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Österreichs Spitzendiplomatie vor Ort (Teil 2)

Zum Beispiel in Chile 1973 - Zweiter Teil

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck 

Teil 1 verpasst? Kein Problem: Hier geht’s zum ersten Teil von Österreichs Spitzendiplomatie vor Ort

Über die Parlamentswahlen im März 1973 und ihre Ergebnisse

Am 4. März 1973 haben in Chile bürgerliche Parlamentswahlen stattgefunden, bei denen 150 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und die Hälfte der 50 Senatoren zu wählen waren. Das Wahlsystem war die von der Bourgeoisie erprobte Kombination zwischen Listen- und Personenwahl, es konnte die Stimme für einen bestimmten Kandidaten oder die Liste einer wahlwerbenden Partei abgegeben werden. Nach einem sehr scharf geführten Wahlkampf hatte die Opposition in beiden Häusern zahlenmäßig die einfache Mehrheit, die „Volkseinheit“ mit ihrem Repräsentanten Salvador Allende erhielt 43,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlen waren vom Militär überwacht worden. Weil das Ergebnis nicht ganz so ausgefallen ist, wie die herrschende Klasse mit ihrer Macht über die Gestaltung des Wahlverhaltens erwartet hatte, wurde von den oligarchischen Medien schon während des Wahlvorganges vom Wahlschwindel durch die Unidad Popular berichtet. Österreichs Botschafter verbreitete als Ergebnis der Wahlen Gräuelgeschichten über angebliche politische Häftlinge in Chiles Gefängnissen.

Dokumente zu III.2.: 

8. März 1973. Zl. 7‑Pol/73. Parlamentswahlen in Chile.

[…] Die Stimmabgabe selbst ist unter der Kontrolle der Armee ruhig verlaufen, jedoch sind schwere Wahlschwindel vorgekommen. Vor allem sind die Wahllisten offensichtlich nicht korrekt zusammengestellt worden, insbesondere Doppeleintragungen von geeichten Regierungsanhängern vorgekommen. Schwindel kamen auch bei der Stimmabgabe vor. Beispielsweise wurde für Verstorbene gewählt. Ferner sind offensichtlich Unzukömmlichkeiten bei den zum ersten Mal in der Geschichte Chiles stimmberechtigten Analphabeten vorgekommen. Hingegen haben, ohne dass Wahlschwindel bekannt geworden wäre, zum ersten Mal in der Geschichte Chiles Blinde auf mit Blindenschrift gedruckten Wahlzetteln ihre Stimme abgeben können. Bei der Abgabe von Stimmen durch Hilflose unter Beiziehung einer Vertrauensperson war man sehr streng. Nach der Wahl sind schwere Wahlschwindel grossen Stils von Regierungs- bzw. UP-Seite begangen worden. Ferner liegt die Richtigkeit des behaupteten Verdachts von Wahlschwindel nahe, weil die Bekanntgabe über die Höhe der von den einzelnen Spitzenkandidaten erreichten Stimmen wiederholt so grundlegend geändert wurde, dass sie nicht wahr sein können. Der Spitzenkandidaten der Kommunistischen Partei Teitelboim [Volodia Valentín Teitelboim (1916–2008)] scheint falsche Stimmen zugeteilt erhalten zu haben, während dem besonderen Gegner Allendes, dem einstigen Kommandanten der Kriegsakademie Labbé [Cristian Labbé, (*1948)], der von der Nationalen Partei aufgestellt worden war, bereits veröffentlichte Stimmen plötzlich verlorengegangen sein sollen. […] Verdächtig ist auch, dass Allende bereits vor der Wahl auf seiner Wahlwerbungsreise wiederholt nachdrücklich erklärt hat, dass die UP 40% der Stimmen gewinnen werde. Ein glaubwürdiges Argument gegen die Richtigkeit der offiziellen Verlautbarungen ist, dass das Rechenzentrum der Universidad Católica, das bei früheren Wahlen stets genau Wahlresultate mit Komputern berechnet hatte, diesmal von den staatlichen Ziffern um viele Prozent abweichende Wahlzahlen festgestellt hat. […] Abschliessend kann gesagt werden, dass, wie zu erwarten war, weder die Opposition die 2/3 Mehrheit (in welchem Falle die gesetzliche Möglichkeit, allerdings kaum die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Absetzung Allendes gegeben gewesen wäre) noch die Regierungsparteien die Parlamentsmajorität erreicht haben. Ein derartig grosser Wahlschwindel erschien letzteren doch nicht durchführbar. Allende wird mindestens ebenso eigenwillig wie bisher ohne Beachtung der Parlamentsmajorität weiterregieren, Verfassung und Gesetz am laufenden Band missachten, die Durchführung von gewissen Urteilen des Obersten Gerichtshofes (wie über Rückstellung von fundos und Betrieben) verhindern, die Dictamina der Contraloría General de la República ignorieren usw. […] 

