Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Oskar Kokoschka und Eva Priester im britischen Asyl als Botschafter der Hoffnung und Zuversicht über die Verwüstung des Heimes von Leo Tolstoi durch deutsche Aggressoren (1942)
„Vergessen Sie nicht, Frisch, es sind Deutsche!“ – so machte einmal Bertolt Brecht (1898–1956) eine Bemerkung zum schweizerischen Schriftsteller Max Frisch (1911–1991).[1] Den wahren Kern dieser Sentenz musste der serbische Literaturwissenschaftler Zoran Konstantinović (1920–2007), der sich mit seinem Denken und Handeln immer um Versöhnung bemüht hat, am eigenen Leib erfahren. Als junger Mensch erlebte der in Belgrad geborene Konstantinović, wie die deutschen Flieger am 6. April 1941 seine Vaterstadt schwer zerstörten und dabei bewusst die Bibliothek mit den alten Handschriften des serbischen Volkes vernichteten, um die Geschichte des verhassten serbischen Volkes auszuradieren. Im fortgeschrittenen Alter erlebte Konstantinović, wie am 24. März 1999 wieder deutsche Flieger auf das Stadtgebiet von Belgrad ihre Bomben abwarfen, dazu auch auf die serbische Stadt Kragujevac, wo sie jenes Denkmal zerstörten, das an die Erschießung von 400 Gymnasiasten durch Deutsche am 20. Oktober 1941 erinnerte.[2] Gewissensbisse darob sind bei den offiziellen deutschen Vergangenheitsbewältigern nicht bekannt geworden, denn die Verbrechen Deutschlands und Österreichs am Balkan entsprechen nicht ihrem Geschäftsfeld, zumal der Balkan in der Gegenwart im Gleichklang mit dem US-Imperialismus als deutsches und österreichisches Kolonialland gilt. Für seine schriftstellerische Parteinahme für die Opfer des imperialistischen Überfalls auf Jugoslawien wurde der Schriftsteller Peter Handke von den bürgerlichen Leitmedien an den Pranger gestellt.[3] Die bürgerliche Demokratie lässt viele Optionen der herrschenden Klasse zu. Eine dieser Optionen ist der Faschismus und war 1933 der zur Macht gelangte deutsche Faschismus mit seinem Führer Adolf Hitler (1889–1945). Wurden seine Befehle von der deutschen Wehrmacht begriffen? Ausgeführt wurden sie jedenfalls, nicht zuletzt von den an den deutschen und österreichischen humanistischen Gymnasien oder wo immer herangebildeten Offizieren. Heinrich Himmler (1900–1945), der aus dem deutschen Bildungsbürgertum stammt, war ein solcher Absolvent eines humanistischen Gymnasiums.
Der österreichische Künstler Oskar Kokoschka (1886–1980) hat weltweit beachtete Meisterwerke des Realismus geschaffen. Am bekanntesten ist das Ölgemälde „Die Windsbraut“, über das der Zürcher Kunstexperte und Kommunist Konrad Farner (1903–1974) schreibt: „Einbettung der menschlichen Liebe in das Universum: die Liebe des Mannes ist die Welt, die Welt des Weibes ist die Liebe, beides gleich starke Elemente der Hingabe, gleichtragende Säulen des menschlichen Kosmos“.[4] Kokoschka konnte mit seinem Blick auf Geschichte und Gesellschaft keine wie immer geartete Nähe zur Kultur der deutschen Faschisten haben und wurde von ihnen konsequent verfolgt. Nach der Machtergreifung der deutschen und österreichischen Faschisten ging Kokoschka als Asylsuchender zuerst nach Prag (1934), von dort nach Großbritannien (1938). Nach Prag ist 1933 auch die junge Schriftstellerin und Journalistin Eva Priester geb. Feinstein (1910–1982) aus Berlin, wohin sie 1917/18 mit ihren Eltern aus St. Petersburg gekommen ist, als von den deutschen Faschisten rassistisch und politisch Verfolgte geflüchtet. 