Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Vorbemerkung
Der kommunistische, wiederholt in Konzentrationslagern inhaftierte und zeitlebens ungebrochen gebliebene Kämpfer für eine solidarische Gesellschaft Jannis Ritsos (1909–1990) hat 1968 seine authentischen Erfahrungen in einem Satz ausgedrückt: „Leben, – eine Wunde im Nichtsein“.[1] Jannis Ritsos wird die völkermörderischen Massaker der Deutschen im zweiten Weltkrieg in Erinnerung haben, die sich im Jetzt durch die Israelis in Palästina wiederholen, er wird an die in der Welt des Kapitals vor Hunger schreienden und wimmernden Kinder gedacht haben. „Denk Dir: ein Mädchen, 8 Jahre, mager wie ein 3jähriges, sitzt im Türkensitz auf einem Stühlchen, die Arme sind ihm hinten auf der Stuhllehne festgebunden, weil es sich sonst schlimme Wunden beibringt (eine Kranke verletzte sich derart die Augen, dass sie blind wurde!) – da sitzt das Kind Tag um Tag!“ schreibt Luise Rinser (1911–2002) nach einem Besuch in einer Münchener „Irrenanstalt“ im August 1964 an Karl Rahner (1904–1984), der die Hoffnung des Menschen auf seine eigene Auferstehung mit der Hoffnung der angenommenen Auferstehung des Messias Jesus verknüpft.[2] Aber wer sagt zu diesem gefesselten Mädchen „Talita kum!“, was übersetzt heißt: „Mädchen, ich sage dir steh auf!“.[3] Die vierte Enzyklika (24. Oktober 2024) „Dilexit nos“ des wegen seines tagtäglichen Einsatzes für die Menschenrechte von den auch in der Katholischen Kirche sitzenden Agenten des global nach Hegemonie strebenden Imperialismus diskriminierten Papstes Franziskus (*1936) handelt von der in den vier Evangelien des Neuen Testaments überlieferten Liebe von Jesu Christi und schlägt vor, dass sich jeder Einzelne die Frage stellen sollte (Pkt. 8): „wer bin ich wirklich, was suche ich, welchen Sinn will ich meinem Leben, meinen Entscheidungen oder meinen Handlungen geben; warum und wozu bin ich auf dieser Welt, wie will ich mein Leben bewerten, wenn es zu Ende geht, welchen Sinn will ich allem, was ich erlebe, geben, wer will ich vor den anderen sein, wer bin ich vor Gott. Diese Fragen führen mich zu meinem Herzen“.[4]
Nach der Implosion der sozialistischen Länder in Europa und der Machtergreifung der konterrevolutionären Kräfte in Rumänien, die ihren Sieg mit der Ermordung des aus einer armen Bauernfamilie mit zehn Kindern stammende Nicolae Ceauşescu (1918–1989) und seiner Frau Elena Ceauşescu (1916–1989) am 25. Dezember 1989 zelebrierte, brach das von der Rumänischen Volksrepublik (1945) bzw. Sozialistischen Republik Rumänien (1965) aufgebaute Gefüge kollektiver gesellschaftlichen Einrichtungen zusammen.[5] Eine kleine, von der Gier nach persönlichem Reichtum auf Kosten der Armen angetriebene korrupte Clique ergriff im neuen Rumänien, dem geopolitisch schon von Großdeutschland im Aufmarsch gegen den Osten eine wichtige Rolle beigemessen wurde, die Macht über die gesetzgebenden Körperschaften. In dieser ökonomischen Diktatur erhielten die Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Kinder wieder die Freiheit, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, notabene in ganz Europa. Als besondere Ware gelten die als Diebe oder zur Prostitution gezwungenen rumänischen Kinder, die überall in Europa, das von seinen christlichen Werten fabuliert, aufgegriffen werden. Begleitet wurde und wird die kapitalistische Neuordnung in Rumänien wie überall von den vom Kapital gekauften Medien mit ihrer willigen Journaille.
