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Der kommunistische Dichter Jannis Ritsos wird in der DDR als ihr Freund bekannt und erhält in Leipzig die Ehrendoktorwürde der Karl-Marx-Universität

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Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Γιάννης Ρίτσος

Für Herbert Hörz (1933–2024)

Erinnerung an Jannis Ritsos

„Sie haben uns den Mund verschlossen, Genosse.
Sie haben uns die Sonne weggeschlossen.
Wir haben unser eigenes Lied nicht gesungen –
jenes, dessen Anfang einfach und mächtig und erbittert war:
Proletarier aller Länder, vereinigt euch.“ (Jannis Ritsos)[1]

„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ ist der Leitgedanke des Organs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) „Neues Deutschland“. 1958 ist dessen Auslandskorrespondentin Cläre Einhorn (1914–1985) in Sofia bei einer Tagung des Friedensrates der griechische Dichter Jannis Ritsos (geb. 1. Mai 1909, Monemvassia / Peloponnes, gest. 11. November 1990, Athen)[2] persönlich begegnet. „Mein ganzes Herz schlägt für den Frieden, und jeder Tag, der erfüllt ist vom Kampf für den Frieden, ist ein für das Leben gewonnener Tag“ – so erklärte sich Jannis Ritsos gegenüber der DDR Korrespondentin Cläre Einhorn.[3] Wenige Tage nach diesem Gespräch ist am 14. August 1958 der Präsident des Weltfriedensrates Frédéric Joliot-Curie (*1900) verstorben. Ihm hat Jannis Ritsos im November 1950 einen mehrstrophigen Brief aus seinem damaligen Verbannungsort Agios Efstratios geschrieben:

„Mein lieber Joliot,
Ich schreibe dir von der Insel St. Efstratios,
An die dreitausend Leute sind wir hier,
einfache, fleißige, gelehrte Menschen,
mit einer zerlöcherten Decke um die Schultern
mit einer Zwiebel, fünf Oliven und einem Stück
trockenem Brot in unserem Beutel,
Menschen, die sonst keine Schande am Hals haben
sondern nur, wie du auch,
die Liebe zur Freiheit und zum Frieden.
[…].“[4]

1934 war von Jannis Ritsos die erste Sammlung von Gedichten unter dem Titel „Traktor“ publiziert worden, im selben Jahr ist er der kleinen Kommunistischen Partei Griechenlands beigetreten und blieb zeitlebens ein kämpfender, an der Zukunft der Menschheit orientierter kommunistischer Internationalist. In seiner ersten Sammlung veröffentlichte Jannis Ritsos das Gedicht „Germania“, mit dem er die Bücherverbrennungen in Deutschland anprangert und dabei die Werke von Heinrich Heine (1797–1856) besonders nannte. Er hoffte auf jenen Tag, an dem sich die deutschen Menschen mit den Sowjetmenschen verbrüdern werden. Durch seine Nähe zu Karl Marx (1818–1883) und dem von der religiösen und politischen Gewaltherrschaft gekreuzigten Jesus (Christus) (+30 n. u. Z.) wird Jannis Ritsos einer der Pioniere der Befreiungstheologie. Um 1932 schrieb Jannis Ritsos seinen Dialog mit dem Christentum und Marxismus nieder:

„Christus, sie benutzen dich, um den Weg des Armen
zu versperren,
dessen erzürnter Blick sie in glückselige Höhen
lenkten,
aber schwer wog die Hacke in des Arbeiters Hand,
und bevor
er gräbt sein Grab, zerstört er dein leeres Schloß.
Christus, dein Herz war das Herz der ganzen
schmerzerfüllten Welt,
das dem Befehl gehorchte, um andere hörig zu
machen,
und wenn jemals die Feinde erschraken vor deiner
mächtigen Stimme,
bekränzten sie sofort dein Angesicht.
Aber der Schmerz ist jetzt reif geworden, die Wut
fand ihren rechtmäßigen Ausdruck,
die Ketten der Sklaverei zerbrechen, deine Geduld
versiegt,
ich sehe dich am neuen Kreuz, Christus, im roten
Morgendämmer,
aus deinem letzten Tod soll das Leben Freude
schaffen.“[5] 

