Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., ist Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Arnold Reisberg zum Gedenken*
In der DDR wurde seit 1954 aus Anlass der „Jugendweihe“ 14jährigen Jugendlichen das Sammelwerk „Weltall. Erde. Mensch“ mit nach Hause gegeben. Wissen sollte ihnen die Grundlage beim Aufbau einer neuen Welt sein. Ab der Auflage 1968 war in diesem Werk von Arnold Reisberg ein Beitrag über Wladimir Iljitsch Lenin abgedruckt. Mit viel Einfühlung wird dargestellt, wie Lenins Jugendjahre Symbol für geistige Reifung, Herausbildung revolutionärer Überzeugung und kommunistischer Moral sein können. Reisberg war wegen seiner in Österreich und der DDR unbekannt gebliebenen eigenen Biografie für eine solche Darstellung besonders geeignet.
Geboren am 17. Februar 1904 in Borislav (Galizien) ist Reisberg über Wien (1914–1934), Prag (1934) und Moskau (1934–1937), über den Gulag (1937–1946) und über eine Strafansiedlung in Tassejewo (1946- 1954) sowie über einen Aufenthalt in Mossalsk (1955–1959) erst im Februar 1959 nach Berlin gekommen. Dort hat er als Historiker bis zu seinem Tode (20. Juli 1980) herausragende wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, insbesondere eine Dokumentation des Lebens von Lenin. Reisberg war Erstgeborener einer ostjüdischen Familie, er hat einen Bruder und zwei Schwestern. Sein Vater Berl Reisberg war Lehrer an jüdischen Baron Moritz Hirsch-Volksschulen, zuletzt in Horodenka und Kolomea. Haben die Reisbergs 1914 mit ihrer Flucht nach Wien ihre Heimat verloren und eine neue gewonnen? 1941 bis 1944 waren auch Wiener in großdeutscher Wehrmachtsuniform in und um Borislav so wie in ganz Polen als „Liquidatoren“ der jüdischen Bevölkerung eingesetzt. Reisberg war der Besuch der Synagoge ebenso Pflicht wie der Erwerb von Kenntnissen, um auf dem „Meer des Talmuds“ zu fahren. Am 12. Oktober 1922 hat Reisberg die Matura als Privatist abgelegt. In Deutsch war er über den Inhalt der „Ringparabel“ geprüft worden. Durch Zufall ist dem Maturanten Reisberg das Protokoll des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale (März 1919) in die Hände gekommen. Das Wort Freiheit erhielt für Reisberg einen humanen Inhalt, es war nicht mehr die bürgerlich liberale Freiheit, ein Ghetto möglichst auf dem Weg zum Friedhof zu verlassen, sondern Freiheit sollte eine mit Allen geteilte Freiheit sein, sollte Befreiung von Unterdrückung und Würdelosigkeit jeder Art sein. So trat er 1923 dem Kommunistischen Jugendverband und 1924 der KPÖ bei, nicht als eskapistischer Idealist, sondern als Aktivist.
Mit Wintersemester 1922/23 inskribierte Reisberg an der Wiener Universität Geschichte und diverse andere Fächer – ohne irgendeine Aussicht auf Anstellung. Die Universitätslosung „Hinaus mit den Juden!“, bald ergänzt mit „Hinaus mit den Marxisten“, war überall gegenwärtig. In seinen eigenhändig ausgefüllten Nationalien gibt Reisberg „mosaisch“ als Religionsbekenntnis an, polnisch als Muttersprache und Staatsbürgerschaft sowie jüdisch als Volkszugehörigkeit. Von der Zahlung des Kollegiengeldes war Reisberg, dessen Vater als Schuhvertreter 1928 knapp vor Privatkonkurs gestanden ist, nicht befreit. Reisberg hörte in viele Vorlesungen hinein, im ersten Jahr vor allem bei dem in das Studium gut einführenden Historiker Wilhelm Bauer, der vorgab, Juden auf den ersten Blick zu erkennen. Alfons Dopsch hat Reisberg, der ihm aufgefallen war, beauftragt herauszuarbeiten, welche Bedeutung der Deutsche Zollverein (1834) und das gemeinsame Postwesen (1850) für eine mögliche Wirtschaftsgemeinschaft von Österreich und Deutschland vor der Revolution 1848 haben hätte können. Es sollte eine Erweiterung zu den Intentionen des Buches von Heinrich Sbrik über Metternich werden. Sowohl Dopsch wie Srbik waren großdeutsch, Srbik dazu ein Propagandist der „Missionsidee des deutschen Volkes“ und Gegner des „moskowitischen Semitismus“. 1927 reichte Reisberg seine Dissertation Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848 (189 Seiten) ein. Das Zusammenwachsen von Österreich und Deutschland im Vormärz wäre nur nützlich gewesen, die Geschichte Europas hätte einen anderen Verlauf genommen. Dopsch und Sbrik approbierten die Doktorarbeit von Reisberg freundlich (10. Oktober 1927) und so konnte er am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. promovieren. Kindheit und Jugend waren vorbei. Arnold Reisberg blieb „unverbesserlicher“ Kommunist, er gab mit seinem ganzen Leben Zeugnis für die Utopie einer neuen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ordnung der Welt.
* Arnold Reisberg verstarb vor 40 Jahren, am 20. Juli 1980.