1938 gelang Eva Priester von Prag, wo sie der dortigen kommunistischen Exilgruppe aus Österreich nahegekommen ist, die Flucht weiter nach London. Dort hat sie Gedichte der Hoffnung und des Muts geschrieben, dazu eine lesbare zweibändige Geschichte Österreichs, die zu den Klassikern der österreichischen Geschichtsdarstellung[5] gehören könnte, wenn sie denn die Universitätswelt zur Kenntnis genommen hätte. „Den Tschechischen Kameraden“, die den von den deutschen Faschisten Verfolgten die Weiterflucht ermöglicht haben, dankte Eva Priester in einer gleichermaßen Trost wie Mut gebenden Lyrik.[6]
Sowohl Kokoschka wie Priester waren im „Freien Deutschen Kulturbund“ (36, Upper Park Road, London) tätig und haben versucht, irgendwie Solidarität mit den Opfern der deutschen Aggressoren auszudrücken. Darüber hinaus waren sie von der Hoffnung getragen, dass die sowjetischen Völker den deutschen Aggressor trotz seines raschen Vormarsches bis vor Moskau und Tula besiegen werden. Zu besonderen Anlässen veranstaltete der „Freie Deutsche Kulturbund“ literarische und musikalische Matineen. Ende Februar 1942 wurde über Radiomeldungen bekannt, dass die deutschen Aggressoren den Ansitz von Lew Nikolajewić (Leo) Tolstoi (1828–1910) in Yasnaya Polana in der Nähe von Tula zerstörten. Einige Wochen zuvor haben die Sowjets, wissend, wozu die deutschen Barbaren imstande sind, begonnen, einige mobile Einrichtungsgegenstände des Tolstoi-Hauses nach Tomsk zu evakuieren.[7] Der russische Schriftsteller Tolstoi war, beeinflusst von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), vom Reichtum der feudalen Ausbeutergesellschaft angewidert und vertrat in seinen realistischen Romanen die Umkehr der Geschichte hin zu einem kommunistischen bzw. urchristlichen, geschwisterlichen Leben. Papst Franziskus lässt sich von Tolstoi, der die von der Tradition übernommenen Anschauungen überwunden hat, inspirieren. Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) hat Tolstoi gehuldigt. Bei der Leipziger Gruppe der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (1912) hielt Lenin über Tolstoi einen Vortrag.[8] Die Verwüstung des Ansitzes von Tolstoi durch die Deutschen war kein zufälliges Ereignis im Kriegsgeschehen, sie wurde planmäßig ausgeführt. Für Kokoschka und Priester war das der Anstoß, zu einer Matinee des „Freien Deutschen Kulturbundes“ in London einzuladen. Ihre Begründungen sind in dem im Bundesarchiv Berlin überlieferten Nachlass des langjährigen Redaktionsleiters bei Radio Berlin International (Deutsche Demokratische Republik) Siegfried Zimmering (1907–1975) erhalten geblieben. Frau Brigitte Fischer vom Bundesarchiv Berlin danke ich ausdrücklich und sehr herzlich für ihr freundliches Entgegenkommen!
I Dokument Oskar Kokoschka. Maschineschrift. 9. April 1942.[9]
Dear Sir / Madam,
Nazi hordes have destroyed Yasnaya Polyana, Tolstoy’s home, and other historic monuments in Soviet Russia at Hitler’s command. German anti-Nazis need not emphasize that they have nothing whatsoever in common with those who know as little of Tolstoy as of Germany‘s classical writers, of Goethe, Schiller, Lessing and Herder, Heine and Boerne.
German anti-Nazi writers, artists and scientists however cannot but feel a special responsibility in view of the fact that it was Germans who committed these crimes and who still committ them.
Tolstoy’s home must be rebuilt as speedily as possible and German anti-Nazis in particular consider it their supreme duty to assist in its reconstruction.