Mit einer Liebeserklärung an seine Mutter verknüpft Jannis Ritsos seine erwachende Liebe zum Marxismus. Seine Mutter lehrte ihr heranwachsendes Kind nicht in Unterwürfigkeit irgendwelche Schulgebete zu sprechen, sie lehrte ihm viel mehr, sie lehrte ihm ein tätiger Bruder der Armen zu werden: „Sie war eine sehr schöne Frau. Eines Tages hatte sie sich einen roten Schal umgebunden und rief: >Ich bin Bolschewikin. Ich bin Bolschewikin<. Bis zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter so etwas wie ein Philanthrop, eine gute Wohltäterin. Sie organisierte z. B. Wohltätigkeiten, wie die Mutter von [Maxim] Gorki [(1868–1936)] oder in Gorkis Kindheit die Großmutter es getan hat, die heimlich Almosen verteilte. So bereitete auch meine Mutter vor allen Feierlichkeiten, Weihnachten, Ostern oder ähnlichen Festtagen, Süßigkeiten und belegte Brote und schickte mich mit der Dienerin los um die Sachen abends an den Türen der Armen zu verteilen. Als die Gespräche auf den Marxismus kamen, der nun keine Theorie mehr war, sondern in die Praxis umgesetzt wurde, und die Russische Revolution eine Tatsache, hieß es in den Gesprächen, die in unserem Haus stattfanden – wobei meine Mutter die zentrale Person war -, daß dies der richtige Weg sei. So hörte ich vom Marxismus schon als Kind.“[6] 

1936 erschien von Joannes Ritsos sein „Epitaphios“-Zyklus, dem im Mai 1936 der Streik der brutal ausgebeuteten Tabakarbeiter und dessen blutige Niederschlagung mit 30 Toten und mehreren hundert Verletzen zugrunde liegt. Eine Arbeitermutter beweint ihren wie Christus von den Machthabern getöteten Sohn und schaut prophetisch in die Zukunft der Geschwisterlichkeit:

„[…]
O Mutter Gottes, wenn du wärst nur Mutter so wie ich,
Du hättest einen Engel nur für meinen Sohn geschickt!
Und wärst du, Gott, auch wirklich Gott und wir wärn deine
Kinder –
Du würdest fühlen so wie ich und meine Schmerzen lindern.
Und wärest du gerecht, du hättest die Welt gerecht bemessen:
Für jeden Vogel jedes Kind gäb es genug zu essen,
Doch richtig hast du mir’s gesagt, mein Sohn, mit deinem Mund,
Wenn du zu mir gesprochen, wenn dein Rat mir wurde kund: 

[…]

Hast deinen Traum geträumt du, sieh: Er steht vor dir und lebt,
Er geht an deiner Seite, und die Straße, sie erbebt,
Es dröhnen alle Märkte und die Gassen, der Balkon,
Die Mädchen pflücken für dein Haar die Blumen, ach, mein
Sohn,
Dein Blut, das diese Erde färbt, es hat uns Kraft gegeben:
Ein Meer von Schreien und ein Wald von Fäusten ist das
Leben.
Vereint hat sich die Bluse mit der Uniform, Soldaten
Mit Arbeitern, in einem Schritt gehn, die gehaßt sich haben.
Wie schön ist’s, wenn die Menschen sich vereinen und sich lieben:
Der Himmel leuchtet, und das Land erfüllt ein Duft von Blüten.
Und wie sie jetzt vorüberziehn, die Guten, jung und einig,
Daß ihnen diese Welt gehört, das, Söhnchen, das begreif ich.
Verkrochen haben sich weitab, die unsre Herrn gewesen,
Gezücht, von Arbeitern verjagt mit eisenhartem Besen.
Wo bist du, Sohn, um das zu sehn, um alles das zu wissen,
Um einmal noch, bevor du gehst, die ganze Welt zu küssen?
[…]“[7]

Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht schloss sich der unbeugsame Jannis Ritsos der Nationalen Befreiungsfront (Ethnikó Apelevtheotikó Metopó, EAM) an, die am 27. September 1941 von der Kommunistischen Partei (KKE) zusammen mit kleineren antifaschistischen Gruppierungen gegen die deutschen Besatzer gegründet worden war.[8] Ihr Programm entsprach dem Willen der Mehrheit des griechischen Volkes und sollte nach der Befreiung vom Faschismus verwirklicht werden. Dazu ist es nicht gekommen, weil die britische Intervention der Konterrevolution zum Sieg verholfen hat. 1948 wurde Jannis Ritsos von den Monarchofaschisten verhaftet und für vier Jahre auf der Insel Limnos in einem Konzentrationslager eingesperrt. Von rund dreissigtausend kommunistischen Partisanen, die im Widerstand gegen die deutschen Besatzer gekämpft haben, überlebten nur wenige Folter, Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten. Auf kleine Zettelchen schrieb Jannis Ritsos für sich Gedichte nieder („Die Steinzeit“). Als auf die Insel Ai-Stratis Verbannter schrieb er das Werk „Der Mann mit der Nelke“, das dem hingerichteten Arbeiterführer Nikos Beloyannis (1915–1952) gewidmet ist. Die Militärregierung des Alexandros Papagos (1883–1955) handelte im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der berüchtigten Doktrin von Harry S. Truman (1884–1972) vom 12. März 1947, nach der Griechenland und die Türkei innerhalb der Grenzen des US-Imperialismus liegen.[9] „Ich werde bis zum letzten Atemzug für das Recht kämpfen, für mein Volk zu schreiben, von dem ich einen kleinen Teil verkörpere“[10] – das war die Haltung von Jannis Ritsos, der zu einem von der humanistischen Weltöffentlichkeit wahrgenommenen Poeten wurde.

Mikis Theodorakis (1925–2021) hat 1956 einen vom Diktator Ioannis Metaxas (1871–1941) zur öffentlichen Verbrennung bezeichneten Liedtext seines Freundes Jannis Ritsos vertont. Am 21. April 1967 putschte im Einvernehmen und unter direkter Anleitung der USA in Griechenland, das seit 18. Februar 1952 NATO-Stützpunkt war, wegen der erstarkenden Volksbewegung eine Handvoll von Offizieren und installierte ein militärfaschistisches Regime. Jannis Ritsos wurde wieder interniert, diesmal in den Konzentrationslagern auf den Inseln Leros und Jaros. Mikis Theodorakis wurde in das KZ Oropos eingeliefert und im Mai 1970 ausgebürgert. Er hat mit seinem Lied „Die Front der Patrioten ruft“ Weltgeltung erlangt. In der DDR erlebte die Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit dem Sänger Theodorakis „Die Front der Patrioten ruft“ bewegende Auftritte, über die der Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband „Team 4“ und des „Oktoberklubs“ Hartmut König (*1947) selbstbiographisch in der Monatsschrift „RotFuchs“ erinnert.[11]

Die in dunkler Verborgenheit niedergeschriebenen Gedichte von Jannis Ritsos sind 1971 in Französisch und Griechisch herausgegeben worden. In seinem Vorwort schreibt Louis Aragon (1897–1982): „Ich wußte zunächst nichts von ihm, daß er der größte lebende Dichter dieser unserer Zeit ist; ich schwöre, daß ich es nicht wußte. Ich habe es nach und nach erfahren, von einem Gedicht zum anderen, ich würde sagen, von einem Geheimnis zum anderen, denn ein jedes Mal war es der Schock einer Enthüllung, den ich verspürte. Die Enthüllung eines Menschen und eines Landes, die Tiefen eines Menschen und die Tiefe eines Landes“.[12] Für den schweizerischen humanistischen Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) waren die Gedichte von Jannis Ritsos „nicht Zeugenaussagen eines Einzelnen, sondern eines Volkes in einer Landschaft, die antikisch ist, aber götterlos“.[13] Im Jugendverlag der DDR „Neues Leben“ wurde in der Lyrikreihe „Poesiealbum“ vom dort lebenden, aus einer griechischen Emigrantenfamilie kommenden Asteris Kutulas (*1960) ein kleines (31 S.) Heft von Jannis Ritsos mit Übertragungen von Asteris Kutulas, Hans Brinkmann (*1956) et al. herausgegeben.[14] Asteris Kutulas hat auch Essays und Interviews von Jannis Ritsos „Steine Knochen Wurzeln“ aus dem Griechischen herausgegeben, übersetzt und mit Nachwort, Anmerkungen und Werkverzeichnis versehen – im letzten Jahr der DDR vor deren Okkupation durch die BRD.[15]