21. März 1973. Zl. 12-Pol/73. Entschluss Allendes, eine Einheitspartei zu schaffen.

[…] Allende hat nicht einmal zwei Wochen seit der Wahl verstreichen lassen, um darzulegen, in welcher Weise er auf einem wichtigen politischen Sektor die Verwandlung Chiles in eine Volksdemokratie seines Musters ein gutes Stück voranzutreiben beabsichtigt. Am 15. 4. d. J., also nur 11 Tage nach der Wahl, in der sein Wahlblock auch nicht annähernd die Hälfte der Stimmen erreichen konnte und die Mehrheit der Wählerschaft deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass sie gegen die marxistische Politik Allendes ist, hat Letzterer einen Brief an den Vorsitzenden des Partido de la Unidad Popular, das ist der Wahlblock der marxistischen und anarchistischen Parteien, gerichtet. Darin bringt er seine Absicht zum Ausdruck, eine Einheitspartei (eines der Hauptcharakteristiken totalitärer Staaten) auf der Regierungsseite zu schaffen.

Schon die Einleitung des Briefes ist eine glatte Lüge. Er behauptet, dass die Regierungsparteien eine >ausserordentliche Unterstützung< erhalten haben, das Wahlergebnis >die immensen Wünsche mit den revolutionären Massnahmen fortzuschreiten< gezeigt habe und >die Zustimmung zu dem Entschluss der integralen Ausführung des Programmes der Unidad Popular bestätigt habe. Einmal mehr habe das Volk seine Feinde vernichtet<. Eine bezeichnende Äusserung eines Staatsoberhauptes, das einst vorgegaukelt hatte, der Präsident aller Chilenen sein zu wollen (Zl. 27-Pol/72) und die jetzt die Mehrheit der Chilenen als Feinde abstempelt. Er lügt weiter ein ungeheueres ihm bezeigtes Vertrauen vor usw.

Von diesen falschen Prämissen ausgehend, erklärt er, es seien mindestens die <minimalen< politischen Bedingungen gegeben, dass der Partido de la Unidad Popular aus seinem gegenwärtigen <embrionalen< Zustand heraustrete und sich als Instrument für die Zukunft der Revolution aufdränge (imponga). Dies sei eine Forderung der Massen, eine Bedingung der Regierung, eine historische Notwendigkeit. Das Volk müsse auf eine einheitliche wirksame politische Lenkung zählen. Alles bekannte Schlagwörter aus dem Wortschatz totalitärer Diktatoren! Die Funktion dieser Partei müsse darin bestehen, die gemeinsame Aktion der Regierung und der Massen zu lenken, wobei er nicht unterlässt, auf den scharfen Klassenkampf hinzuweisen. […]

Die entscheidende Schlüsselposition für die weitere politische Entwicklung wird immer mehr und mehr die Armee einnehmen, denn sie wird entscheiden können, inwieweit Allende sich von Recht und Verfassung entfernen darf und ob auf der Strasse eine Entscheidung fallen kann. […]

3. April 1973. Zl. 21-Pol/73. Torturen durch die chilenische Polizei. 

[…] Trotz gegenteiliger Erklärungen des Präsidenten Allende sind Prügel und Torturen gegen politische Häftlinge bei der chilenischen Polizei keine Seltenheit. Jüngst wurde der 62jährige Direktor des Senders der Katholischen Universität mit zwei Mitarbeitern mit elektrischen Schocks an Kopf, Nase und Geschlechtsteilen behandelt, um ein Geständnis zu erpressen. […]

20. Juli 1973. Zl. 43-Pol/73. Wahlbetrug in Chile. Bezug Zl. 7‑Pol/73.

Bereits unmittelbar nach den Wahlen habe ich unter oa. Zahl berichtet, dass die Regierung in glaubwürdiger Weise eines Wahlbetruges bezichtigt wird. Dies obgleich im Oktober 1972 nach dem grossen Streik mehrere Generäle u. a. zum Zwecke der Gewährleistung einwandfreier Wahlen in die Regierung aufgenommen wurden und damals Innenminister, welchem die Organisation der Wahlen obliegt, der Oberkommandierende der Wehrmacht war [General Prats]. Allerdings ist dieser, wie bereits mehrfach berichtet, eine sehr zwielichtige Gestalt. Es gab so viel Verdachtsgründe, dass die Behauptung eines Wahlschwindels einem objektiven Beobachter glaubhaft erscheinen musste. […] Nunmehr hat die Juridische Fakultät der Katholischen Universität eine genaue wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt und das Ergebnis durch den Dekan der Universität Professor Jaime Del Valle [(1931–2016)], der übrigens erst kürzlich bei mir zu Gast war, durch den Fernsehsender der Universität verlautbaren lassen. Der Kommission gehören ausser dem Dekan die für öffentliches Recht zuständigen ordentlichen Professoren dieser Fakultät an. […] Wenn auch nicht in der Erklärung des Dekans erwähnt, so muss angenommen werden, dass diese Betrugsfälle fast ausschliesslich den UP-Parteien zuzuschreiben sind. Es wurde auch nachgewiesen, dass ohne den Wahlschwindel in verschiedenen Wahlkreisen Senatoren und Abgeordnete der Opposition an Stelle der Kommunisten gewählt worden wären. […]

