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Sozialdemokrat – Kommunist – Sozialdemokrat

Über das Weitergehen, Stehenbleiben und Rückwärtsgehen von Intellektuellen wie Ernst Fischer

Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Vorbemerkungen

Die widersprüchliche Funktion von Intellektuellen in den Klassenkämpfen haben Karl Marx (1818–1883), Friedrich Engels (1820–1895) und Wladimir I. Lenin (1870–1924) öfters angesprochen. Lenin hat die Arbeit der Vertreter der Intelligenz stets gefördert und sich bemüht, diese für den Aufbau einer neuen, einer solidarischen Weltgesellschaft zu gewinnen. Dass jeder Mensch „eine gewisse intellektuelle Tätigkeit entfalte“, ist das Fundament vieler Analysen der Funktion verschiedener Intellektuellenkategorien und Intellektuellentypen des enzyklopädisch denkenden Antonio Gramsci (1891–1937).[1] Der jahrzehntelang in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) permanent publizierende Jürgen Kuczynski (1904–1997), dem die Gefängnis-Hefte von Gramsci noch nicht zugänglich waren, veröffentlichte 1987 von der Antike bis zur Gegenwart reichende Studien zur Soziologie und Geschichte der Intelligenz.[2] Sein 1926 veröffentlichtes Buch „Zurück zu Marx! Antikritische Studien zur Theorie des Marxismus“[3] ist das erste in der Reihe seiner vielen Monografien. „Zurück zu Marx!“ ist ihm, wie er in seinem am 21. Jänner 1926 datierten Vorwort in Berlin-Schlachtensee schreibt, ein „Aufruf zum Fortschritt“. Kuczynski verachtet jene Intellektuellen, die sich als Wanderer zwischen zwei Welten sahen und zelebrierten. Für ihn galt die von Marx einschließlich der Variante von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zitierte Sentenz des griechischen Poeten Äsop (6. Jhd. v. u. Z.) „Hic Rhodus, hic salta. Hier ist die Rose, hier tanze!“[4]

1932 publizierte der Wiener Verlag für Literatur und Politik des in Auschwitz ermordeten Mitbegründers der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) Johannes Wertheim (1888–1942) den von Olga Halpern (1887–1967) aus dem Russischen übersetzten Roman „Neue Erde“. Dessen Verfasser ist Fjodor Wassiljewitsch Gladkow (1883–1958), der mit seinem literarischen Schaffen Millionen von Menschen nahebrachte, die bestrebt waren, den Alltag der für das Schicksal der Erde sich verantwortlich fühlenden Arbeitsmenschen in der realen sozialistischen Gesellschaft zu bewältigen. Auf der Rückseite des Buchumschlags ist in Kurrentschrift zu lesen: „Ein Sechstel der Erde baut sich eine neue Welt. Jahrtausende alte Begriffe sind weggefegt, eine neue Gesellschaftsordnung entsteht. Die Menschen leben nach neuen, nie dagewesenen Gesetzen. Dieses Neue: das Leben der verantwortlichen Sowjetarbeiter, die neue Jugend, das Verhältnis der Geschlechter und das Ungeheuerlichste – die Umformung des Bauern vom fanatischsten Anhänger des Privateigentums zum Kollektivisten schildert Gladkow in seinem neuen Sowjetroman Neue Erde“. 

Johannes Wertheim, der in Wien den Bund der Sowjetfreunde leitete und „Die Rote Fahne“ förderte, ermöglichte dort 1933 den Abdruck dieses Romans in Folgen. Den Lehrer Kirikow Prochor lässt Gladkow über „Die Geburt der Kommune“ als Intellektuellen zu Kommunarden sagen:

„Meine Lieben, ich fühle mich unwürdig, Mitglied der Kommune zu werden. Ich bin ein Intellektueller. Ich stelle mich aber voll und ganz zu eurer Verfügung und werde mit euch zusammenarbeiten. Ich bin zu klein für eure Heldentat. Ich spiele keine Komödie, sondern ich sage die Wahrheit. Ich kenne meinen Wert. Ich bin dessen unwürdig. Ich gehe aber mit euch bis zum Ende. Ihr seid dumme Menschen, als Menschen der Erde schätzt ihr nicht die Arbeit des Hirnes, für mich aber ist das menschliche Hirn alles. Also, da ich mein Hirn behalten und es nicht Erniedrigungen aussetzen will, werde ich meine Unabhängigkeit bewahren, und ihr werdet davon nur gewinnen“.[5] Gladkow lässt offen, wie sich Intellektuellengruppen verhalten, wenn sich geschichtliche Prozesse ändern. 

Ernst Fischer optiert nach Kriegsende (1918) für die österreichische Sozialdemokratie, schreibt Lyrik und Dramen und veröffentlicht 1931 ein Buch über die Jugend mit dem Appell, diese aus dem „Inferno der obdachlosen Erotik“ herauszuführen 

