Druck gesetzt, sich nicht gewerkschaftlich zu organisieren oder gar an Protestaktionen zu beteiligen. Wer bei Arbeitsniederlegungen wie der vom 13. Januar beteiligt war, wurde besonders häufig entfernt.
Willkür statt Kompetenz
In der offiziellen Erklärung des Bildungsministeriums heißt es, die Versetzungen seien Teil einer „regulären Personalplanung“. Doch selbst der oberste Bildungsgewerkschafter Yeliz Toy spricht von einem „beispiellosen Akt politischer Säuberung“. Eine objektive Bewertung, etwa durch Leistungsnachweise oder Dienstalter, sei bei der Auswahl vollständig ignoriert worden. Stattdessen habe Minister Yusuf Tekin – ein Mann mit engen Verbindungen zu religiösen Orden – durch sein Direktionsrecht willkürlich neue Loyalitätsstrukturen geschaffen.
„Der Bildungsminister hat das System zu seinem persönlichen Spielplatz gemacht“, sagt Toy. „Das hat mit Pädagogik nichts zu tun. Das ist Machtpolitik.“
Schülerinnen, Schüler und Eltern leisten Widerstand
Doch die Betroffenen wehren sich – und sie sind nicht allein. In Dutzenden Schulen protestieren derzeit nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch Schülerinnen und Schüler, Eltern und Alumni. In Istanbul zogen Jugendliche mit Transparenten wie „Maarif susar mı sandın?“ („Bildung wird nicht schweigen!“) durch die Straßen. In anderen Städten kam es zu Sitzstreiks in den Schulhöfen, symbolischen Unterrichtsboykotten und Solidaritätsbekundungen aus der Bevölkerung.
In Elazığ wurde eine Lehrkraft, die sich an einem Protest beteiligte, von der Polizei gewaltsam festgenommen. Die Schulverwaltung hatte zuvor die Schultore verriegelt, um den Protest zu unterbinden – ein Vorgang, der an düsterste Zeiten der Militärdiktatur erinnert.
Säkularismus unter Beschuss
Der politische Kern dieser Säuberung ist offensichtlich: Wer sich für wissenschaftlichen Unterricht, Gleichberechtigung oder säkulare Prinzipien einsetzt, wird entfernt. Stattdessen werden immer mehr Schulen unter dem Label „Projektschule“ zu Kaderschmieden eines neuen autoritären und religiös geprägten Erziehungssystems umgewandelt. Besonders häufig betroffen: Lehrkräfte, die Mitglied der linken Gewerkschaft Eğitim-İş sind oder sich öffentlich kritisch gegenüber der AKP geäußert haben.
„Die letzten Reste eines demokratischen, wissenschaftlich fundierten Bildungswesens werden systematisch zerschlagen“, warnt Gewerkschafter Özgür Şen. Besonders deutlich werde dies am Beispiel des Atatürk-Lisesi in Izmir: 60 von 90 Lehrkräften wurden dort ausgetauscht. Der Grund: zu republikanisch, zu kritisch, zu unabhängig.
Kampf um jede Schule
Trotz Repression und Drohkulissen geben viele Lehrerinnen und Lehrer nicht klein bei. Hunderte bereiten derzeit Klagen vor, in der Hoffnung, auf juristischem Wege wieder an ihre Schulen zurückkehren zu können. Doch der Druck ist groß. In einem Klima, in dem die Justiz längst nicht mehr unabhängig ist und politische Willkür regiert, ist der Erfolg dieser Verfahren ungewiss.
Die Bildungsgewerkschaften rufen deshalb zum öffentlichen Widerstand auf. „Ohne gesellschaftlichen Rückhalt können wir diesen Kampf nicht gewinnen“, heißt es in einem Statement. Eltern, Schülerinnen, Schüler, Ehemalige – sie alle sind gefragt, wenn der autoritären Gleichschaltung in den Klassenzimmern Einhalt geboten werden soll, so die Gewerkschaft.