Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., ist Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Zu einer neuen Biografie von Benedikt XVI.
Über Benedikt XVI. ist jetzt eine 1150 (!) Seiten starke Biografie von Peter Seewald publiziert worden (Droemer Verlag). Der Autor hat viele Jahre mit Joseph Ratzinger Gespräche geführt und über ihn veröffentlicht, er hat seine Biografie im Einvernehmen mit ihm und mit Erzbischof Georg Gänswein geschrieben, weshalb sie als autorisiert zu gelten hat. Das Buch lässt sich gut blättern und lesen, es ist gekonnt geschrieben. Es zeigt, wie die gesellschaftlichen Bedingungen von Westdeutschland solche Persönlichkeiten wie Ratzinger groß haben werden lassen. Dem 1948 katholisch geweihten Priester Ratzinger eröffnete sich schon bald eine Professorenlaufbahn, zuerst in Freising, dann über Bonn, Münster, Tübingen nach Regensburg. In diesen typisch deutschen Universitätsstädten verinnerlichte er deren strikte Hierarchien und Riten. Seit 1977 war Ratzinger bis zum Wechsel nach Rom (1982) Erzbischof von München und Freising. Die von der westdeutschen Kirche offensiv vertretene Vatikanpolitik war bis zum Amtsantritt von Johannes XXIII. 1958 (bis 1963) geprägt vom Einvernehmen mit der „Trumandoktrin“. Kardinal Francis Spellman hat 1947 dazu erklärt: „Der Kommunismus ist der Feind aller Menschen, welche an Gott und an Amerika glauben“.
Petersdom
In der Hauptstadt Yamoussoukro der 1960 von Frankreich unabhängig gewordenen Republik Côte d’Ivoire steht der im September 1990 von Papst Johannes Paul II. eingeweihte „Petersdom“ von Afrika. Diese aus italienischen Marmor erbaute afrikanische monströse Kathedrale mit dem Namen Notre-Dame-de-la-Paix ist ein Symbol für die von korrupten afrikanischen Netzwerken stabilisierte Kontinuität imperialistischer Kolonialherrschaft, er ist ein Symbol der „Zivilisation der Reichen“. Das Kreuz tragen die Massen von Kindersklaven, die auf den riesigen Kakaoplantagen Westafrikas oder in den Bergwerken des Kongos schuften und vergiftet werden. Ist aber nicht auch der Petersdom in Rom mit dem Blut der Neuchristen in Lateinamerika bezahlt worden? Nicht dort, sondern in der Katakombenbasilika haben sich während des II. Vatikanischen Konzils eine Gruppe von Bischöfen, zu denen der Initiator von Basisgemeinden in Brasilien Hélder Pessoa Câmara gehörte, getroffen und sich zum Dienst an den Armen verpflichtet. Davon ist im Benedikt-Buch nirgends die Rede, wohl aber von seinem nützlichen Engagement an der Seite von Kardinal Josef Frings für die zeitgemäße Anpassung der an die „Erste Welt“ gebundenen katholischen Herrschaftsstrukturen.
Der polnische Kardinal Karol Józef Wojtyla war seit 1978 als Johannes Paul II. bis zu seinem Ableben am 2. April 2005 Oberhaupt der Katholischen Kirche. Johannes Paul II. hat im Kommunismus, unter dessen Fahnen seine Heimat von den deutschen Faschisten befreit worden ist, den Feind aller Menschen gesehen. Zur Festigung dieses Feindbildes in der Weltkirche hat er sich 1982 den deutschen Kardinal Joseph Ratzinger nach Rom geholt und zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre ernannt. Ratzinger wurde im Konklave vom 18. / 19. April 2005 von der Mehrheit der Anwesenden zum Papst gewählt. Er gab sich den Namen Benedikt XVI. und als solcher ist er am 28. Februar 2013 zurückgetreten. Ihm folgte der lateinamerikanische Jesuit und Kardinal Jorge Mario Bergoglio als Papst Franziskus.