Ernst Fischer (geb. in Komotau, 3. Juli 1899, gest. 31. Juli 1972 in Deutsch-Feistritz) ist als Kind einer Offiziersfamilie in Graz aufgewachsen, wurde zu Ende des ersten Weltkrieges wie so viele „Kriegsmaturanten“ (Sommersemester 1917) nach Einschulung zu Kriegsende an der Südfront eingesetzt und ist nach Ende des Krieges mit Arbeitern und Soldaten, die eine rote Armbinde trugen, in Kontakt gekommen.[6] Infolge des Opportunismus der Sozialdemokratie änderten sich die aus der Habsburgermonarchie tradierten juristischen und bürokratischen Strukturen in der neuerstandenen kleinen Republik Österreich nicht, der revolutionäre Elan in der Arbeiterklasse verflüchtigte sich im Alltag ihrer Ausbeutung und Unterdrückung. Literarisch begann Fischer 1920 als ambitionierter Lyriker mit an seine Mutter („/…dein tiefstes Wesen hast du uns gespendet und deiner Jugend immergrünen Kranz…/“) gewidmeten naturalistischen Liebesversen „Vogel Sehnsucht“.[7] Sein als Fünfundzwanzigjähriger geschriebenes Drama „Das Schwert des Attila“ (1924)[8] wurde am 30. September 1924 am Wiener Burgtheater erstaufgeführt. Das Wunderschwert mag als Gleichnis für die Widersprüchlichkeit legitimierten Gewaltanwendung und pazifistisch konzipiert sein, die Rezensionen waren widersprüchlich, anerkennen aber die Begabung des Autors.[9] 1925 schrieb Fischer zur Republikfeier der Sozialdemokratie das im Opernhaus in Graz gezeigte Passionsspiel „Der ewige Rebell“. Es wurde vom „Arbeiterwille“ als „Revolutionsfeier“ anerkannt, denn der Autor habe „meisterhaft über die Freiheit gedichtet, um die Flamme der Freiheit ewig in den Herzen der kämpfenden Massen wachzuhalten“.[10] Als Vorfeier zum 1. Mai wurde am 30. April 1931 dieses Stück im Städtischen Volksgartenhaus in Wien von der Sozialistischen Arbeiterjugend wieder aufgeführt.[11] Im September 1928 eröffnete das Carltheater in Graz als Volksbühne mit dem Drama „Lenin“ von Ernst Fischer, der dessen antikommunistische Tendenz im Journal „Arbeiterwille“ selbst hervorhebt, wenn er schreibt: „… die Elite der revolutionären Arbeiterschaft meutert gegen das neue System. Und Lenin muss mit allen Mitteln den Rebellen entgegentreten, das Brot gegen den Geist verteidigen […] Ewige Revolution! So klingt das Drama aus“.[12] In der „Die Rote Fahne“ bespricht der galizische Jude Willi Schlamm (1902–1978), der viele Jahre vor Fischer sich als Überläufer einen Namen gemacht hat, dieses Stück. Ernst Fischer sei ein dahergekommener „Objektivling“ und präsentiere „Zerrbilder als Träger der russischen Revolution, es sei eine „Geschichtsfälschung“.[13]

Der Marxismus-Leninismus hat nach der Oktoberrevolution 1917 auf Intellektuelle wegen der offenkundig werdenden menschlich revolutionären Perspektive eine große Anziehungskraft ausgeübt. Dem hochbegabten Ernst Fischer genügte Poesie nicht mehr, er begann sich zu radikalisieren im Sinne von Karl Marx: “Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“.[14] 1931 hat Ernst Fischer an die Jugend ein eigenes, in Wiener Arbeitervereinen von ihm vorgestelltes Büchlein adressiert, denn: „Von der Jugend, zermürbt durch die Wirtschaftskrise, gepeinigt von der Krise der Sexualität, gemartert von der Krise der Weltanschauung, wird das Größte, das Höchste verlangt. Aber man muss das Unmögliche wollen, um das Mögliche zu tun, man muss über die eigne Kraft hinausleben, um die eigne Kraft wahrhaft kennen zu lernen“.[15] Seitenweise bedauert Fischer, dass die Jugend in Wien dem „Inferno der obdachlosen Erotik“ ausgesetzt sei, weil ihre keine eigenen Räume zur „sexuellen Vereinigung“ zur Verfügung gestellt werden: „Im Winter gibt es für Hunderttausende junge Menschen kaum eine Möglichkeit sexueller Vereinigung – von flüchtigen Zwischenspielen abgesehen, in Haustoren, Treppenfluren, buchstäblich zwischen Tür und Angel, unbequem, enttäuschend, ernüchternd. Auf den Sommer warten sie alle; aber auch Wälder und Wiesen sind nicht immer die beste Szenerie für Liebende …“.[16] Ernst Fischer ist kein katholischer Seelsorger, der bürgerliche Sittlichkeit von den Geboten eines angenommenen Gottes ableitet, aber geschlechtliche Handlungen als einen der Jugend zustehenden Konsumartikel einzufordern, steht im Widerspruch zur kommunistischen Sittlichkeit, ist zu jeder Zeit entwürdigend und lenkt die Bereitschaft der Jugend zum Kampf für die Erneuerung des Zusammenlebens der Menschen ab. In einem 1936 publizierten Sammelband von Texten von Wladimir I. Lenin und Josef Stalin „Über die Jugend“ sind solche dekadente Erotikpassagen nirgends zu finden.[17]

Als unmittelbare politische Aufgabe der Jugend definiert Fischer dennoch, “die Verteidigung Sowjetrusslands gegen die kapitalistische Welt; niemand von uns hält Sowjetrussland für ein Paradies, niemand von uns meint, dass der Sozialismus dort bereits verwirklicht sei. Die russische Arbeiterschaft leidet Not, Übermenschliches wird von ihr gefordert, hart, grausam, rücksichtslos ist das Leben im Sowjetstaat. Das alles muss man sehn, gewiss; doch über das alles hinaus muss man erkennen, dass die russische Revolution das größte sozialistische Ereignis war, dass der russische Wirtschaftsaufbau das größte sozialistische Experiment ist, dass dort in Russland um unser aller Schicksal, um unser aller Zukunft gerungen wird. Was wir dazu tun können, dass dieses Experiment gelingt, muss geschehen; denn wenn es misslingt, ist das eine fürchterliche Niederlage des internationalen Sozialismus, der internationalen Arbeiterklasse, sei sie kommunistisch, sei sie sozialdemokratisch organisiert. Wenn es zum Erfolg führt, ist das ein gewaltige Sieg des internationalen Sozialismus, der internationalen Arbeiterklasse, sei sie kommunistisch, sei sie sozialdemokratisch organisiert.“[18]

Ernst Fischer in Moskau (1934–1945)