May we therefore invite you to express with them their deepfelt sympathy fort he peoples of the Soviet Union at a Literary and Musical Matinee.
Yours faithfully Oskar Kokoschka / President.
II Dokument Eva Priester. Maschineschrift. Undatiert (Anfang April 1942).[9]
Jasnaja Poljana und wir von Eva Priester
Ein sowjetrussischer Bericht über die Untat von Jasnaja Poljana enthält diese beiden Episoden.
Die Museumswärterin erzählt: Als deutsche Soldaten anfingen Möbel und Bücher zu verheizen, ging ich zum deutschen Oberarzt und bat ihn, etwas gegen diesen Vandalismus zu tun – es gäbe genug Holz im Orte, um damit zu heizen. Der Oberarzt, ein Mann, der eine humanistisches Gymnasium und die Universität absolviert hat, erwiderte: „Es geht nicht um das Feuerholz. Wir werden alles verbrennen, was mit Eurem Tolstoi, was mit Eurer Kultur zusammenhängt“.
Die zweite Episode: „Bücher, Fotos, wertvolle Manuskripte wurden auf die Strasse geworfen. Sie wären vernichtet worden, hätten nicht die Bauern aus dem Dorfe sie unter Lebensgefahr nachts geborgen“. Und später: „Als die Deutschen abzogen, setzten sie Haus und Museum in Brand. Wir versuchten zu löschen, waren aber zu wenige, um der Flammen Herr zu werden. Partisanen, Bauern, versprengte Rotarmisten, die sich im nahen Wald versteckt hielten, retteten Jasnaja Poljana. Sie kamen heraus und löschten den Brand – noch im Feuer der deutschen Artillerie.
Diese zwei Episoden zeigen sehr klar, an wessen Seite diejenigen deutschen Schriftsteller stehen müssen, die es ernst nehmen mit ihrer Arbeit, mit dem Erbe, das die grossen Dichter der Welt ihnen hinterlassen haben. Der Mann, der Tolstois Manuskripte verbrennen lässt, ist unser Todfeind, der Todfeind unserer Arbeit und all dessen, was uns teuer ist. Die Partisanen, die Bauern, die namenlosen Rotarmisten, die ihr Leben riskieren, um die Manuskripte eines Dichters zu retten, sind unsere Freunde, unsere Brüder.
Wir können nicht nehmen, ohne zu geben. Wir können nicht die Liebe und Opferbereitschaft jener Millionen, die heute auch für uns kämpfen und sterben, damit wir morgen in Freiheit Bücher schreiben und lesen können, hinnehmen, ohne ihnen dafür die gleiche Liebe und die gleiche Opferbereitschaft entgegenzubringen. Wir geloben ihnen, für sie zu arbeiten und – kommt die Reihe an uns – auch mit der Waffe zu kämpfen. Unser Beitrag zum Wiederaufbau Jasnaja Poljanas ist ein Gelöbnis der Solidarität mit den Kämpfenden.
Material und Werkzeug des Schriftstellers ist das Wort. Manche von Ihnen werden lächeln und sagen: „Was ist heute das Wort wert!“ Unterschätzen Sie es nicht. Das Wort war eine Waffe und ist es noch immer. Das Wort von Beaumarchais liess ein Königreich erzittern. Das Wort Heines und Börnes rührte an den Schlaf Deutschland. Das Wort von Henri Barbusse half in den dunklen Jahren 1914–18 die Mauer des Hasses zwischen den Völkern niederreissen. Die Worte der Marseillaise helfen heute in Frankreich Tausenden, besser zu kämpfen und Hunderten leichter zu sterben. Die Worte, die aus Tausenden von Lautsprechern, von Millionen von Flugblättern kommen, helfen Hunderten deutscher Soldaten an der Ostfront zur anderen, zur richtigen Seite zu finden. „Was sind Worte?“ fragen Sie. Haben Sie einmal im Gefängnis eine Botschaft von draussen bekommen, einen Zettel, eine geflüsterte Nachricht „Wir sind mit dir“? Haben Sie einmal irgendwo in Deutschland, im besetzten Gebiet nachts am Radio eine Station gesucht, eine Station, die sagte: „Wir sind mit Euch. Wir sehen Euren Kampf. Wir werden Euch helfen!“ Für Kämpfende sind Worte Hilfe, das tägliche Brot, wenn hinter diesen Worten der Wille zur Unterstützung ihres Kampfes, das Bekenntnis zur gemeinsamen Sache steht. Geben wir denen, die unseren Kampf kämpfen, diese Worte – geben wir sie ihnen immer und immer wieder.