Die DDR verlieh ihren Freund Jannis Ritsos, den Werner Neubert (*1929) in der „Berliner Zeitung“ als „klare Stimme des Weltgewissens“ gewürdigt hat,[16] in ihrer Botschaft in Athen am 19. Mai 1989 den „Großen Stern der Völkerfreundschaft“.[17] Jannis Ritsos ist Repräsentant jenes „unklassischen“ Griechenlands, über welches der Wiener Kommunist Bruno Frei (1897–1988) in der „Die Weltbühne“ geschrieben hat und dabei von den am 10. Juli 1966 erfolgten blutigen Zusammenstößen im wegen seiner altchristlichen Kunstschätze als „klassisch“ wahrgenommenen Saloniki zwischen mit Panzern und Maschinengewehren ausgerüsteten Polizeitruppen und sich mit Sensen und Stöcken währenden mazedonischen Bauern ausgegangen ist. Für Bruno Frei war das exemplarisch: „Das Volk soll demokratisch entscheiden. Das klingt sehr vernünftig. Aber Leute, die geneigt sind, der bürgerlichen Demokratie den Klassenkampf zu opfern, können in Griechenland eine Lektion lernen. Sie ist nicht neu. Die bürgerliche Demokratie funktioniert, solange sie die kapitalistische Ordnung nicht gefährdet“.[18] Bruno Frei war kein kleinbürgerlicher professoraler Verteidiger der „Demokratie“, er analysierte historische Prozesse materialistisch. Wie Bruno Frei hat auch Jannis Ritsos Partei für die Armen und gegen die Reichen genommen, wenn er die Rolle der bürgerlichen Demokratie analysiert:

„Die Kleinen kommen nicht aus dem Dreck. Bei den Wahlen
schickte man ein paar Abgeordnete ins Parlament, die aber
steckten die Stimmen ein und die Diäten und vergaßen ihr
Versprechen“.[19]

Ehrendoktorat der Karl-Marx-Universität in Leipzig an Jannis Ritsos (1984)

Die Wissenschaft vom griechisch-römischen Altertum hatte in der DDR hohe Anerkennung, zumal durch die Tätigkeit ihrer nach Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) benannten Gesellschaft mit Johannes Irmscher (1920–2000) an deren Spitze (seit 1970).[20] Der Nutzbarmachung der klassischen Altertumswissenschaften für das sozialistische Bildungsbewusstsein stand die Tradition der Abendlandlügen des imperialistischen Bürgertums entgegen. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben selbst intensiv das griechisch-römische Altertum studiert. Vom jugendlichen Karl Marx sind einige Seiten seiner Hefte zur epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie überliefert und Aischylos (525 – 456 v. u. Z.) soll er in einer griechischen Ausgabe immer wieder gelesen haben.[21] Marx hat viel Sympathie für den Atheismus von Epikur (342/41 – 271/70 v. u. Z.) gehabt und Friedrich Engels (1820–1895) sprach vom „ursprünglich naturwüchsigen Materialismus“ der antiken Philosophie.[22] 