In Deutschland war die NSDAP mit den Wahlen am 5. März 1933 zur stärksten Partei geworden. Vor dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie Mitte Oktober 1933 sammelte sich angesichts der unmittelbar drohenden Konfrontation mit den faschistischen Kräften in Österreich eine sozialdemokratische Linksopposition (1. Oktober 1933), in der Ernst Fischer eine Fraktion (Fischerleute) führte.[19] Nach den Februarkämpfen 1934 und dem blutigen Sieg der rechtsextremen Regierung in Österreich mit Engelbert Dollfuß (1892–1934) trat der inzwischen 35jährige Ernst Fischer der Kommunistischen Partei bei und flüchtete in die Sowjetunion, wo er in Moskau vom Hotel Lux aus in verschiedenen Funktionen für die Kommunistische Internationale tätig wurde.[20] Für ihn war Josef Stalin (1878–1953) mit seinen marxistisch-leninistischen Grundsätzen, nach denen sich die Partei ausrichtete, Wegweiser in die Zukunft.[21] In den fernen Vereinigten Staaten von Amerika hat Albert Einstein (1879–1955) die Prozesse der 1930er Jahre nicht dämonisiert. Er hat es abgelehnt, eine antikommunistische Petition gegen „Stalins Morde an politischen Gefangenen“ mit der Begründung zu unterzeichnen: „Die Russen haben bewiesen, dass es ihnen wirklich einzig darum geht, das Los des russischen Volkes zu verbessern“.[22] Albert Einstein, der sich nie als Gegner des Materialismus positioniert hat, schreibt zu Lenins Todestag: „Ich verehre in Lenin einen Mann, der seine ganze Kraft unter völliger Aufopferung seiner Person für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt hat. Seine Methode halte ich nicht für zweckmäßig. Aber eines ist sicher: Männer wie er sind die Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit“.[23] Fischer stellt in seinen in Deutschland 1937 illegal verbreiteten, kleinformatigen (8,5cm x 12cm) Broschüre „Der Arbeitermord von Kemerowo“ mit dem nach einer Zürcher Novelle von Gottfried Keller (1819–1890) entlehnten Tarntitel „Der Narr auf Manegg“ (24 Seiten) die „verbrecherische Tätigkeit der Trotzkisten“ an den Pranger. Auf Englisch wurde diese Schrift mit dem Titel „Murder at the Kerovo Mines: Trotzkyite Plotters At Work“ im März 1937 in New York von Workers Library Publishers gedruckt und herausgegeben.[24] Seine Kampfschrift „Vernichtet den Trotzkismus!“ sollte gleichfalls als illegale Broschüre (8cm x 11cm, 48 S.) in Deutschland verbreitet werden. Ruth von Mayenburg (1907–1993) erinnert sich, dass Ernst Fischer die Ermordung von Leo Trotzki (1879–1940), der 1907–1914 mit Unterbrechungen in Wien gewohnt hat,[25] so kommentiert hat: „Das war der richtige Tod für diesen Teufel“.[26] Als Exorzist übersetzt Fischer die Argumentation von Generalstaatsanwalt Andrej J. Wyschinski (1883–1954) gegen die Angeklagten.[27] Das liest sich dann so: „Und da war schließlich der ‘Kampfgenosse‘ [Alexej] Schestow. Dieser Mann mit den stechenden Augen eines Raubtiers, dem starren Lächeln eines Irrsinnigen, der schrillen und brüchigen Stimme eines in der Pubertät Steckengebliebenen, wirkt wie ein Typus, dem wir in einer völlig anderen Umgebung öfters begegneten. Plötzlich erinnert man sich, in welcher Umgebung es war, wo man mit solchen Schestows zusammenstieß: die Prozesse gegen die deutschen Fememörder, gegen diese Kerntruppe des Hitlerfaschismus. Diese Mischung von hysterischer Erregtheit und gelassener Niedertracht, von Kadavergehorsam dem ‘Führer‘ gegenüber und zynischem Vergnügen an der Durchführung unmenschlicher Verbrechen – das ist die Garde Hitlers, das ist die Garde Trotzkis, das ist Schestow, der Mörder, der Erpresser, der Dolch und das Gift der Konterrevolution. […] In Schestow hatte sich die Vereinigung des Trotzkismus mit dem Faschismus bis zum letzten vollzogen; dieselben Menschen kämpfen mit denselben Mitteln für dieselben Ziele, Schestow ist der fleischgewordene Pakt Trotzkis mit dem Hitlerfaschismus, Schestow ist Trotzki ohne Maske“.[28] In seinen Erinnerungen setzt sich Fischer eine andere Brille auf, wenn er auf Wyschinsky zu sprechen kommt: „Die Anklageschrift hatte lediglich in dem Ankläger Wyschinski Gestalt angenommen. Er sprach in deren Jargon, brutal, widerlich, mit der starren Grimasse des Hasses und des Ekels, die zum Vorbild für Tausende seinesgleichen wurde. In seinen hellen blauen Augen war nichts als Eis“.[29] 

Das von Ernst Fischer im Basler „Verlag Freie Schweiz“ 1937 gedruckte und herausgegebene Buch „Die neuen Menschenrechte. Die Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (200 S.) ist überlegt geschrieben.[30] Seine Passagen über die „Pressefreiheit“ in der bürgerlichen Demokratie bestätigen sich Tag ein, Tag aus, nicht nur im Wien der Gegenwart.

Stalin und die Kader der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) hatten wesentlichen Anteil daran, dass die in der Sowjetunion vereinigten Völker des Ostens unter großen Opfern die vom deutschen Monopolkapital mit ihrer nationalsozialistischen Partei kriegstüchtig gemachte deutsche Wehrmacht abwehren und besiegen konnten. 

Ernst Fischer ist in Wien in den Jahren nach 1945 einer der einflussreichsten Intellektuellen der KPÖ 

Mit Ende des zweiten Weltkrieges konnten in Wien nach Jahren der Illegalität und blutigen Verfolgung die Überlebenden der KPÖ ein neues Kapitel ihrer eigenen Geschichte beginnen. In diesem Wien hat Stalin Ende 1912 bis Anfang 1913 seine Schrift „Marxismus und nationale Frage“ in Abstimmung mit Lenin erarbeitet und nachgewiesen, dass die Voraussetzung für nationale Freiheit und wahrhaftigen Internationalismus die Befreiung von Ausbeutung ist.[31] Noch in Moskau hat Ernst Fischer in der Reihe Free Austrian Books 1945 die Broschüre „Der österreichische Volks-Charakter“ veröffentlicht, in dem er ausgewählte historische Realitäten mit vielen halben, also vielen falschen Wahrheiten brillant erzählt, um die Österreicher zum Glauben und Hoffen an ihr Österreich zu verführen.[32] Alfred Klahr (1904–1944), der 1937 das historisch gewachsene Wesens der österreichischen Nation nüchtern erklärt hat,[33] wird in dieser Broschüre seltsamerweise nicht genannt. Die nach 1945 in Wien als Schriftstellerin und Journalistin wirkende Kommunistin Eva Priester (1910–1982) und der von Karl Kraus (1874–1936) beeinflusste aktive, vor den Nazis nach England entkommene Kommunist Albert Fuchs (1905–1946) haben in ihren im Exil begonnenen Arbeiten zur österreichischen Geschichte die ökonomischen, sozialen und politischen Aspekte, unter denen die Menschen in Österreich lebten, mit viel Sympathie, aber ohne populistisch ausgebreitete, emotionale Verzerrungen dargestellt. Dass „auf die größten Traditionen des vaterländischen Freiheitskampfes gegen landfremde Tyrannen“ die Tiroler Bauern zurückblicken können, oder dass Adolf Hitler „mit gutem Instinkt“ von Anfang an „Wien und die Wiener gehasst“ habe, „die helle Luft und das heitre Licht einer Stadt, die ihm wie ein feindliches Lebensprinzip gegenübersteht“, ist wirklichkeitsfremd.[34] Und dass „zu den wichtigsten Elementen des österreichischen Volkscharakters“ nach Fischer „die Toleranz, das Verständnis für fremde Völker, das geschmeidige Einfühlungsvermögen, die große Anpassungsfähigkeit (auch im Negativem, oftmals bis zur Charakterlosigkeit!), der Mangel an nationalistischer Rechthaberei, die Weltaufgeschlossenheit, in der Arbeiterklasse zu einem tiefverwurzelten Internationalismus gesteigert“ gehören,[35] werden die in Österreich um Asyl vorstellig werdenden Flüchtlinge nicht erfahren. 