Wir Schriftsteller, in deren Händen diese mächtige Waffe liegt, geniessen bei vielen unseren Mitmenschen eine gewisse Autorität. Viele Menschen sind bereit, das, was wir sagen, mit Aufmerksamkeit anzuhören und je näher diese Menschen der Frontlinie des Kampfes stehen, desto grösser wird ihre Aufmerksamkeit. Keine Gemeinschaft von Menschen ist so interessiert und stolz auf „ihre“ Schriftsteller wie eine Gemeinschaft von Menschen, für die jeder Tag ein Tag des Einsatzes für ihre gute Sache ist.
Diese Aufmerksamkeit, dieser Stolz, diese Möglichkeit, gehört und verstanden zu werden, legt uns eine grosse Verantwortung auf. Diese Verantwortung verlangt von uns, immer wieder zu sagen, wessen Kampf wir mitkämpfen. Wir dürfen nicht schweigen.
Weil heute Exekutionsbefehle in unserer, in deutscher Sprache, gesprochen werden, müssen unsere Worte der Solidarität umso brüderlicher sein, unsere Worte des Hasses umso schärfer. Wir müssen umso gewissenhafter dafür sorgen, dass alles, was wir mit unserem Werkzeug, mit der deutschen Sprache, schaffen, zu einer wirksamen Waffe gegen unsere Feinde wird.
Wenn wir das tun, erfüllen wir einen kleinen Teil unserer grossen Verpflichtung.
[1] Max Frisch: Tagebuch 1966–1971. Buchclub Ex Libris Zürich 1974, S. 25.
[2] Gerhard Oberkofler / Peter Goller: „Orientierung über den Balkan“. Ein Gespräch mit Zoran Konstantinović über die Jugoslawienkrise. Innsbruck 1994; Zoran Konstantinović im Interview mit Gerhard Oberkofler: Wie sehen Sie die Deutschen? Neues Deutschland vom 3. / 4. April 1999; NATO Crimes in Yugoslavia. Documentary Evidence. 24 March – 24 April 1999. Belgrade May 1999.
[3] Z. B. Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Suhrkamp Frankfurt a. M. 1996.
[4] Konrad Farner: Lesebuch. Lenos Presse Basel 1978, S. 94.
[5] Kurze Geschichte Österreichs. I. Entstehung eines Staates. Globus Verlag Wien 1946; Kurze Geschichte Österreichs. Aufstieg und Untergang des Habsburgerreiches. Globus Verlag Wien 1949. Über Priester s. Heide Maria Holzknecht: Eva Priester. Journalistin. Schriftstellerin Historikerin. Diplomarbeit Innsbruck – eingereicht bei Gerhard Oberkofler. Innsbruck 1986. Univ. Bibliothek Innsbruck.
[6] Eva Priester: Aus Krieg und Nachkrieg. Gedichte und Übertragungen. Globus Verlag Wien 1946 (Prager Trostkalender. Ein Zyklus von acht Gedichten. Herbst 1938 bis Sommer 1939, S. 11–23).
[7] Jasnaja Poljana – Geschichte des Museums (archive.org)
[8] Wladimir Iljitsch Lenin – Dokumente seines Lebens. 1870–1924. Ausgewählt und erläutert von Arnold Reisberg. Band 1. Reclam Leipzig 1980, S. 470 f.
[9] Bundesarchiv DY 27/11523.