Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., ist Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Blick zurück
Der von der Juristenwelt der Gegenwart im Grab der namenlosen Juristen beerdigte, zu Lebzeiten mit Ehrendoktoraten vielfach ausgezeichnete Völkerrechtler Alfred Verdross (1890–1980) hat 1977 über Die immerwährende Neutralität Österreichs (2. A. Wien 1980) publiziert. Für Verdross ist die dauernde Neutralität der Republik Österreich, weil nicht allein im Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 verankert, nicht einseitig aufhebbar, sondern aufgrund der Verpflichtung der österreichischen Regierungsdelegation im Rahmen des dem österreichischen Staatsvertrag (15. Mai 1955) vorausgegangenen Moskauer Memorandum (15. April 1955) internationale Verpflichtung, „immer neue Neutralität zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Gerne zitiert Verdross den damaligen Vorsteher des Politischen Departements der Eidgenossenschaft Max Petitpierre (1899–1994), der 1959 die Notwendigkeit einer aktiven Neutralitätspolitik betonte, indem er hervorhob, dass ein neutraler Staat bereit sein muss, „Aufgaben des Friedens auf sich zu nehmen, um die friedliche Lösung von Problemen zu erleichtern“. Petitpierre fügte dem hinzu, dass die Neutralität ihre volle Daseinsberechtigung erst erlangt, “wenn sie neben den ihr eigenen unmittelbaren Zwecken auch dem übergeordneten Ziele des allgemeinen Friedens dient“.
Berechtigung zur Neutralität und Verpflichtung der Neutralität
Der Schweizer Spezialist für humanitäres Völkerrecht Dietrich Schindler (1924–2018) erläutert in dem von der Görres Gesellschaft herausgegebenen Staatslexikon Recht / Wirtschaft / Gesellschaft (1989), was Neutralität im Völkerrecht bedeutet. Die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975 und das abschließende Dokument des Nachfolgetreffens in Madrid (1980) bestätigt das Recht von Staaten auf Neutralität. Allerdings können sich Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nicht vollumfänglich neutral verhalten, wenn der Sicherheitsrat sie zur Teilnahme an Sanktionen verpflichtet. Zu den Pflichten der Neutralen gehören Enthaltungspflichten, d. h. dem neutralen Staat ist jede Unterstützung eines kriegführenden Staates mit Streitkräften, Waffen, Stützpunkten, Krediten für Kriegszwecke und durch Übermittlung militärischer Nachrichten verboten. Dietrich Schindler: „Der dauernd neutrale Staat hat jedoch schon im Frieden alles zu unterlassen, was ihm die Aufrechterhaltung der Neutralität im Kriegsfall unmöglich machen könnte (z. B. Anschluss an Verteidigungspakte), und die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um im Kriegsfall die Neutralität aufrechterhalten zu können“.
Österreich im Kampfverband mit Deutschland
„Die größte Gefechtsübung des Österreichischen Bundesheeres im Jahr 2019 fand im November statt. Gemeinsam mit Soldaten aus Deutschland und Kroatien bereiteten sich die Soldaten für den Einsatz in der Europäischen Union für die 2. Jahreshälfte 2020 vor“ – so ist auf dem Cover der Zeitschrift Truppendienst 372 (2020) zu lesen.
Im Heft wird erläutert, was denn diese Gefechtsübung für die militärische Verteidigung der immerwährend neutralen Republik Österreich konkret nicht heißt. Das sicherheitspolitische Umfeld Europas sei geprägt von Instabilität, die militärische Komponente sei ein wesentlicher Teil der Reaktion darauf. Den harten Kern bilden die Battlegroups für rasche Einsätze, Österreich beteilige sich mit logistischen Kräften daran. Die Zertifizierung erfolgte unter Beobachtung der NATO bzw. aus der NATO-Evaluation. Verantwortung hat die Division Schnelle Kräfte der Deutschen Bundeswehr getragen, die im Einsatzfall in den Einsatzraum entsandt wird und das höchste Führungselement der EU Battlegroup darstellt. „Es steht in ständiger Verbindung zum Operativen Headquarter in Ulm, betrieben durch das dort stationierte multinationale Joint Headquarters, in dem auch österreichische Soldaten tätig sind“. Einsatzbilder der österreichischen Battlegroup zum Erlernen der Gefechtstechnik und Taktik unter deutscher Führung illustrieren in diesem Heft die „Schönheit“ des Kampfgeschehens.
„Die Gegenwart ist in der Hand der Schurken“
Die Lektüre der Österreichischen Militärischen Zeitschrift (4/2020) orientiert, soweit für einen ehemaligen Präsenzdiener in Mistelbach verständlich, auf die „hybride Bedrohung“, die z. B. mit Desinformation zur Destabilisierung der Gesellschaft führen könne, wie gerade die Situation der Pandemie gezeigt habe. Das österreichische Bundesheer müsse aber selbst zum „hybriden Akteur“ werden, im offensiven und defensiven Sinne, und könne so militärisches Wissen, Technologie bzw. Teilfähigkeiten anderen hybriden Akteuren der westlichen Wertegemeinschaft weitergeben. Im Ergebnis wird gefordert, dass das Österreichische Bundesheer wegen dieser „hybriden Bedrohungslage“ an der Etablierung eines gesamtstaatlichen ressortübergreifenden Lagezentrums interessiert ist. In der Politik sind diese zur Militarisierung der Gesellschaft hinführenden Einschätzungen längst angekommen. So gibt es seit Jahren viele Merkmale, an denen sichtbar gemacht werden könnte, dass die österreichischen Eliten und die von ihnen ausgehaltenen Diplomaten und Politiker nicht mehr an der Neutralität Österreichs interessiert sind. Sie untergraben die Neutralität Österreichs schon längst mit „hybriden“ Methoden. Seit Jahren ist Gerhard Jandl, Mitglied mehrerer katholischer Verbindungen und jetzt österreichischer Botschafter beim Europarat in Straßburg, im sicherheitspolitischen Beraterumfeld von Kanzler Sebastian Kurz. In den Wiener Blättern zur Friedensforschung verhöhnt Jandl die österreichische Neutralität als „mythisch überhöht“ und unterstreicht die Realität von Österreichs Beteiligung an der NATO „ohne neutralistische Begleitmusik“ (2017). Die Aktivitäten Russlands würden, so berichtet Jandl, über den Warschauer NATO-Gipfel und dessen Bedeutung für Österreich (2016), die Notwendigkeit unterstreichen, sich auf einen neuen Krieg mit Russland vorzubereiten. Dabei beruft sich der österreichische Diplomat auf den Präsidenten der Deutschen Bundesakademie für Sicherheitspolitik Karl-Heinz Kamp, der Absolvent der nach dem früheren Hauptmann der Deutschen Wehrmacht Helmut Schmidt benannten Universität der Bundeswehr ist. Der österreichische Jurist und letzte Ministerpräsident der Monarchie Heinrich Lammasch war ein Gegner der Anlehnung an Deutschland, eine solche bedeute immer Krieg. Österreichs Diplomatie begrüßt aber den Aufmarsch Deutschlands und der NATO gegen Russland und argumentiert dafür mit Arroganz „hybrid“. Österreichs Diplomatie bereitet den Krieg anstatt den Frieden vor. „Die Gegenwart ist in der Hand der Schurken“ – so hat ein betrübter Papst Pius XI. am Abend des 6. April 1938 die Ereignisse in Österreich kommentiert.