Über Ökonomische Prozesse

Die Veränderung der ökonomischen Bedingungen zur Befreiung der Arbeit aus der Sklavenherrschaft und hin zu einem besseren Leben war von der Unidad Popular mit Salvador Allende als Transformationsprozess mit für die Massen des chilenischen Volkes spürbaren Erfolgen begonnen worden. Es blieb offen, wie weit breite kleinbürgerlichen Schichten mit ihren linken sozialdemokratischen Hoffnungen einer organisierten kommunistischen Machtergreifung zustimmen würden. „Gegen die Reaktion kämpfen heißt vor allem, die Massen ideologisch von der Reaktion losreißen“ – das war das Programm von Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924).[1] Die sozialistischen Länder waren nicht in der Lage, für die vom Westen bis zur Präsidentschaft von Salvador Allende Chile gegebenen Kredite einzuspringen. Die Deutsche Demokratische Republik spendete für die medizinische Versorgung in Chile Medikamente und im Mai 1973 die Einrichtung einer Geburts- und Frauenklinik in der Hafenstadt San Antonio. Eine Freundschaftsbrigade half beim Bau eines Bewässerungskanals in Rengo. Die Sowjetunion, wohin Allende als erster Präsident Chiles im Dezember 1972 selbst gereist ist, war in Vietnam und Kuba schon genug gefordert. In seiner Ansprache am 6. Dezember 1972 auf dem Empfang des Präsidiums des Obersten Sowjets mit dem aus der Ukraine stammenden Nikolai V. Podgorny (1903–1983) und der Regierung der UdSSR in Moskau hob Allende die Hilfe der Sowjetunion für das vietnamesische Volk hervor, die Menschen, die in Vietnam gefallen sind, „haben nicht nur für die eigene Freiheit und die Wiedervereinigung ihres Landes ihr Leben gelassen, sondern mit ihrem Tod auch vielen anderen Völkern den Weg zur Befreiung gebahnt“. Allende sagte mit Pablo Neruda, dass Chile zu einem „schweigenden Vietnam“ werde, denn Millionen von Chilenen würden die offene und verborgene Einkreisung ihres Landes durch die imperialistischen Kräfte spüren. „Deshalb, liebe sowjetische Genossen, hat Ihre Hilfe und Solidarität für uns besondere Bedeutung“.[2] Die Haltung von China, wo Außenminister Clodomiro Almeyda (1923–1997) Besprechungen geführt hat, war, dass der Übergang zum Sozialismus im Einklang mit den realen sozialen, historischen und geographischen Bedingungen aus eigener Kraft geschafft werden muss. Das entsprach der von China selbst gemachten historischen Erfahrungen.

In seiner Parlamentsrede vom 21. Mai 1973 hat Allende, wie Botschafter Hobel berichtet (25. Mai 1973), darauf hingewiesen, „man dürfe einen revolutionären Prozess nicht nach seinen unmittelbaren wirtschaftlichen Ergebnissen und der Schwere der gegenwärtigen Lage beurteilen“. Die wirtschaftliche Situation entwickelte sich wegen der Kollaboration der chilenischen Bourgeoisie mit dem US-Kapital für die Massen sichtbar prekär, was sich in den langen Schlangen vor den Läden, im Schwarzmarkt, in der Inflation und nicht zuletzt in der Abwanderung von Fachkräften zeigte. Das Militär forderte Salvador Allende auf, mit den USA ein Abkommen zu finden.