Ratzinger hat für Johannes Paul II. ein pompöse Begräbnismesse im Petersdom zelebriert. Auf mehreren Seiten berichtet die Biografie darüber und wie daran neben den Kardinälen Kanzler und Monarchen, Staats- und Kirchenoberhäupter teilgenommen haben. „Mit Ausnahme Chinas“ haben Fernsehsender aus der ganzen Welt die Bilder übertragen. Von den „Mächtigen der Welt“ nennt das Benediktbuch namentlich Georg Bush sen., Georg Bush jun. und Bill Clinton. Diese drei US-Kriegspräsidenten wussten, was die von Johannes Paul II. autoritär geführte und ergänzte Vatikanhierarchie mit ihrer Ideologie für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des von ihnen vertreten imperialistischen Systems geleistet hat, sei es bei ihren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, sei es bei verdeckten Kommandoaktionen besonders in Lateinamerika oder bei der Unterwanderung der sozialistischen Länder. Die Vatikanhierarchie mit Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger haben die modernen informellen Kriege vorbereitet.
Verurteilung der Befreiungstheologie
Die Ermordung des Erzbischofs von San Salvador Óscar Romero am 24. März 1980 ist für Ratzinger Anlass, die Irritation der Vatikanhierarchie durch die Befreiungstheologie anzusprechen: „In Osteuropa stand die Kirche an der Seite einer Aufstandsbewegung, die sich von kommunistischer Herrschaft zu befreien suchte. Doch während die Bevölkerung von Polen und anderer Länder das Joch des Marxismus abschütteln wollte, tauchten die kommunistischen Parolen nun bei Priestern und Bischöfen in Südamerika auf“. Romero hat 1979 im Gedenken an die drei ermordeten Priester Octavio Ortíz, Rafael Palacios und Alirio Macías, die in der Dialektik von Reich und Arm für die Armen Partei genommen haben, festgestellt: „Man tötet den, der stört“. Ratzinger mobilisierte ideologisch gegen die „Störenfriede“. Beim Begräbnis von Romero waren weder Johannes Paul II. noch Ratzinger noch ein US-Präsident anwesend, aber es wurde von einem Massaker am Platz vor der Kathedrale begleitet, das die Anhänger Romeros nochmals eindringlich warnte, den Weg von Romero fortzusetzen Am 6. August 1984 unterschrieb Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation die „Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung“, welche mit dem Marxismusvorwurf Theologen verurteilt, welche die Botschaft des Evangeliums nicht allein auf die „Erlösung“ im Jenseits reduzieren wollten, sondern den christlichen Geist mit dem Prinzip der „Befreiung“ der Menschen in der Wirklichkeit der Welt verbinden und darnach handeln. Dass dieses Handeln unter bestimmten historischen Gegebenheiten befreiende Gewalt sein muss, entspricht historischer Realität. Während bei den auch vom Jesuiten Karl Rahner beeinflussten Befreiungstheologen die vielen Millionen Opfer, die Armen, die Unterdrückten im Zentrum ihrer Perspektiven stehen, hat Ratzinger in klerikaler Selbstbezogenheit die Interessen der auserwählten „Mächtigen“ theologisch gerechtfertigt und deren Gegner häretischer Abweichungen beschuldigt. Die „Option für die Armen“ falle, so Ratzinger, mit der Option für den Klassenkampf zusammen. Der Fundamentaltheologe Ratzinger will weismachen, dass dem Gegensatz von Reich und Arm keine Dialektik innewohnt, sondern der Menschheit fundamental ist und von Gott selbst geschaffen ist. Es ist also gewiss kein Versehen von Ratzinger und seinem autorisierten Schreiber, dass an das Datum 16. November 1989 nirgends erinnert wird. An diesem Tag