Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Genozidaler Kindermord in Palästina
„Als pädiatrische Intensivmedizinerin hatte ich nicht erwartet, dass ich in einer Notaufnahme und einer Intensivstation für Erwachsene am meisten zu tun haben würde, aber Kinder waren die überwältigenden Opfer der israelischen Angriffe. Mehrmals am Tag wurden ganze Mehrgenerationen-Familien massakriert. Eine überwältigende Anzahl von Kindern kam tot, sterbend oder noch lebend in unsere Arme, aber unter den Schmerzen und dem Schrecken furchtbarer traumatischer Verletzungen leidend, oft ohne begleitende Familie, die das Kind identifizieren oder seine Hand halten konnte, während es starb und wimmerte. Ich habe so etwas Schreckliches noch nie gesehen und bin wie viele andere schockiert und entsetzt darüber, dass wir dies weiterhin zulassen.“ – „Die Gänge der Krankenhäuser waren überfüllt mit PatientInnen und Binnenflüchtlingen – Verletzte lagen auf dem Boden. Die Unterernährung war weit verbreitet. Ich behandelte zahlreiche Kinder, die Verletzungen von Kugeln und Schrapnellen hatten – amputierte Gliedmaßen waren eine bittere Notwendigkeit. Diese Amputationen wurden oft ohne Betäubung durchgeführt. Alle PatientInnen waren von einem psychologischen Trauma betroffen. Ich erinnere mich an einen dreijährigen Jungen mit ausgedehnten Schrapnellwunden und Gesichtsfrakturen, der gelähmt war und nicht sprechen konnte. Er war zu jung, um die Qualen zu begreifen, die er erlitt. Die überwältigende Mehrheit der Opfer waren Kinder – die Opfer eines anhaltenden, umfassenden Blutbads“.
Solche Wehklagen wie von der im Februar 2024 in Gaza helfenden Ärztin Fozia Alvi oder der im März 2024 auf einer pädiatrischen Intensivstation in Gaza tätigen Ärztin Tanya Haj-Hassan sind im internet, wenn man denn will, zu hören und zu lesen.[1] Der genozidale Kindermord in Palästina hat sein Vorher lange vor dem 7. Oktober 2023, an welchem Tag die Hamas aus dem von den Israelis errichteten und mit aggressiver militärischer Gewalt kontrollierten KZ Gaza ausgebrochen ist und Gewalt verübt hat.[2]
Geburt eines Kindes
Die Erzählungen über die Geburt von Jesu (geboren vor 4 v. u. Z., getötet um 30 n. u. Z. in Jerusalem), der als Christus mystifiziert ist, sind unterschiedlich. In Nazareth wird nach dem Evangelisten Lukas einer nicht verheirateten Frau namens Maria von einem Engel Gabriel verkündet, dass sie einen Sohn gebären wird, der „groß“ und „heilig“ sein werde.[3] Jede Mutter wird sich fragen, welches Schicksal ihrem Neugeborenen bevorsteht und wird für Illusionen offen sein. Die Geburt ihres Kindes musste von Maria wegen der Vorgaben des mit Herodes bestimmten römischen Herrschaftssystems in Betlehem erfolgen: „Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“[4] Windeln wurden verwendet, um die Glieder der Neugeborenen zu strecken, die Krippe (bei Lukas griechisch φάτνη; lateinisch praesepium) deutet auf eine Futterkrippe für Tiere hin. Eine erste Krippenfeier ist von Franz von Assisi (1181–1226) aus dem Jahre 1223 überliefert.[5]
Die Geburt des historischen Jesus, der immer und immer wieder für die Befreiung der Armen von der unterdrückenden Herrschaft der Reichen auch mit revolutionärer Praxis eingetreten ist und deshalb von den Machthabern auf Wunsch der Pharisäer getötet wurde, wird von den Christen jedes Jahr als „Weihnacht“ am 24. / 25. Dezember gefeiert. Der schweizerische Marxist Konrad Farner (1903–1974) hat sich wiederholt über die Einzigartigkeit von Jesus geäußert.[6] Das Bekenntnis zur Menschlichkeit mit der zentralen Friedenslosung von Jesus, „Deinen Nächsten sollst du lieben wie Dich selbst“[7], steht am Beginn der mehr als zweitausendjährigen Geschichte des Christentums. Das Christentum war zu Beginn eine für die Unterdrückten befreiende Religion, hat dann aber durch ihre katholische Kirche über viele Jahrhunderte seine Wurzeln vergessen. Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich der Brauch, in Kirchen und Klöstern mit verschiedenen Materialien figürlich die Krippe als Kunstwerk darzustellen, oft mit menschlicher Wärme. Es lag im Interesse der Kirche, dass ihr Glaube auch im zuhause praktiziert wird, weshalb gegen Ende des 18. Jahrhunderts „Weihnachtskrippen“ als „Hauskrippen“ in bürgerlichen Wohnungen in den Städten zur Romantisierung des Daseins aufgestellt wurden. In der Realität der sich etablierenden industrialisierten Welt wurde das Elend der hungrigen Kinder der ausgelaugten und erschöpften Arbeiterfrauen mit ihrem Wunsch nach Geburtenbeschränkung und Abtreibung nur noch größer. Vergangenheit? Z. B. berichtet „Das Magazin der Päpstlichen Missionswerke in Österreich. Missio“ über die glitzernde Hölle in Madagaskar, wo das in den reichen Staaten für Kosmetikprodukte und Elektroartikel benötigte Glitzermineral Mica abgebaut wird: „Dort unten müssen mehrere hundert Menschen sein: Männer, Frauen, Kinder. Sie hacken und graben, schaufeln und schleppen. Es ist ein Anblick, den man ein Leben lang nicht mehr vergisst. Ausgemergelte Gestalten mit der Hacke in der Hand Zerlumpte Buben, schwere Säcke schleifend. Eine Mutter, die Gestein siebt, ihr kleines Kind, das daneben auf dem Boden kriecht. […] Und so blieben sie. Gebaren Kinder, die nie ein anderes Leben kennen würden“.[8]
Eine kurzzeitige Neubelebung des Krippengedankens durch Papst Franziskus
1952 kam es in Barcelona zu einem Zusammenschluss von Krippenverbänden verschiedener Länder zur gemeinsamen Pflege dieser Tradition (Universalis Foederatio praesepistica).[9] Der V. Internationale Kongress dieser Krippenfreunde fand im Oktober 1964 in Salzburg statt und war begleitet von einer Ausstellung über Krippenkunst in Österreich. Für den Tiroler Volkskundler Nikolaus Grass (1913–1999), der als Gymnasiast das Schnitzen von „Krippelemanndln“ versucht hat, war das der Anstoß, ein österreichisches Krippenbuch herauszugeben.[10] Der aus Lateinamerika kommende Papst Franziskus hat am 7. Dezember d. J. auf dem Petersplatz in Rom die diesjährige Krippe des Vatikans geweiht. Das Jesus-Kind ist in dieser Weihnachts-Krippe in ein palästinensisches Tuch gehüllt. Es ist das ein starkes Symbol des Mitgefühls für die von den Israelis massakrierten palästinensischen Kinder. Aber der Aufschrei der Apologeten des israelischen Völkermords übertönt das Wimmern der palästinensischen Kinder. Hetzartikel gegen Papst Franziskus erschienen in der „Jüdischen Allgemeinen“ (10. Dezember 2024) und in der online Ausgabe (11. Dezember 2024) der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio, wo ein von der Republik bezahlter deutscher Dogmatiker glaubt, eine „auftrumpfende Geschmacklosigkeit“ des Papstes brandmarken zu müssen.[11] Aus dem Mund solcher intellektuellen Diener der israelischen Gewalt wird das deutsche Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht!“ zum Verhöhnungslied der palästinensischen Kinder.
Der Vatikan musste seine diesjährige Weihnachts-Krippe, die gerade mit ihrem Palästinensertuch an die Geburt des an das Gewissen der Welt appellierenden Jesus Christus erinnert, wegen des israelisch-amerikanischen Meinungsterrors wieder entsorgen. Kann so der unerträgliche Schmerz um die Kinder in Palästina zum Schweigen gebracht werden? Hat sich das Umfeld von Papst Franziskus geweigert, das Kreuz anzunehmen und zu tragen? Es ist das jedenfalls eine menschliche Bankrotterklärung!
[2] Vgl. Astrid Wagner: Es begann lange vor Oktober. Gespräche mit Menschen aus Palästina, Israel und Österreich. Verlag BoD Norderstedt 2024.
[3] Lk 1, 34. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. 12. A. 2015, S. 1142.
[4] Lk 2, 6. Die Bibel, S. 1144; gute Übersicht in: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines Theologisches Wörterbuch. Herder Bücherei Freiburg i. Breisgau 1961, S. 183–188.
[5] Vor 800 Jahren hielt Franz von Assisi die erste Krippenfeier – weltkirche.de
[6] Konrad Farner: Theologie des Kommunismus. Stimme-Verlag Frankfurt / M. 1969; derselbe: Ist Jesus einzigartig? Eine Frage – drei Antworten. Radius 18 (1973), S. 9 f.; vgl. Gerhard Oberkofler: Konrad Farner. Vom Denken und Handeln des Schweizer Marxisten. StudienVerlag Innsbruck 2015.
[7] Lk 10, 27, Die Bibel, S. 159.
[8] Alle Welt. November / Dezember 2024 (mit Abbildungen).
[9] Home – Universalis Foederatio Presepistica
[10] Weihnachtskrippen aus Österreich. Unter Mitwirkung von Klaus Beitl et al. Hg. von Nikolaus Grass. Verlag Felizian Rauch Innsbruck 1966; über Nikolaus Grass s. Gerhard Oberkofler: Nikolaus Grass. Einige wissenschaftshistorische Miniaturen aus Briefen und weine Korrespondenz mit dem Prager Juden Guido Kisch. StudienVerlag Innsbruck 2008.
[11] Jan- Heiner Tück: Auftrumpfende Geschmacklosigkeit: Franziskus verehrt ein Jesuskind im Palästinensertuch. Lässt sich dieses Bild noch mit der „Neutralität“ der vatikanischen Friedensdiplomatie erklären? COMMUNIO. Internationale Katholische Zeitschrift (11. Dezember).