Elijah und die Raben
Hilfsaktionen aus Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, die sich die Deutsche Demokratische Republik angeeignet hat, machten sich zu Beginn der 1990er Jahre auf den Weg in das neue Rumänien, das 2007 in das Aggressionsbündnis NATO aufgenommen wurde.[6] Das berührende, im Oktober dieses Jahres nach einem Konzept von Nora Schoeller (*1948) redigierte und veröffentlichte, von Alfred Fogorassy (*1942) unter Mitarbeit von Ruth Zenkert (*1962 in Schwäbisch Hall) und Pater Georg Sporschill SJ (*1946 in Feldkirch) herausgegebene Buch „Moise. Mein Freund“[7] beginnt mit einer Bemerkung, die Ressentiments gegenüber der zeitnahen Geschichte Rumäniens widerspiegelt (S. 7):
„> Sun tun tănar bagabond, bagabond, şi trăiesc dintre amoruri, amoruri…<, singt Moise. Ich bin ein junge Bagabund, Bagabund, und ich lebe zwischen den Geliebten. Weil er das Hauptwort nicht versteht, ist aus dem Vagabunden eben in Bagabund geworden. Der kleine Bagabund war zehn Jahre alt und lebte am Bahnhof in Bukarest, unter Tausenden Kindern, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus den Kinderheimen Ceauşescus weggelaufen waren. Wie alle anderen rauchte Moise, schnüffelte Autolack und schlug sich durch mit Betteln und Stehlen. Alles war besser als die Hölle im Kinderheim“.
In der Mitte dieses Buches (S. 53) wird nochmals über „Die Kinder des Ceauşescu-Regimes“ resümiert:
„Als Moise 44 Jahre alt war, unternahmen wir mit ihm eine Zeitreise, zurück in seiner Kindheit, in das Dorf seiner Eltern, wo nur Roma-Familien leben. Moise war nach der Geburt vom Krankenhaus nicht nachhause, sondern direkt in ein staatliches Kinderheim gekommen. Vor dem Haus der Familie sahen wir den Baum, an dem sich Moises Vater erhängt hatte, nachdem er seine Frau ermordet hatte. Dann besuchten wir das Kinderheim aus der Ceauşescu-Zeit, ein ehemaliges, nun verstaatlichtes Schloss. Moise war wie viele anderen Kinder dorr gequält worden und weggelaufen. Mit dem Zug fuhr er bis zur Endstation am Nordbahnhof in Bukarest, wo viele aus den Heimen entlaufene Kinder herumstreunten. So begann das Leben auf der Straße, mit Betteln, im Kanal, bei der Blumenfrau und zum ersten Mal bei Concordia, auf der Farm für Kinder Dann wieder Krisen, Drogen und Diebstähle und schließlich Gefängnis“.
Im sozialistischen Staat Rumänien war die Gleichberechtigung der dort wohnenden Menschen unabhängig von ihrer rassischen und nationalen Zugehörigkeit oder von ihrem religiösen Bekenntnis Norm. Randständige Schichten wie Roma und Sinti konnten mit Regelversorgung rechnen, ohne hungern oder betteln zu müssen. Alleingelassene Kinder wurden in den staatlichen Kinderheimen ohne Drehtüren aufgenommen, erhielten eine suffiziente Ausbildung zur Selbstverantwortung und waren nicht allein gelassen. Im Bericht des Zentralkomitees der Rumänischen Kommunistischen Partei von 1965 wird die Schule als Hauptquelle der Kultur und als Hauptfaktor der Zivilisation definiert. Allen Schülern des verpflichtenden Unterrichts und der Oberschulen wurde die kostenlose Zustellung der Schulbücher gewährleistet.[8]
Natürlich herrschten im sozialistischen Rumänien keine paradiesischen Verhältnisse und waren diese überall sehr stark verbesserungsbedürftig. Die in den sozialistischen Kinderheimen untergebrachten Kinder werden ihre „Hölle“, von der sie erzählen, erlebt haben. Dennoch, sie erlebten eine von „Ceauşescu – System“ nicht angeordnete Gewalt. Österreicher dürfen sich in einem solchen Kontext an die zum Beispiel in Kaiserebersdorf in einem „Schloss“ untergebrachten Kinder und Jugendlichen erinnern, die nicht nur während der deutschen Besetzung, sondern schon davor während des Austrofaschismus und dann im befreiten Österreich ihre vom System angeordnete „Hölle“ erlebten (bis 1974).[9] Die österreichische Kommunistin und Widerstandskämpferin Selma Steinmetz (1907–1979) klagt noch in den 1970er Jahren in ihrem Artikel über „Die Verfolgung der burgenländischen Zigeuner“, dass es in Österreich den Zigeunern gegenüber in gleicher Weise wie gegenüber anderen Minderheiten an „Objektivität fehlt“: „Juden und Zigeuner wurden und werden auch heute noch vielfach verachtet und diskriminiert“.[10]
Am Vorabend der Synodenversammlung am 1. Oktober 2024 hat Papst Franziskus im Petersdom in Kenntnisnahme der von vielen, vielen Priester in katholischen Kinder- und Jugendheimen missbrauchten Kinder ein großes „Mea Culpa“ ausgesprochen.[11] Eine von der deutschen Kulturnation angeordnete besonders perfide „Hölle“ erlebten die ihren Eltern weggenommenen polnischen Kinder. Die Deutschen errichteten für polnische Kinder faschistische Straflager und töteten massenweise polnische Kinder und Jugendliche.[12] Deutsche töteten jüdische Kinder gleichermaßen wie im Jetzt die Israelis als „Vergeltung“ palästinensische Kinder systematisch ermorden, um ihr völkerrechtswidriges Ziel, ein Großisrael zu errichten, abzusichern.