Die Initiative zur Verleihung des Ehrendoktorats der Karl-Marx-Universität in Leipzig an Jannis Ritsos folgte dort jener an Michail Alexandrowitsch Scholochow (1905–1984) und Pablo Neruda (1904–1973)[23] und ging zu Ende des Sommersemester 1978 (26. Juli) vom Fachbereich für Antike Literatur und Neogräzistik unter der Leitung von Jürgen Werner (*1931) aus (s. Dokument). Weshalb die Erledigung des von der Leipziger Stadtleitung der SED unterstützten Antrages auf Verleihung des Ehrendoktorats an Jannis Ritsos mehr als zwei Jahre in Verstoß geriet, ist nicht ganz klar. Deutsche Beamteneigenschaften konnten die DDR stabilisieren, trugen aber doch auch gelegentlich zur Entfremdung zwischen ihren Bürgern und dem Apparat bei. Jürgen Werner urgierte am 7. November 1980 und scheibt an den Wissenschaftlichen Rat seiner Universität: „1979 ließ es sich R. trotz seines Alters (er war damals 70 Jahre alt) und trotz seines angegriffenen Gesundheitszustandes nicht nehmen, in Schirmherrschaftskomitee für die Feierlichkeiten zu Ehren des 30. Jahrestages der DDR mitzuwirken. […] Man kann also sagen, daß R. in Ausbildung, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit unseres FB [Fach-Bereiches] bzw. unserer Sektion eine beachtliche Rolle spielt, ähnlich wie der KMU [Karl-Marx-Universität] – Ehrendoktor Neruda im FB Romanische Literaturen; daß die Bezüge zu R. nicht ganz so eng sind wie die des FB Slawische Literaturen zu den KMU-Ehrendoktor Scholochow, hängt mit dem vergleichsweise jungen Alter und dem geringen Kaderbestand der Neogräzistik an der KMU zusammen. Die KMU, die bereits dem Dichter Neruda und dem Schriftsteller Scholochow die Ehrendoktorwürde verlieh, würde durch einen entsprechenden Akt im Falle Ritsos nicht nur diesen bedeutenden und berühmten griechischen Dichter ehren, sondern auch sich selbst. Es wäre bedauerlich, wenn der kommunistische Poet R. nur Ehrendoktor von zwei Universitäten kapitalistische Länder (Birmingham, Saloniki) wäre bzw. bliebe und nicht auch Ehrendoktor der sozialistischen KMU würde, der einzigen Universität der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft, die über eine sich dem zeitgenössischen Griechenland widmende Institution verfügt. Die Auszeichnung könnte anläßlich des nächsten Festivals des politischen Liedes vorgenommen werden, an dem R. auf Einladung der FDJ [Freien Deutschen Jugend] teilnehmen wird, da bei dieser Gelegenheit eines seiner Werke aufgeführt wird. Das MfAA [Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten] unterstützt diesen Antrag und wird dies gesondert mitteilen“.[24] Der Leiter der Abteilung Westeuropa im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR Herbert Plaschke (1929–2010) schreibt dazu dem Wissenschaftlichen Rat der KMU: „Bei der Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen dem Volk der DDR und dem griechischen Volk spielt das Werk von Jannis Ritsos eine beachtliche Rolle. Seine in der DDR veröffentlichten Lyrikpublikationen trugen dazu bei, bei den Bürgern unseres Staates Hochachtung für den opferreichen Kampf der griechischen Kommunisten und Demokraten zu wecken, den Gedanken der Solidarität zu festigen und zu aktivem internationalistischen Engagement zu veranlassen. […] Die Verleihung des ‚doctor honoris causa‘ an den weltberühmten Poeten und Friedenskämpfer durch die Karl-Marx-Universität Leipzig wäre eine politisch demonstrative Würdigung seines Lebenswerkes, die dem internationalen Ansehen des Dichters gerecht wird und zugleich einen Beitrag zur Weiterentwicklung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und Griechenland darstellt“.[25]

Der Ministerrat der DDR erteilte durch seinen Minister für Hoch- und Fachschulwesen Hans-Joachim Böhme (1931–1995) unterm 3. Dezember 1982 die erforderliche Zustimmung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die KMU an Jannis Ritsos. Am 21. Mai 1984 erfolgte die Verleihung in einem universitären Festakt in seiner Anwesenheit. 

Dokument

Der Fachbereich für Antike Literatur und Neogräzistik der Karl- Marx-Universität in Leipzig unter der Leitung von Jürgen Werner (*1931) stellt an den Direktor der Sektion Germanistik und Literatur derselben Universität Willi Beitz (1930.2020) den Antrag auf die Verleihung der Ehrendoktorwürde von Jannis Ritsos (1909–1990).