Dokumente III.3.: 

15. März 1973. Zl. 10-Pol/73: Die Wirtschaft Chiles auf dem Weg zur Volksdemokratie

Die bisherige Regierungszeit Allendes von mehr als zwei Jahren zeigt mit genügender Deutlichkeit, wohin er steuern möchte, falls nicht irgendwelche von ihm nicht vorhergesehene Ereignisse hemmend eingreifen sollten. Dass diese Entwicklung nicht mit der in seinen Wahlkapitulationen in Aussicht gestellten übereinstimmt, muss in der Zwischenzeit wohl allen Parlamentariern, die ihn seinerzeit auf den Schild gehoben haben, obwohl er nicht viel mehr als ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, bewusst geworden sein. […] Wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, ist in Chile die Einführung einer volksdemokratischen Wirtschaft nicht etwa am Beispiel der europäischen Volksdemokratien in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg zu messen, sondern dürfte eher den Ereignissen in den ersten Jahrzehnten in der Sowjetunion ähneln, wo für das Experimentieren besonders auf dem Gebiet der Landwirtschaft schwerstes Lehrgeld bezahlt werden musste. Weil in Chile der Präsident und die Regierung eigene (katastrophale) Wege gehen, ist voraussichtlich auch die Sowjetunion nicht bereit, der chilenischen Regierung die von dieser erhoffte grosse materielle Unterstützung zu gewähren. Die üblen, in einem anderen lateinamerikanischen Staat, nämlich Kuba, gemachten Erfahrungen werden zu dieser Haltung beigetragen haben.

10. April 1973. Zl. 24-Pol/73. Zum Ausscheiden des Militärs aus der Regierung.

[…] Die Oberkommandierenden der 3 Wehrmachtsteile haben Allende wenige Tage nach der Wahl, nämlich am 8. 3. ein Memorandum, das allerdings schon vor der Wahl ausgearbeitet worden sein soll, übergeben. In diesem Memorandum wurde nach Darlegung der äusserst prekären Situation der chilenischen Wirtschaft die Notwendigkeit unterstrichen, mit den Vereinigten Staaten ein Abkommen sowohl über die Entschädigung für die enteigneten Betriebe als auch über die Schulden zu erreichen. Die USA sind der weitaus grösste Gläubiger Chiles. Auch könnte ohne substantielle Hilfe aus dem Ausland die derzeitige Krise nicht überwunden werden und ohne Einigung mit den USA wäre an neue grössere Kredite des Westens und von den internationalen Organisationen nicht zu denken. […] 

Über die Schule und die Katholische Kirche

Die Pariser Kommune hat viel Wert auf eine allen Kindern zugängliche Schulbildung gelegt. Die Kommune ging darauf aus, wie Karl Marx beschreibt, „das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen; sie dekretierte die Auflösung und Enteignung aller Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften waren. Die Pfaffen wurden in die Stille des Privatlebens zurückgesandt, um dort, nach dem Bilde ihrer Vorgänger, der Apostel, sich von dem Almosen der Gläubigen zu nähren. Sämtliche Unterrichtsanstalten wurden dem Volke unentgeltlich geöffnet und gleichzeitig von aller Einmischung des Staats und der Kirche gereinigt. Damit war nicht nur die Schulbildung für jedermann zugänglich gemacht, sondern auch die Wissenschaft selbst von den ihr durch das Klassenvorurteil und die Regierungsgewalt auferlegten Fesseln befreit“.[3] Am 12. August 1971 wurde von der Regierung Allende mit der Bildungskampagne gegen den Analphabetismus begonnen, mit dem Schuljahr 1971/72 wurde in Chile die Schulgeldfreiheit eingeführt. Jetzt konnten auch die Kinder mittelloser Eltern regelmäßig eine Schule besuchen. Das Schulsystem der Deutschen Demokratischen Republik wurde zum Vorbild genommen. Die katholische Kirche in Chile war traditionell vom Bündnis mit der reichen Oberschicht und von jenem Klerikalismus geprägt, den in der Gegenwart Papst Franziskus anprangert. Die Volkskirche oder Befreiungstheologie hatte in Chile Anfang der 1970er Jahre ein nur geringes Echo. Vom II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) war der von Johannes XXIII. (1881–1963) ernannte Kardinal von Santiago Raúl Silva Henríquez (1907–1999) inspiriert. Die von Papst Paul VI. (1897–1978) ausgegebene Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) ist von der Idee der universellen Solidarität beherrscht.[4] Die 2. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín vom 24. August bis 6. September 1968, die Papst Paul VI. eröffnet hatte, ermunterte die Christen, für die Befreiung der lateinamerikanischen Völker revolutionär tätig zu werden. Der Wiener Jesuit Gustav Wetter SJ (1911–1991) vom Collegium Russicum in Rom erzählt auf einem wissenschaftlichen Symposium in Moskau (11.–13. September 1973), er habe den Hirtenbrief der lateinamerikanischen Bischöfe einem marxistischen Freund gezeigt, der glaubte, der dortige Passus über die revolutionäre Situation sei einem marxistischen Lehrbuch entnommen.[5] Die lateinamerikanische Bewegung „Priester für die Dritte Welt“ sprach in ihrer Resolution vom 3. Mai 1970 in Santa Fé von der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution in Lateinamerika, von der Notwendigkeit des Verzichts auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und vom Begriff einer Kirche des „Volkes Gottes“ ohne hierarchische Ordnung.[6] Kardinal Henríquez hat Gustavo Gutiérrez (*1928) aus Peru im April 1971 auf die Tagung „Mitbestimmung der Christen beim Bau des Sozialismus in Chile“ eingeladen.[7] Gutiérrez steht am Beginn der Befreiungstheologie, sein Buch „Theología de la Liberación“ ist 1972 veröffentlicht worden.[8] Am 17. Juli 1973 schreibt Luis Corvalán (1916–2010) an Kardinal Henríquez, er habe als Kommunist mit Zustimmung die Ermahnung der Ständigen Bischofskonferenz, den Willen des chilenischen Volkes, tiefgreifende soziale Veränderungen zu verwirklichen, sehr zur Kenntnis genommen.[9] In den Berichten des österreichischen Botschafters wird dieser für die Menschenrechte aktiv tätige Kardinal als „sehr links“ qualifiziert, weil er die „Volksdemokratisierung“ der Schulen akzeptierte. Dass Allende in keiner Weise die religiösen Freiheiten eingeschränkt hat, blieb unerwähnt. Die von der reichen Oberschichte beschickten katholischen Privatschulen mit ihrer traditionellen Funktion, deren Denken und Handeln weiterzugeben, ließ Allende weiter bestehen. Das Verhalten der geistig und materiell verelendeten Schichten werden von Adolf Hobel als Argument gegen die Sozialisierung herangezogen.