Ruth Zenkert und Pater Georg Sporschill SJ haben ab 1991 gemeinsam begonnen, in den postsozialistischen Republiken Rumänien, Moldawien und Bulgarien Concordia-Sozialprojekte für obdachlose Straßenkinder, die es in den vormals sozialistischen Ländern aufgrund der Kollektivbeziehungen so nicht gegebenen hat, aufzubauen. Die christlich denkende deutsche Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) hat zur selben Zeit, also nach dem Triumph des Imperialismus in Europa, Lateinamerika besucht und dort die „Hölle“ gesehen. Allein in Brasilien, schreibt Dorothee Sölle, leben sieben Millionen Straßenkinder mit keinen oder nur noch schwachen Beziehungen zu ihren Eltern. Im weiteren Sinne würden tatsächlich fünfundzwanzig Millionen Kinder und Jugendliche in Brasilien auf der Straße leben, sich dort versorgen, irgendwie arbeiten, lernen, schlafen, stehlen, sich prostituieren oder ermordet werden. Dorothee Sölle erinnert bei dieser Gelegenheit an die vielen lateinamerikanischen Zeugen und Propheten der Theologie der Befreiung, die mit ihren antiimperialistischen Akzenten religiöse Impulse zum revolutionären Handeln der Unterdrückten für ihre Befreiung setzten. Insbesondere dachte Dorothee Sölle an den ermordeten Erzbischof Óscar Romero (1917–1980)[13] und an die am 16. November 1989 in der Jesuitenkommunität von El Salvador von einem von der US-Democracy ferngesteuerten Armeekommando ermordeten, als kommunistische Agitatoren geltenden sechs Jesuitenpatres.[14] Noam Chomsky (*1928) stellt fest, dass es für den heute als pragmatisch geltende US-Präsidenten wie Bill Clinton (*1946) dann keine Kompromissbereitschaft gegeben hat, „wenn es um so unwesentliche Dinge wie ein paar Millionen Menschen geht“.[15]
Dass in den vom globalen Imperialismus und dem Big Business geknechteten Ländern trotz vieler karitativer Aktionen nichts wirklich besser wird, bekunden die dramatischen Berichte des von Pater Martin Maier SJ (*1960) geleiteten Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat über die Armen. Javier Milei (*1970) hat Papst Franziskus als Kommunisten und Anwalt des Bösen bezeichnet, weil dieser Partei für die Armen mit ihren hungernden Kindern nimmt.[16] Weltweit müssen Kinder die Rolle von „Zigeunerkindern“ einnehmen, in Haiti werden sie als „Restaveks“ bezeichnet. Damit sind über 300.000 haitianische Kinder aus ärmsten Familien gemeint, die von ihren Müttern weggegeben werden mussten, um anderswo als Kindersklaven überleben zu können.[17]
2012 gründeten Ruth Zenkert und Georg Sporschill SJ das Sozialprojekt Elijah (elijah.ro). Mit diesem ist Moise herangewachsen und konnte sich bei allen toxischen Belastungen, die einem obdachlosen Straßenkind aus einer Randgruppe chronisch anhaften, etwas stabilisieren. Er wurde mit der Bibel angelernt, mit Jesus von Nazareth zu hoffen und an ein Paradies im Jenseits zu glauben. Meditation kann für Individuen allerdings auch eine Stütze sein, aus der Gesellschaft überhaupt auszutreten, was zum Beispiel die Baghwan-Bewegung deutscher und österreichischer Intellektueller in den 1970er und 1980er Jahren demonstriert hat. Ungebrochen blieb der Stolz von Moise als „Roma“, der sich nicht anpasst: „In Rumänien gibt es zwei Sorten von Menschen: Die Rumänen und die Zigeuner. Ich bin Zigeuner“ (S. 96). Das Projekt Elijah entdeckte und förderte Talente von Moise und ermöglichte ihm zu malen, es entstand eine farbenfrohe, idealistische Hommage auf das Dasein als Straßenkind und auf die ihm vermittelte christliche Religion mit Jesus von Nazareth als Symbol umfassender, rettender Liebe und ist getragen von der Vision eines Paradieses im Jenseits. Für Moise, der sich als Roma immer mit dunklem Gesicht zeichnet, ist diese Liebe realistisch. Eine Zeichnung von Moise bildet ein von Elijah im Dorf Nou bei Hermannstadt gebaute Siedlung ab, „in der jetzt arme Zigeuner mit ihren Kindern leben“ (S. 94).