Original. Maschineschrift. Eigenhändige Unterschrift von Jürgen Werner. Bundesarchiv Berlin.

Am 1. 5. 79 wird der griechische Dichter Jannis Ritsos 80 Jahre alt. Ich bitte zu prüfen, ob es möglich ist, ihm aus diesem Anlass die Ehrendoktorwürde der KMU [d. i. Karl-Marx-Universität] zu verleihen.

R. veröffentlichte seit 1934 rund 40 Werke, die ihn insgesamt weltberühmt machten. Besonders bekannt sind der Zyklus „Epithaphios“, der Trauergesang einer Frau, deren Sohn bei einem Streik von der Polizei des Diktators Metaxas[26] getötet wurde (1936), und das Gedicht „Der Mann mit der Nelke“, das dem 1952 von der griechischen Reaktion ermordeten Arbeiterführer Belogiannis[27] gewidmet ist. R. erschloß der griechischen Dichtung neue Wirklichkeitsbereiche, so den der Technik in dem Band „Traktor“ (1934), in dem er den sozialistischen Aufbau in der UdSSR besang.

Als Mensch und als Künstler politisch engagiert, schloß sich R. 1931 der kommunistischen Bewegung an. Auf dem 10. Parteitag der KPG [Kommunistischen Partei Griechenlands] im Mai 1978 trug er ein von ihm dem Parteitag gewidmetes Gedicht vor, in dem es heißt: „Ich bin ein Sohn Griechenlands, ein Sohn der Kommunistischen Partei … Das beste Lied, das wir singen, ist: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘“ (ND 23. 5. 78). R. ist Präsident der 1975 neugegründeten Freundschaftsgesellschaft Griechenlands – UdSSR. Nach dem Bürgerkrieg (1948 ff.) und unter der militärfaschistischen Junta mehrfach verhaftet und von einem KZ [Konzentratationslager] ins andere verschleppt, blieb er stets seiner Überzeugung treu, setzte er ungebrochen sein parteiliches literarisches Schaffen fort. Viele seiner Gedichte wurden zur Waffe im Kampf des griechischen Volkes gegen seine in- und ausländischen Unterdrücker.

Der Internationalist R. gab Werke von Majakowski[28], Ehrenburg[29], Hikmet[30] u. a. heraus, ferner Anthologien rumänischer, tschechischer und slowakischer Dichtung.

R. gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dichtern. Seine Werke wurden bisher in etwa 20 Sprachen übersetzt. Auch in unserer Republik erschienen viele seiner Gedichte in Übersetzung. 1979 wird ein neue R.-Band herauskommen.

Für sein umfangreiches, vielseitiges, folgenreiches Schaffen erhielt R. zahlreiche Ehrungen im In- und Ausland: den Leninfriedenspreis (1977), Literaturpreise, die Ehrendoktorwürde von Saloniki, die Mitgliedschaft in Akademien.

Die KMU, die bereits den Dichter Neruda[31] und dem Schriftsteller Scholochow[32] die Ehrendoktorwürde verlieh, würde durch einen entsprechenden Akt im Falle J. Ritsos nicht nur diesen griechischen Dichter, sondern auch sich selbst ehren.

Werner m. p.

Prof. Dr. sc. J Werner

FB-Leiter. 


[1] Jannis Ritsos: Gedichte. Ausgewählt, aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Peter Wedekind. Bibliothek Suhrkamp. Suhrkamp Verlag Berlin 1991, S. 20.

[2] Zur Erstinformation: Giannis Ritsos – Wikipedia; auch Giannis Ritsos (hellenicaworld​.com); Veröffentlichungen finden sich im Karlsruher Viruteller Katalog – Google Suche bzw. ΠΟΙΗΜΑΤΑ, ΤΟΜΟΣ Α‘ (1930–1942 ΓΙΑΝΝΗΣ ΡΙΤΣΟΣ) – Τόμοι – Εκδόσεις ΚΕΔΡΟΣ – Ηλεκτρονικό βιβλιοπωλείο – Βιβλια για όλους (kedros​.gr) 

[3] Neues Deutschland vom 2. August 1958.