Dokumente III.4.:

23. März 1973. Zl. 14-Pol/73: Volksdemokratische Schulpolitik Allendes

Nunmehr dehnen sich die Bestrebungen einer revolutionären Umgestaltung Chiles durch Allende auch auf die Schulpolitik aus. Getreu volksdemokratischen Vorbildern strebt die Regierung durch Einführung einer Escuela Nacional Unificada ein Schulmonopol an. Wie aus dem Projekt ersehen werden kann, ist diese Escuela Unificada ganz auf die ideologische Ausrichtung der Jugend im marxistischen Sinne gerichtet und strebt u. a. auch die zwangsweise Heranziehung der Jugendlichen zu sogenannten >freiwilligen Arbeiten< (trabajos voluntarios) an. Diese sogenannten freiwilligen Arbeiten, die im letzten Jahr in Chile bereits mit Erwachsenen praktiziert wurden, sind durchaus nicht etwa auf wirklich gemeinnützige Vorhaben (etwa Parks, Einrichtungen von Kinderspielplätzen) gerichtet. Obwohl es zahlreiche dringende solcher Arbeiten gäbe, für die allerdings in erster Linie die grossen arbeitsscheuen Massen Chiles zwangsmässig heranzuziehen wären und nicht Leute, die eine volle Arbeitswoche hinter sich haben, wurden in letzten Jahr sogenannte freiwillige Arbeiten, nicht hiefür, sondern beispielsweise für gewisse Arbeiten in den Allendischen Volkssiedlungen (Poblaciones) wie Ziehen von Wassergräben, Beseitigung des Unrats und dergleichen organisiert. Während die sogenannten Freiwilligen arbeiteten, schauten die arbeitsscheuen Bewohner dieser Poblaciones, in denen vielfach Kriminelle, Mitglieder terroristischer, anarchistischer Organisationen, die Überfälle auf Fundos und Betriebe ausüben, Demonstrationen und Streiks in Betrieben, denen sie nicht angehören, organisieren etc., leben, spöttisch zu. Auch der sowjetische Botschafter, der bei einem ersten solchen Unternehmen der UP mitarbeitete, war äusserst verärgert und hat von dieser Aktion genug.

Die Kirche, die ein weit über den Durchschnitt hinausgehendes Schulnetz bis auf Universitätsebene in Chile aufgebaut hat, liess mit ihrem Protest gegen die Escuela Unificada nicht lange warten. Durch diese Aktion würden übrigens nicht nur das katholische Schulwesen als solches betroffen, sondern auch das chilenische Erziehungswesen im Allgemeinen. Denn während in den staatlichen Schulen sehr häufig geradezu anarchistische Zustände herrschen, sogar mit gewaltsamen Besetzungen von Schulen und mit daranschliessenden heftigen Kämpfen, wobei es immer Verletzte gibt etc., zeichnen sich die katholischen Schulen durch eine weitaus bessere Disziplin und ein viel höheres Niveau ab.

Als Erster zog der konservativ eingestellte Bischof von Valparaíso [d. i. Emilio Tagle Covarrubias], der aus einer der einst führenden chilenischen Familie Tagle stammt, ins Feld, mit Argumenten, wie sie von der katholischen Kirche auch in kommunistischen Ländern gegen ein staatliches Schulmonopol von der Kirche ins Treffen geführt wurden. Er berief sich u. a. auch auf die Beschlüsse des 2. Vaticanums und wies darauf hin, dass jedes Schulmonopol gegen die Natur der menschlichen Person sei. Der sehr links eingestellte, sehr regierungsfreundliche Kardinal von Santiago [d. i. Raúl Silva Henríquez] hält sich jedenfalls bisher im Hintergrund. Die Ausführungen des Bischofs Tagle fanden volle Zustimmung aus organisierten Elternkreisen.