Am 19. August 1945 wurde auf dem Schwarzenbergplatz, dessen südlicher Teil seit April 1946 bis Juli 1956 Stalinplatz heißt, das der „Befreiung Wiens durch die Rote Armee“ gewidmete Denkmal enthüllt.[36] Die „Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs“ huldigt am 21. August 1945 dieses Denkmal als „Sinnbild des Glaubens und der Dankbarkeit“. Im Namen der provisorischen österreichischen Staatsregierung sprachen Karl Renner (1870–1950) und die Staatssekretäre Leopold Figl (1902–1965) und Ernst Fischer, der seine Rede mit den Worten endet: „Es lebe das Bündnis der freiheitsliebenden Nationen, es lebe die Freundschaft des österreichischen Volkes mit dem großen russischen Volk! Es lebe der große Marschall der Sowjetunion Joseph Stalin! Es lebe unser geliebtes, teures, freies, demokratisches, österreichisches Vaterland“. Von der Feier wurde über den Rundfunk in ganz Österreich berichtet. Vor diesem Denkmal fand am 13. April 1946 die erste österreichische Befreiungsfeier statt. Auf der Ehrentribüne waren für die Wiener Bundespräsident Karl Renner und Bürgermeister Theodor Körner (1873–1957) zu sehen. Beim Aufmarsch der Wiener führte ein Bezirkszug nebst vielen kommunistischen Emblemen Porträtbilder von Stalin und Ernst Fischer mit und die Arbeiter-Zeitung berichtete dazu auf ihrer ersten Seite am Sonntag, 14. April 1946 unter der Überschrift „Der Dank an die Befreier“.[37] Unter den überlebenden Befreiern war der aus einer ostjüdischen Familie stammende Leo Stern (1901–1982), der als Oberst der 3. Ukrainischen Front der Roten Armee direkt an der Befreiung Wiens teilgenommen hat. Vor den Februarereignissen 1934 war Leo Stern mit Fischer in der sozialdemokratischen Links-Opposition, trat dann der Kommunistischen Partei bei und hat sich nach seiner Flucht in die Sowjetunion und dem Überfall der deutschen Wehrmacht freiwillig zur Roten Armee gemeldet. In Wien blieb ihm eine Fischer-Karriere versperrt, er nahm 1951 eine Berufung an die Martin-Luther-Universität nach Halle (DDR) an.[38] 

Ernst Fischer war erster Chefredakteur (bis 1947) des mit 23. April 1945, also bereits vor offiziellem Kriegsende (8. Mai 1945) erscheinenden „Organs der demokratischen Einigung. Neues Österreich“. Nach den ersten Nationalratswahlen (25. November 1945) war er Abgeordneter der KPÖ bis zu deren Ausscheiden aus dem Nationalrat 1959.[39] Er engagierte sich für die kommunistische Parteipresse und veröffentlichte in Permanenz Texte, die den Gesichtskreis ihrer Leser sicher erweiterten. Zu Jahresbeginn 1945 erscheint von Fischer im Stern-Verlag das Buch „Das Fanal“, das vom Kampf „des unerschrockenen Anwalts der Freiheit und des Menschenrechts“ Georgi Dimitroff (1882–1949) gegen die nationalsozialistischen Kriegsbrandstifter handelt.[40] Immer mehr sah sich Fischer in der Funktion eines Intellektuellen, der an die Stelle der historischen Mission der Arbeiterklasse die Illusion von einer historischen Mission der Intellektuellen pflegte. In seinen schön und anregend zu lesenden Feuilletons verlor sich Fischer in das Gerede über eine Demokratie mit Pluralismus und Opposition, wobei er die Funktion des Privateigentums aus den Augen verliert. Ab etwa Mitte der 1950er verschwinden die realen Probleme des Klassenkampfes hinter dem Vorhang geistreicher Essays. Dabei scheibt Fischer an Stephan Hermlin (1915–1937) voll Verachtung, er sei genötigt, „einen Müllhaufen von Literatur durchzuarbeiten“.[41] Im Heute ist er selbst in diesem „Müllhaufen“ gelandet.

1949 hat Fischer drei Essays „1. Roman des Bürgerkriegs; 2. Doktor Faustus und die deutsche Katastrophe; 3. Von der Notwendigkeit der Kunst“ im Wiener Globus Verlag unter dem Titel „Kunst und Menschheit“ veröffentlicht. Der österreichische jüdische Kommunist Bruno Frei (1897–1988), der nach der Befreiung Wegbegleiter von Ernst Fischer in der Partei war, hat in der „Volksstimme“ dieses Buch als „Kunstwerk“ angepriesen, weil der Leser fühle, „dass hier die Grundfragen der Kunst nicht von einem Schriftgelehrten, sondern von einem Künstler erläutert werden, der über das Rüstzeug des Marxismus verfügt“.[42] Bruno Frei hat nicht zwanzig Jahre später den Weg von Ernst Fischer hin zum Revisionismus in seinem der Österreichischen Nationalbibliothek als Beleg übermittelten Beitrag zum Parteitag der KPÖ nachvollziehbar dokumentiert (28. Oktober 1968).[43] Er wird in den Erinnerungen von Fischer nicht genannt.