wurden in El Salvador die sechs Jesuiten Ignacio Ellacuría, Ignacio Martín-Baró, Segundo Montes, Amando López, Juan Ramón Moreno und Joaquín López y López von einem von den USA ausgebildeten Armeekommando ermordet. Mit ihnen wurden die anwesende Köchin Julia Elba Ramos und ihre Tochter Celina ermordet. Jon Sobrino SJ, Mitbruder in dieser Jesuitenkommunität, war nicht anwesend gewesen. Ihm, dem Überlebenden dieses Massakers, der als Nachfolger des historischen Jesu in seinem Handeln und in seinen Schriften sich für die Armen und Opfer dieser Welt engagiert und weiter „stört“, warf Ratzinger als Glaubenspräfekt und dann als Benedikt XVI. anhaltend vor, seine Christologie entspreche nicht der kirchlichen Lehrmeinung. Weder Sobrino SJ noch Ellacuría SJ noch der Generalobere des Jesuitenordens Pedro Aruppe SJ, der Hiroshima erlebt und seinen Orden zur Anteilnahme für die Opfer der Welt hingeführt hat, werden in dem Benedikt-Buch genannt. Dagegen wird seitenlang über innerkirchliche Debatten von Ratzinger mit dem nicht minder eitlen, aber in vielen Dingen offeneren Hans Küng berichtet. Ratzingers „Bewältigung des Konflikts um die Befreiungstheologie“ wird in dem Benedikt-Buch als einer seiner bedeutendsten Leistungen dargestellt – festgemacht an dem von Johannes Paul II. persönlich erniedrigten Ernesto Cardenal und an dem mit „Bußschweigen“ bestraften Leonard Boff. Letzterer hat sich in der neuen Nummer von „Concilium“ über „Klerikale Männlichkeiten und das Paradigma der Relationalität“ zu Wort gemeldet, ermuntert wohl von Papst Franziskus, der das „Übel des Klerikalismus“ wiederholt anprangert.
„Streck deine Hand auch dem Armen entgegen“
Das Buch Jesus Sirach kennt die Weisheit: „Streck deine Hand auch dem Armen entgegen, damit dein Segen vollkommen sei“ (7,32). Johannes Paul II. und Ratzinger werden diese Weisheit kennen, die von Papst Franziskus zum 4. Welttag der Armen (2020) in Erinnerung gerufen wird. Sie aber strecken die Hand nicht den Armen hin, sondern jenen Ratten, die sich an die Seite der Reichen stellen und dafür die Zukunft ganzer Völker opfern. Michail Gorbatschow lässt am 20. Februar 1988 den Chor der Roten Armee im Vatikan vor Johannes Paul II. das „Ave Maria“ singen. Was für eine bewusste Erniedrigung der Roten Armee durch den damaligen Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion! Mit Maria, die im christlichen Glauben als Mutter von Jesu verehrt wird, hat die katholische Kirche seit 1917 die weltgeschichtliche Sendung der Auslöschung des gottlosen Kommunismus verbunden. Halluzinatorische Eindrücke von Kindern im portugiesischen Fatima waren willkommen, um ein eigenes antikommunistisches Propagandazentrum auf dem Hintergrund verführerischer Mystik zu gründen. Im Apparat der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hat es viele Gorbatschows gegeben, vom Westen gefüttert oder nicht. Die Gorbatschows waren keine „Beginner“, sondern Persönlichkeiten, deren käuflicher Charakter zum Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung werden konnte, weil die gesellschaftlichen Beziehungen das zugelassen haben. Gorbatschow hat im Vatikan hinterlegen lassen, dass er so wie Außenminister Edward Schewardnadse heimlich getauft ist. Als Generalsekretär der KPdSU hat er noch die solidarische Hilfe der Sowjetunion für Kuba eingestellt, was der Kirche sehr genützt habe, weil, wie Benedikt XVI. unterstellt, die marxistisch orientierten Befreiungstheologen ihre finanzielle Unterstützung verloren hätten.