Jedenfalls ist vorauszusehen, dass sich das Parlament, in dem die Opposition die überwiegende Mehrheit besitzt, gegen eine solche Schulreform aussprechen wird. Es ist aber fraglich, ob sich Allende, der am laufenden Band Verfassung, Parlament und Contraloría ignoriert, sich von seiner Absicht wird abbringen lassen, wodurch er zu dem vielen politischen Zündstoff, den er bereits angesammelt hat, einen weiteren hinzufügen wird.  

5. April 1973. Zl. 22-Pol/73: Volksdemokratische Schulpolitik Allendes. Verfolg Bericht Zl. 14-Pol/73

In o[b]z[itierten] Bericht wurde darauf hingewiesen, dass bei der Einführung des Escuela Nacional Unificada volksdemokratische Vorbilder Pate gestanden sind. Vor einigen Tagen wurde dies vom Unterrichtsminister Tapia [Jorge Tapia (1935- 2020)] selbst nicht nur offen zugegeben, sondern auch der Ostblockstaat genannt, dessen Schulwesen nicht nur als Vorbild diente, sondern auch Experten stellt. Der Minister hat in einem in der Presse auszugsweise abgedruckten Schreiben an eine ihm unterstellte Schulbehörde ausdrücklich auf die Ähnlichkeit des Schulsystems der DDR mit dem, das die Regierung in Chile einzuführen im Begriff ist, hingewiesen und auch gebeten, dass zwei ostdeutsche Schulmänner von ihrer Regierung für ein weiteres Jahr zu Einschulung der chilenischen Pädagogen zur Verfügung gestellt werden.

Der Konflikt mit der Kirche wegen der Einheitsschule spitzt sich weiter zu, da weder die scharfen Angriffe einer ganzen Reihe konservativer Erzbischöfe und Bischöfe, noch die Gespräche des linksorientierten Kardinals mit dem Staatspräsidenten die Regierung auch nur dazu gebracht hätten, die für Juli in Aussicht genommene Erziehungsreform wenigstens aufzuschieben und eine öffentliche Diskussion zu ermöglichen. […]

10. April 1973 Zl. 23-Pol/73. Zur Lage der Presse in Chile.

[…] Aber auch die Presse-Organe, die keine Beeinträchtigung ihrer Schreibweise erlitten haben, haben indirekt unter dem derzeitigen Regime zu leiden. Im Hinblick darauf, dass ein immer bedeutenderer Teil der grossen Unternehmungen verstaatlicht oder durch öffentliche Verwalter ihren Besitzern widerrechtlich entzogen wird, lassen sie in Opposition zur Regierung stehende Zeitungen kaum mehr Annoncen erscheinen. Ebensowenig bekommen sie Anzeigen von staatlichen Behörden. […] Es besteht derzeit nur mehr ein unabhängiger Fernsehsender in Chile, der von der Katholischen Kirche betrieben wird. […]

3. Mai 1973. Zl. 26-Pol/73. Volksdemokratische Schulpolitik Allendes. Verfolg Bericht Zl. 14-Pol/73 v. 23. 3. 73 und Bericht Zl. 22-Pol/73 v. 5. 4. 73.

[…] Wie zu erwarten war, hat die katholische Kirche, die in Chile auf dem Schulsektor bis auf Universitäts-Niveau eine massgebliche Stellung einnimmt, sofort schärfsten Protest erhoben. Ferner haben die Elternschaft und teilweise die Lehrer, aber auch die in Chile sehr politisierten und in der Mehrheit die Regierung ablehnenden Schüler protestiert und Streiks im Falle der Einführung der Einheitsschule angekündigt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Schülerstreiks der chilenischen Regierung Unannehmlichkeiten bereiten.

Aber auch von anderer Seite, die sich in der Regel von der Politik strikte fernhält, wurde opponiert, nämlich vom Militär. Das Militär, das sich in Chile traditionsgemäss von der Politik fernzuhalten sucht, befürchtet, dass durch die Einheitsschule politisch schon geformte Elemente zum Militär kommen und dadurch das Militär zwangsläufig eine politische Rolle spielen wird. Man ist besonders besorgt, dass die Offiziersschule marxistisch ausgerichtete Offiziersanwärter bekommt. Es scheint, dass Allende besonders durch die ablehnende Haltung der Militärs bewogen wurde, die Einführung der Einheitsschule, die bereits für das 2. Semester 73 vorgesehen war, zu verschieben und zunächst eine gründliche Diskussion der beteiligten Kreise zu ermöglichen.