Der Schweizer Konrad Farner (1903–1974) hat sich jahrzehntelang mit der bildenden Kunst marxistisch auseinandergesetzt, seine Essays über das Werden der christlichen Kunst sind Pionierleistungen.[44] Fischer hat diese Studien von Farner 1961 in seinem noch in der DDR verlegten Buch „Von der Notwendigkeit der Kunst“ zur Kenntnis genommen.[45]

Ernst Fischer wird Propagandist einer intellektuellen Elitetheorie

Aus Anlass der internationalen Tagung zum 80. Geburtstag von Franz Kafka (1883–1924) Ende Mai 1963 in Liblice nahe Prag trat Ernst Fischer an die Seite des Literaturwissenschaftlers Eduard Goldstücker (1913–2000) und verließ in den Diskussionen über die „Entfremdung“ mit bürgerlicher Interpretation den Boden des historischen Materialismus. Karl Marx hat in seinen „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844) die „Entfremdung des Menschen“ als sich im Kapitalismus extrem ausbildende Grundlage entdeckt und daraus gefolgert, dass erst der Kommunismus als „positive Aufhebung des Privateigentums“ zur Auflösung der „Entfremdung“ führen wird.[46] Als Kafkaist hat sich Fischer in seiner 1962 veröffentlichten Essaysammlung: „Von Grillparzer zu Kafka“ bekannt.[47] Der großartige marxistische Denker Bertolt Brecht (1898–1956) war ihm zu dieser Zeit nicht mehr wichtig. Trotz des in Österreich verordneten Boykotts[48] war Brecht in dem zuerst von Alexander Sacher-Masoch (1901–1972), dann seit 1947 von Bruno Frei und Fischer (bis 1960) redaktionell betreuten kommunistischen Wiener „Tagebuch“ häufig zitiert worden. Gustav Janouch (1903–1968) vermittelt in seinen 1951 publizierten Gesprächen mit Kafka einige von dessen Ahnungen: „Die Deutschen haben den Gott, der Eisen wachsen ließ. Ihr Tempel ist der preußische Generalstab“, sie wollen „nur besitzen und regieren“. Wenn Kafka sagt, dass „der Luxus der Reichen durch das Elend der Armen bezahlt wird“, ist das eine menschliche, keine „kafkaeske“ Botschaft, die kapitalistischen Verhältnisse zu ändern.[49]

Ernst Fischer greift die Hinwendung von Kafka zu den Armen in der Welt nicht auf, das reicht ihm für eine intellektuelle Diskussion nicht mehr aus. Eduard Rabofsky (1911–1994), der als Widerstandskämpfer und Kommunist viel persönliches Leid erlitten hat, sah, dass Fischer bürgerlichen Mist ausbreitete. Im Dezember 1963 nimmt Rabofsky in dem bis 1968 von der KPÖ finanzierten „Österreichischen Tagebuch“ Stellung: „Jedenfalls geht es den Menschen, die für ein Zusammenleben im Sozialismus diesseits und jenseits der Vorhänge eintreten, weniger um die Deutung des Begriffes ‘Entfremdung‘ auf ‚reflektierten Erlebnissen‘ eines Dichters, der die k. k. Monarchie erlebt hat, sondern um unsere Auffassungen über die Grenzen der individuellen Freiheit und die Grenzen der gesellschaftlichen Macht, ‘reflektiert‘ auf die ‘Erlebnisse‘ der kommunistischen Parteien.“[50]

1966 wurde erstmals in der Bundesrepublik Deutschland ein Buch von Ernst Fischer angeboten. „Kunst und Koexistenz. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik“[51] bietet eine Tour mit heute nur noch in speziellen Universitätsseminaren bekannten Namen, die sich mit marxistischem Vokabular vom Marxismus verabschiedet haben. Fischer hat das Ziel des Marxismus-Leninismus gesehen, ohne es erreicht zu haben, entschloss er sich mutlos zur Rückkehr in die Phraseologie seiner linksbürgerlichen Heimat. Er veröffentlichte die für die Westintellektuellen kommode Auffassung, dass das Erleben der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus dasselbe ist wie des neuen Menschen in sozialistischen Gesellschaften. Also wozu eine Revolution hin zu einer Gesellschaft, die an die Möglichkeit einer friedlichen, solidarischen Gemeinschaft mit „neuen Menschen“ glaubt?

Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei mit Alexander Dubček (1921–1992) an der Spitze benötigte für die Destabilisierung der Tschechoslowakei als sozialistisches Land Kafka gewiss nicht. Der Österreichische Staatsrundfunk mit seinen antikommunistischen Führern Gerd Bacher (1925–2015) und Alfons Dalma (1919–1999) gab medialen Rückhalt aus dem Westen. Am 21. August 1968 ergriffen fünf Länder des Warschauer Paktes militärische Maßnahmen, um die Tschechoslowakei nicht zu einem Kolonialstaat des US-Imperialismus mit NATO-Stützpunkt absinken zu lassen. Die Figuren des „Prager Frühling“ mussten bis zu ihrer Machtübernahme weitere Vorbereitungen treffen. Ihnen zur Seite sprangen Intellektuelle wie Fischer, der von „Panzerkommunismus“ spricht und am 21. September 1968 an die besorgte tschechische Antifaschistin Štefána Lorándová (1919–2012) schreibt:

„Sie fragen: Was tun? – Wir alle fragen es. Was in unsrer Macht steht, um Dubček, um eurem Volk zu helfen, geschieht – leider ist es nicht viel. In unsrer Macht steht das Wort, die Wahrheit, aber im Augenblick triumphieren Gewalt und Lüge. Ich sage: im Augenblick – denn die moralische und politische Haltung eures Volkes ist so bewunderungswürdig, dass die Okkupanten es keineswegs leicht haben und die Niederlage mehr Zukunft in sich birgt als die Schande der Sieger. Wir werden sehr viel umlernen müssen. Der fadenscheinige Mantel des ‘Marxismus-Leninismus‘ verdeckt nicht mehr die Tatsache, dass die Sowjetunion zu einem russischen Imperium geworden ist, dass ihre Führer den Sozialismus verraten, den Kommunismus zur Karikatur gemacht haben. Also: Neu-Beginnen, in Theorie und Praxis, und seien wir zwischen den imperialistischen Machtblöcken auf weite Sicht die Schwächeren, trotz alledem: das menschliche Gesicht des Sozialismus. Es gibt Situationen, in denen der Traum vom Möglichen wichtiger ist als die absurde Realität. Die Spur dessen, was ihr vollbracht habt, kann nicht untergehn.“[52]