Elijah ist ein volkstümlicher Prophet und Hoffnungsträger, der gegen den vom israelischen König Ahab (um 865 v. u. Z.) eingeführten Baal-Kult vehement opponiert hat. Elijah wurde in der Wüste, wo er vor Verfolgung Zuflucht gefunden hat, von Raben mit „Brot und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch am Abend“[18] versorgt und am Leben gehalten, dann fuhr er in den Himmel auf. Im nachbiblischen Judentum gilt Elijah als Helfer und Tröster der Armen in Menschengestalt und Bote des Messias.[19] Für Pater Sporschill SJ hat die Bibel die Raben geradezu geadelt, weil sie einem Flüchtling zum Überleben helfen. Martin Luther (1483–1546) habe mit seiner Interpretation eine irreführende, auch biologisch widerlegbare Sichtweise auf Raben popularisiert, weshalb die Raben zu Unrecht als Symbol für „Rabeneltern“ gelten.[20] Mit Pater Sporschill SJ wird die Bibel nicht zu einem möglichen intellektuellen Bildungserlebnis, sondern kann als ein innovatives Lebensbuch zur Hand genommen werden. Judas Iskariot ist nach jüdischer Tradition der im Neuen Testament genannte Verräter Jesu, mit ihm verhaftet sind die aus dem Alten Testament stammenden Motive vom Judas-Kuss und Judas-Lohn als dem Alten Testament entstammend genannt.[21] Für Pater Sporschill SJ wird dieser Judas Iskariot nachvollziehbar zum „Patron der Überforderten“, für ihn selbst „ein Patron der Sozialarbeit.“[22] Im Sozialprojekt von Ruth Zenkert und Pater Georg Sporschill SJ sind die von ihnen betreuten Straßenkinder die aus ganzem Herzen geliebten „Raben“.
Mohr und seine Raben
August Bebel (1840–1913) erinnert sich, wie der in London lebende deutsche Emigrant Karl Marx (1818–1883) „von Frau und Kindern immer Mohr angeredet wurde, als existiere kein anderer Name für ihn. Der kam von seinem pechschwarzen Haupt- und Barthaar, das damals mit Ausnahme des Schnurrbarts, schon weiß leuchtete“.[23] August Bebel war „sehr angenehm überrascht zu sehen, mit welcher Herzlichkeit und Zärtlichkeit Marx, der zu jener Zeit überall als der schlimmste Menschenfeind verschrien war, mit den beiden Enkelkindern zu spielen verstand und mit welcher Liebe diese an dem Großvater hingen“.[24]
Eleanor Aveling-Marx (1855–1898), die jüngste Tochter von Jenny Marx (1814–1881) und Karl Marx, erzählt, dass ihr Vater Mohr für seine Kinder „ein geradezu einziger und unerreichbarer Geschichtenerzähler“ gewesen sei und dabei sie lehrte, denken und zu verstehen. „Und wie er mir“, so Eleanor Aveling-Marx, „die Geschichte des Zimmermannssohnes erzählte, den die Reichen töteten, so einfach und erhaben! Oft und oft hörte ich ihn sagen: >Trotz alledem, wir können dem Christentum viel verzeihen, denn es hat gelehrt, die Kinder zu lieben<“.[25] Das Christentum war in seinem Ursprung für Karl Marx eine Religion von Unterdrückten, der Armen und Rechtlosen. In seinem riesigen wissenschaftlichen Werk hat Karl Marx immer wieder Aussagen und Metaphern aus dem Alten und Neuen Testament verwendet, die für den Dialog zwischen Kommunisten und Christen Grundlage sind. Karl Marx, der mütterlicher- wie väterlicherseits aus Rabbinergeschlechtern abstammt, hat Religion als „Opium des Volkes“ definiert. Der Mensch war ihm nicht ein Geschöpf Gottes, sondern Gott ein Geschöpf des Menschen.[26]