Als der Präsident von den Kommandierenden der drei Wehrmachtsteile über die Unruhe informiert worden war und zahlreiche hohe Offiziere in ziviler Kleidung bei den Elternversammlungen ihren Unmut deutlich zum Ausdruck brachten, beauftragte er den Unterrichtsminister Jorge Tapia, dem Offizierskorps die Schulreform in Anwesenheit des Verteidigungsministers darzulegen. Nach einer eineinhalbstündigen Rede wurde Tapia bei der Diskussion schwer bedrängt. Auch der politisch zweifelhafte ehemalige Innenminister und Oberkommandierende der Wehrmacht General Prats war über diese Entwicklung nicht sehr erfreut. Aus diesem Grunde hat er zwei Tage später das gesamte Offizierskorps von Santiago und Abordnungen von Garnisonen der Umgebung in die Scuela Militar befohlen. Infolge der militärischen Disziplin konnten die Offiziere gegen den Oberkommandierenden nicht so auftreten wie gegen den zivilen Unterrichtsminister, gaben aber ihre Verärgerung durch dauerndes Husten und Räusperkonzert mehr als deutlich kund. Es wird vermutet, dass Anführer des Widerstandes u. a. der ehemalige Minister für Öffentliche Arbeiten Vizeadmiral Ismael Huerta [Ismael Huerta Díaz (1916–1997) ist, der aus der Regierung Allende – Prats bald ausgetreten ist, weil er nicht mit deren Politik einverstanden war, obwohl während der Zeit der Beteiligung von drei Militärs an der Regierung deren Kurs wesentlich gemässigter war als vorher und nachher. […]

12. Juni 1973. Zl. 35-Pol/73. Die Bischofskonferenz zur gegenwärtigen Lage in Chile.

Dem chilenischen Episkopat kann keinesfalls eine reformfeindliche Einstellung vorgeworfen werden. Es darf erinnert werden, dass gerade die Kirche den Anfang zu einer Agrarreform durch Abtretung ihres Grundbesitzes gemacht hat, obgleich sie keine ausreichenden Ersatzeinnahmsquellen besitzt. Besonders der Kardinal Erzbischof von Santiago [d. i. Raúl Silva Henríquez] ist auch den sozialen Umwälzungen der Regierung Allende gegenüber sehr aufgeschlossen gewesen. Wenn nunmehr gerade die dem Kardinal unterstehende Kirchenprovinz Santiago (mit 6 Bistümern) heftige Kritik an dem herrschenden System und an der gegenwärtigen Lage übt, so muss eine solche Stimme äusserst ernst genommen werden. In dem vor kurzem erlassenen Hirtenbrief der Bischöfe der Zentralzone von Chile wird nach Anklage der irrigen materialistischen Auffassungen eine ganze Reihe von schweren Missständen in Chile getadelt. […]

Hatte noch der Kardinal vor einiger Zeit den Kapitalismus verurteilt und viele gegen die einstige Oberschicht gerichtete Massnahmen der Regierung gebilligt, geisselt er nunmehr den sogenannten Sozialismus Chiles mit unzweideutigen Worten. Es sei eine unwahre Vereinfachung, wenn man das ganze chilenische Problem auf die Einteilung der Bevölkerung in Sozialisten und Kapitalisten reduzieren möchte. >Man dürfe sich nicht einbilden mit der demagogischen Wiederholung eines Mythos von Utopien und Schlagworten das Problem zu lösen<. Das Wort Sozialismus >stelle ein reichlich nicht determiniertes System< dar und man dürfe auch nicht alles, was bisher bestand, als Kapitalismus zeichnen. >Die Menschen seien mehr wert als die Systeme, die Personen mehr als die Ideologien. Die Ideologien trennen nur<. Alle Chilenen müssten eine Familie bilden. Man müsse sich gegenseitig helfen wie Brüder. Die Bischöfe verurteilen Angst, Ungewissheit, Hass und Rache. Der Friede käme nicht durch die Herrschaft einer Gruppe über die andere. Das Wohl der Gesellschaft verlange den Beitrag und die Zusammenarbeit aller, sowie die Anerkennung der Rechte aller. Dies forderte auch die Gerechtigkeit; nur auf der Gerechtigkeit könne man den Frieden gründen. Die Bischöfe geisselten auch die >Idolatrie der Macht<. >Die Macht stelle in Idol und eine Fata Morgana für viele dar<. Man müsse in jedem Menschen seinen Bruder sehen. >Die Macht könne leicht die Herzen korrumpieren<. Dem Krieg der Klassen wird die christliche Solidarität entgegengestellt.