Seinem aus der Tschechoslowakei emigrierten und zuerst von der University of Sussex aufgenommenen lieben „Eda“ (d. i. Eduard Goldstücker) schreibt Ernst Fischer menschenverachtend am 7. März 1970, dass alles, was er aus der Tschechoslowakei höre, den Befürchtungen entspreche: „Die Rache der Reptilien ist unaufhaltsam“.[53]

Fischer schaute bewusst von der nationalen und internationalen Wirklichkeit weg und setzt sich die wohlfeile Maske eines intellektuellen Träumers auf. In und außerhalb der KPÖ fand er den ihm wichtigen Applaus, zumal die Studentenbewegung Intellektuelle als neue revolutionäre Klasse feierte. Der „akademische Marxismus“ mit der Frankfurter Schule war en vogue und wurde von den staatserhaltenden Universitäten des europäischen Westens gerne toleriert, weil seine Ideen eben nicht staatsgefährlich, sondern Ausdruck konzentrierten Kleinbürgertums waren. Der sich zur intellektuellen Elite zählende, aus der US-Emigration zurückgekehrte Eduard März (1908–1987) konzipierte auf diesem Hintergrund mit Ernst Fischer eine „europäische Linke“, die mit ihren Appellen an Moral und Politik die Menschheitsprobleme zu lösen vorgab.[54] Eduard März wirft Sowjetrussland vor, osteuropäische Länder mit den „Bajonetten der siegreichen Roten Armee (und den Spezialabteilungen des NKWD)“ seinem Imperium „zwangsweise eingefügt“ zu haben. März rechtfertigt 1970 in seinem Artikel „Zio-Imperialismus?“ die vom israelischen Staat ausgeübte Militärgewalt gegen die Palästinenser,[55] was Fischer nicht störte. 

Seit Spätherbst 1989 wurde die Tschechoslowakei durch ihre antikommunistischen Kräfte mit ihrem intellektuellen, auch von Österreich aus beleuchteten Messias Václav Havel (1936–2011) als Kolonie des Westens angeboten. Am 21. Februar 1990 wurde Václav Havel vom Plenum beider Häuser des US-Kongress frenetisch bejubelt.[56] Dieser dankte den Vertretern des US-Imperialismus, dass sie „die Moral vor die Politik“ setzen. In den Wochen zuvor hatte die USA die Ermordung (16. November 1989) von sechs in El Salvador wirkenden Jesuiten, die sich als Intellektuelle in Wort und Schrift für die Befreiung aus der Sklaverei, für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt haben, in Auftrag gegeben.[57] In Panama waren Ende Dezember 1989 / Anfang 1990 die US-Truppen einmarschiert. Wenige Tage vor dem Beginn des verbrecherischen Angriffskrieges der NATO gegen Serbien (24. März 1999) erfolgte der lange vorbereitete Eintritt Tschechiens in die NATO (12. März 1999).[58]

Das öffentlich gewordene, seit der ungarischen Konterrevolution 1956 sich abzeichnende Überlaufen von Ernst Fischer zu den Gegnern der von den Sozialistischen Ländern mit allen ihren Fehlern eindeutig angestrebten entmilitarisierten und friedlichen Weltgesellschaft erfolgte in einer Zeit, als im Nahen Osten das israelische Militär Palästinenser aus ihrem Heimatland brutal verjagte und in Vietnam die US – Army das vietnamesische Volk massakrierte. Der von Fischer selbst erwartete Ausschluss aus der KPÖ erfolgte nach lebhaften Diskussionen innerhalb und außerhalb der Partei am 13. Oktober 1969. Der folkloristische Intellektuelle Günther Nenning (1921–2006) schrieb in der Zeitschrift „Neues Forvm“ schon davor einen Artikel „Ernst Fischer unter uns“ (Juni / Juli 1969).

Im September 1969 veröffentlichte Fischer im Rowohlt Verlag seine „Erinnerungen und Reflexionen“, in jenem Verlag, der an die Abteilung „Psychologische Kriegsführung“ des Bonner Kriegsministeriums 50.000 Exemplare des Buches der jüdisch russischen Literatin Swetlana Semjonowa Ginsburg (1904–1977) „Marschroute eines Lebens“ verkauft hatte.[59] Swetlana Ginsburg war in Moskau 1937 als Trotzkistin verurteilt worden und musste zehn Jahre unter wechselnden Bedingungen in Haft bleiben. Das Buch von Ginsburg wurde von Bonn durch Ballons über die Grenze in die DDR befördert. Fischer war, wie er am 29. September 1969 an dem ihm im europäischen Fraktionismus verbündeten Lucio Lombardo-Radice (1916–1982) schreibt, empört, aber nicht wegen der Rowohlt-Bombe im Kalten Krieg, sondern weil er sich Sorgen um den Vertrieb seiner Memoiren machte: „Das Ganze ist erst vor wenigen Wochen aufgeflogen und hat zu einer schweren Krise des Verlags geführt und hat zu einer schweren Krise des Verlags geführt. Zu diesem denkbar ungünstigsten Augenblick ist mein Buch ‘Erinnerungen und Reflexionen‘ erschienen und dadurch aufs schwerste geschädigt“.[60] 

Noam Chomsky schreibt über das „Phänomen des gescheiterten Gottes“

Der US-amerikanische, humanistisch denkende Intellektuelle Noam Chomsky (*1928) beschreibt zwei Arten von Intellektuellen und ihre Rollen. Ohne Ernst Fischer zu kennen, resümiert Noam Chomsky, „dass es für Intellektuelle ein Leichtes ist, die Seite zu wechseln: Das ist das ‘Phänomen des gescheiterten Gottes‘. Man erkennt, dass es keine Volksrevolution geben wird: Man wird es nicht zur Avantgarde bringen, die die Massen in die Zukunft peitscht – also vollzieht man diesen Wandel und wird zum Diener des ‘Staatskapitalismus‘. Ich will damit nicht sagen, dass jeder, der diesen Wandel durchlaufen hat, unmoralisch gehandelt hätte. Manche begriffen tatsächlich Dinge, die sie zuvor nicht gesehen hatten. Doch mittlerweile ist es zu einer Farce geworden. Man erlebt, wie so mancher in vollem Bewusstsein versteht: ‘Es wird keine Revolution geben. Wenn ich zu Macht und Ansehen kommen will, sollte ich besser jenen Leuten dienen. Also durchlaufe ich rasch die Wandlung und denunziere meine alten Kameraden als uneinsichtige Stalinisten‘. Der Wandel ist absurd, und eigentlich sollten wir darüber lachen. Wie leicht er zu durchlaufen ist, spiegelt sich teilweise darin wider, wie wenig sich diese Intellektuellen voneinander unterscheiden“.[61]