[4] Jannis Ritsos: Gedichte. Aus dem Neugriechischen von Vagelis Tsakiridis. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1968, S. 35–40, hier S. 35.

[5] Jannis Ritsos: Steine Knochen Wurzeln. Essays und Interviews. Gustav Kiepenheuer Bücherei 93. Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1989, S. 14f f.

[6] Ebenda, S. 146.

[7] Epitaph. Zitiert nach Jannis Ritsos: Milos geschleift. Poeme und Gedichte. Carl Hanser Verlag München 1979, S. 58–72 (Deutsch von Heinz Czechowski).

[8] Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou (Hg.): Die Okkupation Griechenlands im zweiten Weltkrieg. Böhlau Verlag Köln / Wien / Weimar 2015. Dort die mit ahistorischem Blick auf die DDR (Ritsos passe „nicht in die in der DDR offiziell verbreitete Konzeption von Geschichte als Sieg und Befreiung“) orientierte Studie von Maria Biza: Übersetzte Zyklen von Jannis Ritsos. Ein Beitrag zum deutschen Gedächtnis an Okkupation und Widerstand, S. 453–466 (Zitat, S. 460). 

[9] Guter Überblick über die politische Geschichte Griechenlands von Michalis Adamidis in: Walter Markov, Alfred Anderle, Ernst Werner, Herbert Wurche (Hg): Weltgeschichte, Band 1. VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 2. Durchgesehene Auflage 1981, hier S. 390 – 394. 

[10] Cläre Einhorn. Wie A. 3.

[11] Hartmut König: Der griechische Riese und die DDR. Zum Tod von Mikis Theodorakis. RotFuchs Oktober 2021, S. 12 f.

[12] Zitiert u. a. in Poesiealbum 195. Jannis Ritsos, Verlag Neues Leben, Berlin 1983, innere Umschlagseite vorne.

[13] Zitiert u. a. in Poesiealbum 195. Jannis Ritsos. Verlag Neues Leben, Berlin 1983, innere Umschlagseite vorne.

[14] Poesiealbum wie A. 5 

[15] Jannis Ritsos: Steine Knochen Wurzeln. Wie A. 5.

[16] Berliner Zeitung vom 2. Mai 1989.

[17] Neues Deutschland vom 22. Mai 1989.

[18] Bruno Frei: Unklassisches Griechenland. Die Weltbühne vom 3. August 1966, S. 965–972, hier S. 972; über Bruno Frei s. Gerhard Oberkofler: Mit dem österreichischen jüdischen Marxisten Bruno Frei unterwegs im 20. Jahrhundert. trafo Verlag Berlin 2024. 

[19] Ritsos, Gedichte, wie A. 1, S. 35. 

[20] Vgl. Lexikon der Antike. Hg. von Johannes Irmscher in Zusammenarbeit mit Renate Johne. VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1986 (Sonderausgabe für den Gondrom Verlag Bindlach 8. A. 1987). 

[21] Karl Marx / Friedrich Engels: Ergänzungsband. Schriften. Manuskripte. Briefe bis 1844. Erster Teil. Dietz Verlag Berlin 1981; vgl. Nikolaj Ivanovič Lapin: Der junge Marx. Dietz Verlag Berlin 1974.

[22] MEW 20 (1973), S. 583.

[23] Gerhard Oberkofler: Mit Pablo Neruda zur Kultur der Befreiung und des Friedens – Zeitung der Arbeit

[24] Bundesarchiv Berlin. Für freundliche Recherchen und Kopien danke ich Frau Dipl. Archivarin Brigitte Fischer (Berlin)!

[25] Wie A. 24.

[26] Ioannis Metaxas (1871–1941)

[27] Nikos Belogiannis (1915–1952)

[28] Wladimir W. Majakowski (1893–1930)

[29] Ilja G. Ehrenburg (1891–1967)

[30] Nâzim Hikmet (1902–1963)

[31] Pablo Neruda (1904–1973)

[32] Michail A. Scholochow (1905–1984)

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