Wien. Am 4. Juni verstarb mit Friederike Mayröcker eine der wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der vergangenen Jahrzehnte. Ihre herausragende Stellung verdankte sie vor allem ihrer Lyrik, doch verfasste sie auch Prosatexte und Hörspiele.
Geboren wurde Mayröcker am 20. Dezember 1924 in Wien. Bereits in ihrer Jugend begann sie mit dem Schreiben literarischer Texte, doch ab 1946 arbeitete sie zunächst als Lehrerin. In den 50er Jahren kam sie in Kontakt mit der – wenn man so will – spätavantgardistischen Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Andreas Okopenko war ein früher Förderer Mayröckers, womit auch Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften verbunden waren. Die allgemeine Stoßrichtung war modern und explizit gegen den konservativen Kanon Österreichs gerichtet. Während andere Autoren – es waren hauptsächlich Männer – dieses Kreises auf dadaistische und surrealistische Ansätze sowie schließlich auf die reduzierte Konkrete Poesie setzten, ließ sich Mayröcker nicht so eindeutig fassen, wenngleich mit Hang zum Surrealismus. Der Inhalt gestaltete sich autofiktional, die Form experimentell, assoziativ, anarchisch und sprachphantastisch, die Mittel waren die Collage und Montage. Sie selbst beschrieb ihre Arbeit dermaßen, dass sie so lange in vorhandene Gedankenbilder dringt, bis daraus Sprache wird, die sich zu Papier bringen lässt. Genau dies implizierte sodann Mayröckers charakteristische fragmentarische, ja verstreute Beschreibung des Lebens und des Erlebten, des Geträumten und Erträumten, des Alltäglichen und des subjektiven Alltags, trotz „Ich“-Perspektive explizit ohne autobiografischen Anspruch. Schlussendlich lässt sich nur ein Wort zur „Einordnung“ finden – und dieses lautet: einzigartig.
Eine besondere Beziehung unterhielt Elfriede Mayröcker ab 1954 mit Ernst Jandl (1925–2000), die trotz ganz unterschiedlicher Formen die jeweilige Arbeit beförderte. Es war nicht leicht, in Österreich mutige Verlage und bereitwillige Rezeption zu finden, das Werk „Larifari: Ein konfuses Buch“ (1956) wurde erst später wertgeschätzt. Und so geschah es, dass Mayröcker zunächst in der BRD wirklich prominent publiziert wurde (z.B. „Tod durch Musen“, 1966). Das SWF-Hörspiel „Fünf Mann Menschen“ (1968), gemeinsam mit Jandl verfasst, markierte so etwas wie den endgültigen Durchbruch: Im Alter von 44 Jahren konnte Mayröcker den Lehrerinnenberuf aufgeben und sich vollständig dem Schreiben widmen. Es folgten an die einhundert Veröffentlichungen – Gedichte, Prosa und weitere Hörspiele – und schließlich stellten sich auch Auszeichnungen und großen Preise ein, deren Aufzählung hier den Rahmen sprengen würde. Der Prosaband „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ (2020) kann als letztes Werk gelten, so sich nicht noch Möglichkeiten aus dem Nachlass ergeben.
Nun ist Friederike Mayröcker im Alter von 96 Jahren in Wien verstorben. Man weiß vergleichsweise wenig über die eigentliche Person hinter der „Grande Dame“ der österreichischen (oder gar deutschsprachigen) Literatur, was durchaus intendiert war: Sie wollte die Sprache sprechen lassen. Das tat sie auf exzeptionelle, avantgardistische und moderne, nicht modernistische Weise – und wer es zu lesen weiß, findet in Mayröckers Werk zwar keine Antworten auf vermeintliche Fragen, doch eine wuchernde Fülle an (etwas verbrämten) deskriptiven Situationen, an Erfahrungen und Reflexionen zum Leben und zum menschlichen Sein: Ein wertvoller Schatz der jüngeren deutschsprachigen Literaturgeschichte, der auch in vielen Jahren noch gewinnbringend gelesen werden wird.