Es gibt allein im Wien der Gegenwart viele, allzu viele Beispiele, welche diese von Chomsky getroffene Analyse der Rolle von Intellektuellen bewahrheiten. Der sich als Intellektueller verstehende Walter Baier (*1954), der mit seiner von der katholischen Heuchelbewegung Fokolar inspirierten Phraseologie von einer „Transformation“ des Spätkapitalismus die europäische Linke infiltriert, Michael Köhlmeier (*1949), der mit der Einschätzung des russischen Volkes als „Untertanenvolk“ dem Aufmarsch eines „Herrenvolkes“ gegen die „Russen“ zustimmt und sich also wiederbetätigt,[62] Robert Menasse (*1954), der die Europäische Kriegsunion als „reale, praktische, rechtsverbindliche Avantgarde“ definiert, die sich von der „netten Symbolik der UN abhebt, „einer Institution, in der auch Vertreter von Diktaturen, Massenmördern, religiösen Fanatikern und so weiter sitzen“,[63] oder Toni Faber (*1962), der von der Kanzel des Stephansdoms aus bürgerlichen Lifestyle als Lebensmotto ausgibt, haben gemeinsame, der Europäischen Kriegsunion nützliche Narrative.

Weil es die Notwendigkeit eines „Trotz alledem“ gibt, soll hier zum Abschluss dieses für den Autor selbst deprimierenden Textes auf den in der Leibniz-Sozietät am 11. April 2024 gehaltenen Vortrag über Immanuel Kant (1724–1804) von Hermann Klenner (*1928) aufmerksam gemacht werden. Der Großintellektuelle Kant hat Kriegsentstehen und Kriegsführung aus den Interessen der Obrigkeiten erklärt, also das Interesse am Frieden dem Volk zugeordnet. Diese Wahrheit wird in der Gegenwart des dritten Weltkrieges nur zu deutlich.[64]


[1] Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 10. Register. Hg. von Ruedi Graf und Peter Jehle unter Mitwirkung von Klaus Bochmann. Argument Verlag Hamburg 2002. Zitat Band 3 (Argument Verlag 1992). S. 528.

[2] Vgl. Jürgen Kuczynski: Die Intelligenz. Studien zur Soziologie und Geschichte ihrer Großen. Akademie Verlag Berlin 1987. 

[3] Verlag C. L. Hirschfeld Leipzig 1926.

[4] Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. MEW 8 (1973), S. 111–207, hier S. 

[5] F. Gladkow: Neue Erde. Roman. 1.–17. Tausend. Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Olga Halpern. Verlag für Literatur und Politik Wien / Berlin. 1932, S. 120 f.; Die Rote Fahne vom 4 Juni 1932 (29. Fortsetzung). 

[6] Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1969 (dazu vgl. Ernst Wimmer: Behördlich konzessionierter Utopismus. Zu Ernst Fischers „Erinnerungen und Reflexionen“. Weg und Ziel 1970, Heft 3, S. 14–17); Ernst Fischer: Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945–1955. Mit Nachworten von Franz Marek und Karl-Markus Gauß unter Mitarbeit von Ludwig Hartinger. Sendler Verlag Frankfurt a. M. 1988. 

[7] Wiener Literarische Anstalt Gesellschaft m. b. H Wien / Berlin, 108 S. Zitat, S. 6; vgl. Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918–1927). Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Egyptien. CLIO Graz 2016.

[8] Auszüge in Ernst Fischer, Neue Kunst und neue Menschen, S. 127–149; Österreichisches Theatermuseum. 

[9] Arbeiterwille vom 3. Oktober 1924 (Hans Hellmer); Arbeiter-Zeitung vom 2. Oktober 1924 (Otto König); Wiener Zeitung vom 2. Oktober 1924 (Otto Stössl). 

[10] Arbeiterwille vom 14. November 1925.

[11] Tagblatt vom 25. April 1931.

[12] Unterhaltungsbeilage des „Arbeiterwille“ vom 9. September 1928.

[13] Die Rote Fahne vom 28. September 1928.,

[14] MEW 1 (1972), S. 385 (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung).

[15] Ernst Fischer: Krise der Jugend. Hess & Co Verlag Wien / Leipzig 1931, S. 125.

[16] Ebenda, S. 43.

[17] Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR. Moskau 1937.

[18] Ebenda, S. 124 f.

[19] Karl R. Stadler: Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934. Mit einem Vorwort von Bruno Kreisky. Europaverlag Wien 1974, S. 32 f.

[20] Vgl. Ruth von Mayenburg: Hotel Lux. Mit Dimitroff. Ernst Fischer. Ho Tschi Minh. Pieck. Rakosi. Slansky. Dr. Sorge. Tito. Togliatti. Tschou En-lai. Ulbricht und Wehner im Moskauer Quartier der Kommunistischen Inernationale. C Bertelsmann Verlag München 1978. 

[21] Vgl. Domenico Losurdo: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Mit einem Essay von Luciano Canfora. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer. PapyRossa Verlag Köln 2012; Dimitri Wolkogonow: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt. Aus dem Russischen von Vesna Jovanoska. Claassen Düsseldorf 1989. 

[22] Walter Isaacson: Einstein. Die Biografie. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. C Bertelsmann München 2024, S. 587.

[23] Gelegentliches von Albert Einstein. Zum Fünfzigsten Geburtstag 14. März 1929 dargebracht von der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches zu Berlin. Berlin März 1929, S. 20 f.; Siegfried Grundmann: Einsteins Akte. Einsteins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York 1998, S. 331. 