Für die in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Freiheitskämpfer Ilse Korn (1907–1975)[27] und Vilmos Korn (1899–1970)[28] war die Erzählung von Eleanor Aveling-Marx Anstoß, im Kinderbuchverlag Berlin das Märchen „Mohr und die Raben von London“ zu schreiben. Schon die erste Auflage (1961) war in der DDR gleich nach dem Erscheinen vergriffen, es folgten wiederholte Auflagen bis in die Gegenwart herauf, zuletzt im Eulenspiegel Kinderbuchverlag.[29] Für die volkseigene Deutsche Film AG (DEFA) war das Märchen Vorlage, mit Regisseur Helmut Dziuba (1933–2012) den genialen Karl Marx und dessen Menschlichkeit erstmals zu porträtieren.[30] Das Leipziger Theater der Jungen Welt inszenierte 1974 mit Hans-Dieter Schmidt (1926–1988) dieses Märchen auf eine Weise, „dass die jungen Zuschauer den Klassiker als Klassenkämpfer, aber auch als väterlichen Freund der Kinder empfinden ließ“.[31]
Die Erzählung „Mohr und die Raben von London“ lässt teilhaben an der „Rabenbande“, einer randständigen Gruppe von heranwachsenden Kindern, die hilflos und anarchistisch versuchen, gegen die durch verbotene Nachtschichten nochmals verschärfte Versklavung in einer Londoner Baumwollspinnerei zu rebellieren. Marx, der mit seiner Familie zu Anfang der 1850er Jahre selbst in Armut und Not lebte, lernt diese unterschiedlichen „Raben“ kennen und vermittelt ihnen die Bedeutung der mit ihnen aufzubauenden Solidarität in der Arbeiterklasse. Die „Raben“ würden ihre Außenseiterdasein dadurch beenden können. Solche marxistischen Gedanken hat in der Gegenwart der indische Kinderaktivist Kailash Satyarthi (*1954) mit seinem Einsatz für Millionen ausgebeuteter indischer Kinder aufgegriffen. Dieser hat dafür gemeinsam mit der pakistanischen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai (*1997) den Friedensnobelpreis erhalten.[32]
Einen der Londoner „Raben“ namens Joe Kling, der sich „Zeitstiefel“ für eine bessere Zukunft für alle wünschte, hat Mohr, am Ende des Märchens umarmt: „Auch Zeitstiefel gibt es. Ihr werdet sie schon weben lernen, denn kluge und tapfere Menschen erkennen und verkünden, was kommen wird. Auf den Flügeln ihrer kühnen Träume holen sie das Land Morgen und Übermorgen schon in das Heute“.[33]
Zu allen „Rabenkindern“ um Joe Kling sagte Mohr: „Das Land Morgen und Übermorgen ist kein Traumgespinst. Die Menschen werden den Weg in dieses Land finden, so lang und dornenvoll er auch sein mag“.[34] Die Erzählung über „Mohr und die Raben von London“ endet mit einem Märchenlicht: „Als endlich das flammende Banner des Lebens von der >Aurora<, dem Schiff der Morgenräte, am Horizont der Geschichte emporstieg, sahen es seine Kinder, seine Enkel“.[35] Mit Wladimir I. Lenin (1870–1924) ist dieses „Vorwärtsträumen“, wie es Karl Marx seinen Raben vermittelt hat, eine der wichtigsten menschliche Triebkräfte: „Träumen müssen!“[36]
[1] Jannis Ritsos: Gedichte. Ausgewählt, aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Peter Wedekind. Suhrkamp-Verlag Berlin 1991, S. 90. Vgl. Der kommunistische Dichter Jannis Ritsos wird in der DDR als ihr Freund bekannt und erhält in Leipzig die Ehrendoktorwürde der Karl-Marx-Universität – Zeitung der Arbeit
[2] Luise Rinser: Gratwanderung. Briefe der Freundschaft an Karl Rahner. Kösel Verlag München 1994, S. 236; über Rahner hier Jon Sobrino: Der Glaube an Jesus Christus. Grünewald Verlag Ostfildern 2008, hier S. 66.
[3] Markus 5, 41. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH Stuttgart 12. A. 2015, S. 1123.