Hat Benedikt XVI. den Horizont eines Deutschen verlassen?
Benedikt hat von Jugend an viel gelesen. Mit seiner großen Erfahrung weiß er, wie mit einem aus dem Zusammenhang genommenen Zitat die eigene Auffassung an Gewicht gewinnt. Von Karl Marx, der von Frau und Kindern und auch von Friedrich Engels immer als „Mohr“ angeredet wurde, bringt das Benedikt-Buch dessen 1862 in einer außerordentlichen Notlage geschriebenen Brief an Friedrich Engels, in dem Ferdinand Lassalle wegen seines Verhaltens und Aussehens als „jüdischer Nigger“ charakterisiert wird. Das gute Buch des Jesuiten Jean-Yves Calvez über Marx, der sehr bissig sein konnte, wird Ratzinger nicht angelesen haben, dort wird inhaltlich erörtert, weshalb es zum Zerwürfnis von Marx mit Lassalle gekommen ist. Mit dem „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch in Tübingen konnte Ratzinger gar nichts anfangen. Bloch habe sogar für die Säuberungen Stalins positive Argumente gefunden, während ihm „der Terror und die Not vor Augen standen, die mit der Epoche der atheistischen Staaten in die Welt gekommen war“. Große Anstrengung unternimmt Ratzinger, um den philosophischen Pantheismus von Albert Einstein für seine Religion nutzbringend zu verwerten. Dabei bezeichnet Ratzinger Einstein als „Deutschen“, der noch dazu in seinem München aufgewachsen ist. In einem Brief an seinen Zürcher Freund Heinrich Zangger hat Einstein einmal gemeint, die Deutschen hätten „etwas Unoffenes, Raffiniertes“. Den von Ratzinger als „Massenmörder“ bezeichneten Lenin hat Einstein für die Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches zu Berlin als einen Mann verehrt, „der seine ganze Kraft unter völliger Aufopferung seiner Person für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt hat. Seine Methode halte ich nicht für zweckmäßig. Aber eines ist sicher: Männer wie er sind die Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit.“
Ratzinger hat viel gelesen, nicht nur theologische Literatur. Zu seinen Lieblingsschriftstellern gehören moralisierende Poeten der Vergangenheit wie Hermann Hesse. Der hat 1954 ausgedrückt, was ihn von Marx unterscheide: „Marx will die Welt ändern, ich aber den einzelnen Menschen. Er wendet sich an Massen, ich an Individuen…“. Ja, so denkt Ratzinger, was die Kluft zu Papst Franziskus auftut, der in vielen Stellungnahmen Kritik am Individualismus übt: „Sei heilig, indem du für das Gemeinwohl kämpft und auf deine persönlichen Interessen verzichtest“. Franz Kafka ist Ratzinger auch begegnet. Gerade Kafka hat das von Ratzinger gelebte Verhalten von Deutschen gut gekannt und treffend charakterisiert: „Die Deutschen wollen nicht erkennen, begreifen, lesen. Die wollen nur besitzen und regieren, und da ist gewöhnlich das Begreifen nur ein Hindernis. Man unterdrückt den Nächsten doch viel besser, wenn man ihn nicht kennt. Es entfallen die Gewissensbisse“.
Im Ergebnis erhellt dieses Benedikt-Buch gerade auch mit der Fülle von völlig irrelevanten privaten Details, dass Johannes Paul II. und sein ihm als Benedikt XVI. nachfolgender Glaubenspräfekt Joseph Ratzinger nicht in die Zukunft der Menschheit gedacht haben. Es hat ihnen beiden an Mitgefühl, an Empathie und Liebe für die Unterdrückten, für die Armen und Opfer von militärischen und wirtschaftlichen Kriegen gefehlt. Was für ein Unterschied zu Papst Franziskus, der nicht mit Notifikationen evangelisieren will, sondern mit dem, was er sagt, und was er tut!