[24] Der Arbeitermord von Kemerowo. Die verbrecherische Tätigkeit der Trotzkisten. Hartenstein Matthes. Tarntitel: Der Narr auf Manegg von Gottfried Keller. Beide Ausgaben sind in der OeNB überliefert!

[25] Leo Trotzki – Wien Geschichte Wiki

[26] Mayenburg, S. 192.

[27] A. J. Wyschinski: Gerichtsreden. Dietz Verlag Berlin 1951.

[28] Diese in der ÖNB überlieferte Kleinbroschüre trägt den Tarntitel: Van Loon: Du und die Erde. Eine Geographe für Jedermann. Im Verlag Ullstein Berlin. Zitat hier S. 31. 

[29] Erinnerungen und Reflexionen, S. 375 f.

[30] 1. Auswahlband des IV. Quartals 1937. 279. Band der Universum-Bücherei.

[31] J. W. Stalin, Werke, Band 2 (1907–1913), Dietz Verlag Berlin 1950, S. 266–333; Der Marxismus und die nationale und koloniale Frage. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden. Dietz Verlag Berlin 1950. 

[32] Austrian Centre. London 1945. Mit freundlicher Bewilligung des Verlages für schöne Literatur, Moskau. 43 S.; Ausgabe auch durch Freie österreichische Bewegung in der Schweiz. Hess Buchdruck Zürich.

[33] Alfred Klahr: Zur österreichischen Nation. Hg. von der KPÖ Wien 1994.

[34] Zitate nach der Zürcher Ausgabe, S. 4 und S. 25.

[35] Ebenda, S. 7.

[36] Befreiungsdenkmal – Wien Geschichte Wiki

[37] Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialistischen Partei Österreichs vom 14. April 1946.

[38] Gerhard Oberkofler / Manfred Stern: Leo (Jonas Leib) Stern. Ein Leben für Solidarität, ‑freiheit und Frieden. StudienVerlag Innsbruck / Wien / Bozen 2019.

[39] Vgl. Manfred Mugrauer: Die Politik der KPÖ 1945–1955. Von der Regierungsbank in die innenpolitische Isolation. V& R unipress Göttingen 2020; Ernst Fischer – Wien Geschichte Wiki.

[40] Ernst Fischer: Das Fanal. Der Kampf Dimitroffs gegen die Kriegsbrandstifter. Stern Verlag Wien 1949. Zitat im vom 1. Jänner 1946 datierten Vorwort.

[41] Briefe an Hermlin 146‑1984. Aufbau-Verlag 1985, S. 78 f.

[42] Bruno Frei: Vom Sinn und von der Aufgabe der Kunst. Zu Ernst Fischers Buch „Kunst und Menschheit“. Volksstimme vom 24. Juli 1949.

[43] Bruno Frei – Wien Geschichte Wiki; Gerhard Oberkofler: Mit dem österreichischen jüdischen Marxisten Bruno Frei unterwegs im 20. Jahrhundert. trafo Verlag Berlin 2024. 

[44] Z. B. Konrad Farner: Kunst als Engagement. Zehn ausgewählte Essays. Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1973; vgl. Gerhard Oberkofler: Konrad Farner. Vom Denken und Handeln des Schweizer Marxisten. StudienVerlag Innsbruck / Wien / Bozen 2015;

[45] Ernst Fischer: Von der Notwendigkeit der Kunst. Verlag der Kunst Dresden. 2. A. 1961, S. 117. 

[46] MEW. Ergänzungsband Erster Teil (1981), S. 467–588, hier S. 536; vgl. Artikel „Entfremdung“ in: Philosophisches Wörterbuch. Hg. von Georg Klaus und Manfred Buhr. VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1976, Band 1, S. 324–328.

[47] Globus Verlag Wien 1962.

[48] Vgl. Kurt Palm: Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht und Österreich. Löcker Verlag Wien / München 1983.

[49] Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. S. Fischer Verlag Frankfurt a. M. 1951, hier S. 66 f. und S. 78; über Kafka s. Artikel Saul Friedländer / Stefan Hofmann in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Verlag J. B. Metzler Stuttgart / Weimar, Band 5 (2014), S. 4–9..

[50] Vgl. Gerhard Oberkofler: Eduard Rabofsky. Jurist der Arbeiterklasse. Eine politische Biographie. Studienverlag Innsbruck / Wien 1997, S. 130. 

[51] Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1966.

[52] Durchschlag des maschinegeschriebenen Briefes. Österreichisches Literaturarchiv. Nachlass Ernst Fischer. Herrn Martin Wedl besten Dank!

[53] Maschinegeschriebener Durchschlag, Literaturarchiv Wien.

[54] Eduard März: Quer durch alte Mauern. Ernst Fischers Bedeutung für die österreichische und europäische Linke. Neues Forum Wien, November 1969, S. 673–675; Eduard März – Wien Geschichte Wiki

[55] Eduard März: Zio-Imperialismus?. Neues Forvm Januar 1970, S. 12–16. 

[56] Noam Chomsky: Der neue militärische Humanismus. Lektionen aus dem Kosovo. Ein Sachbuch aus der edition 9. Zürich 2000, S. 130.

[57] Jon Sobrino SJ: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund (= Ignatianische Impulse). Echter Verlag Würzburg 2007.

[58] Vgl. Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien. Orell Füssli Verlag Zürich, 5. A. 2017, hier S. 175 f.; NATO Crimes in Yugoslavia. Documentary Evidence 14 March-24 April 1999. Belgrade May 1999. 

[59] Deutsch von Swetlana Geier. Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1.–20. Tausend September 1967. Nach der bei Arnoldo Mondadori Editore Milano 1967 publizierten russischen Originalausgabe; Hermann Gieselbusch / Dirk Moldenhauer / Uwe Naumann / Michael Töteberg: 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik. Rowohlt Reinbek bei Hamburg 2008, S. 264 f. 

[60] Literaturarchiv Wien. Nachlass Ernst Fischer.

[61] Noam Chomsky: Demokratie und Erziehung. Herausgegeben von Carlos Peregrín Otero. Aus dem Amerikanischen von Sven Wunderlich. Lowell Factory Books 2013, S. 454.

[62] Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Hanser Verlag 2024.

[63] Robert Menasse: Die Welt von Morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde. Suhrkamp Berlin 2024, hier S. 125.

[64] Auszug auch in: jungewelt 11. / 12. Januar 2025.

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