[4] Dilexit nos (24. Oktober 2024) | Franziskus; Martin Maier: Mit Papst Franziskus Kirche und Welt erneuern. Ignatianische Impulse 102. Echter Verlag Würzburg 2024.
[5] Z. B. Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker: Adolf Hitler. Eine politische Biographie. Militzke Verlag, Leipzig 1990. S. 430 f. und öfters.
[6] Vgl. Daniele Ganser: NATO. Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten Roth. Vorwort von Georg Kreis. Verlag fifty-fifty Frankfurt a. M. 2022; derselbe: Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht. Orell Füssli Verlag Zürich 2020.
[7] Verlag für moderne Kunst. Wien 2024.
[8] Michel- P. Hamelet: Nicolae Ceauşescu. Biographie und ausgewählte Texte. Politischer Verlag Bukarest 1971, S. 152–155.
[9] Kaiserebersdorf (Bundeserziehungsanstalt) – Wien Geschichte Wiki
[10] Selma Steinmetz: Die Verfolgung der burgenländischen Zigeuner. In: In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa. Hg. von Tilman Zülch für die „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Mit einem Vorwort von Ernst Tugendhat. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1979, S. 112–133.
[11] Vor der Synode: Großes „Mea Culpa“ der Kirche – Vatican News
[12] Cesław Pilichowski: Es gibt keine Verjährung. Verlag Interpress, Warszawa 1989.
[13] Martin Maier: Oscar Romero. Prophet einer Kirche der Armen. Herder Verlag, Freiburg / Basel / Wien 2015.
[14] Dorothee Sölle: Gott im Müll. Eine andere Entdeckung Lateinamerikas. Deutscher Taschenbuchverlag 1992, hier S. 28 und S. 113. Vgl. Jon Sobrino: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund. Ignatianische Impulse. Echter Verlag 2007.
[15] Noam Chomsky: Clintons Vision. Übersetzung aus Z‑Magazine von Helmut Richter. Trotzdem Verlag 1994, S. 46.
[16] „Kirche nimmt politische Verantwortung wahr“. Ein Gespräch mit Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Martin Maier SJ. Herder Korrespondenz 2 /2024, S. 17–28.
[17] Z. B. NZZ (1. Juli 2013): https://www.nzz.ch/meinung/foto-tableau/vlad-sokhin-restaveks–kindersklaven-in-haiti-ld.157311
[18] 1 Könige 17,6. Die Bibel. Einheitsübersetzung, S. 360.
[19] Lexikon des Judentums. Chefredakteur John. F. Oppenheimer, New York. Mitherausgeber Emanuel Bin Gorion, Tel Aviv / E. G. Lowenthal, London / Frankfurt A. M. / Hanns G. Reissner, New York. C. Bertelsmann Verlag Gütersloh 1967, Sp. 181.,
[20] Georg Sporschill: In unserer Krippe liegt ein Rabenkind. Menschwerdung in Europa. Wer fordert von uns und gibt uns, was nicht zu kaufen ist? In: Dom9nik Markl (Hg.), elijah & seine Raben. Wie Georg Sporschill die Bibel für das Leben liest. Amalthea Verlag Wien 2. A. 2016, S. 31 f.
[21] Lexikon des Judentums, Sp. 345.
[22] Österreichische Pastoraltagung 2017.
[23] August Bebel: Der Canossagang nach London. In: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels. Dietz Verlag Berlin 1982, S. 441–445, hier S. 445.
[24] Ebenda.
[25] Eleanor Marx-Aveling: Karl Marx. Lose Blätter. Mohr und General, S. 242–251, hier S. 247.
[26] Vgl. zuletzt Kuno Füssel: Marx und die Bibel – Voraussetzungen, Inszenierung und Konsequenzen einer produktiven Begegnung. Edition Exodus. Luzern 2022; präzise Hermann Klenner: Über Marxens Religions- und Rechtskritik. UTOPIE kreativ, H. 84 (Oktober 1997), S- 5–10.
[29] 2. Auflage Berlin 2021.
[30] Neue Zeit vom 30. März 1969.
[31] Berliner Zeitung vom 12. Oktober 1974.
[32] Malala Yousafzai – Wikipedia; Kailash Satyarthi – Wikipedia
[33] Mohr und die Raben von London, S. 476.
[34] Mohr und die Raben von London, S. 478.
[35] Mohr und die Raben von London, S. 478.
[36] Lenin, Was tun? In: Werke 5 (1978), S. 355- 551, hier S. 529 f.