Es ist bezeichnend, dass die derzeitige Entwicklung der Verhältnisse in Chile einen Mann wie den Kardinal, der der Linken gegenüber ausserordentlich aufgeschlossen war, gezwungen hat, so ernste Worte gegen das herrschende System in Chile zu richten. Aber in Chile bestehen Verhältnisse, die weder als sozial noch als gerecht bezeichnet werden können. Eine Anarchie bringt die Wirtschaft an den Rand des Abgrundes. Tägliche Gewaltanwendung der Exekutive auch gegen unbeteiligte Unschuldige im Sinne von Weisungen der Regierung und die Predigt des Hasses bringen das Land immer mehr und mehr in Gefahr eines Bürgerkrieges. 

Helfershelfer des faschistischen Militärputsches am 11. September 1973

Der Putschversuch einer Panzerdivision in Santiago am 29. Juni 1973 war ein Probelauf des Militärs. Botschafter Hobel sieht gar Parallelen zum Reichstagsbrand, weil die Regierung „irgendein legales Mäntelchen“ suche, um „totalitäre Macht“ zu erlangen (Bericht vom 3. Juli 1973, Zl. 39-Pol/73). Immer noch scheinen Luis Corvalán und Allende geglaubt haben, dass die Armee mit ihrer Tradition sich nie gegen eine demokratisch gewählte Führung erheben werde, obschon sie von der DDR aufgrund nachrichtlicher Quellen vor dem bevorstehenden Putsch von Pinochet gewarnt worden ist.[10] Dass der von den USA direkt vorbereitete Putsch am 11. September 1973 durch das chilenische Militär erfolgreich verlaufen ist, wird vom österreichischen Botschafter in Santiago de Chile als Sieg der Zivilisation gegen den Marxismus bejubelt. Botschafter Hobel sieht sich als Feind der Unidad Popular und besonders von Allende bestätigt und beruft sich nebstbei auf den angeblich guten Freund Österreichs Enrique Bernstein Carabantes (1910–1990), der die faschistischen Militärs beraten hat. Die letzten Worte von Salvador Allende wurden nach einer Tonbandaufzeichnung im Neuen Deutschland abgedruckt (1. Oktober 1973).[11] Noch zu Lebzeit von Salvador Allende wurde in der DDR die Textausgabe einiger seiner Reden mit dem Titel: „CHILE – Volkskampf gegen Reaktion und Imperialismus“ vorbereitet, die mit seinen letzten Worten aus dem Regierungspalast Moneda enden mussten. Anna Seghers (1900–1983) hat ein paar Zeilen vorangestellt.[12] Ein solches Buch ist in Österreich nicht veröffentlicht worden. Auch das gehört zu den Erfolgen seiner Spitzendiplomatie. 

Dokumente III.5.:

29. Juni 1973. Zl. 44-Pol/73. Der 29. Juni 1973 in Santiago.

[…] Während Allende wenige Minuten nach Beginn dieses Putsches in unverantwortlicherweise die Arbeiter aufgefordert hat, die Fabriken zu besetzen und zu verteidigen, eine Aufforderung, deren Folgen von Tag zu Tag immer ernster werden (Besetzung von hunderten zum Teil grosser ausländischer Fabriken, von Gütern, sowie der Verteilung von Waffen an Extremisten usw.), wird nunmehr bekannt, dass sich die scharfmacherischesten Spitzen der Sozialistischen und Kommunisten Partei kurz nach Bekanntwerden des Putsches in kommunistische Botschaften geflüchtet haben, vor allem in die Botschaft von Nordkorea, die ja bekanntlich eines der Zentren der Ausbildung der Guerrilla für viele lateinamerikanische Staaten geworden ist, seitdem Nixon von [Leonid Iljitsch] Breshnev [(1906–1982)] erwirkt haben soll, dass die bisherige Zentrale von Havanna nach Chile verlegt wird. Unter den auf die Nordkoreanische Botschaft Geflüchteten sind insbesondere der Generealsekretär der Sozialistischen Partei Carlos Altamirano und der Generalsekretär der KP Luís Corvalán, sowie Volodia Teitelboim [(1916–2008)] von der KP und Oscar Schnake [(1899–1976)] von der SP zu erwähnen. Wäre es zu einer grossen Erhebung und einem Sieg der Armee gekommen, hätten die Arbeiter den Kopf herhalten sollen, während ihr wichtigsten Führer wenige Minuten nach dem Aufmarsch der Panzer sich in kommunistische Botschaften verkrochen haben.

12. Juli 1973. Zl. 42-Pol/73. Rapide Verschlechterung des politischen Klimas in Chile.

Die politische Lage in Chile verschlechterte sich in den letzten beiden Wochen auf den verschiedensten Gebieten rapid. Als primäre Ursache ist die bereits wenige Minuten nach Beginn des Militärputsches am 29. 6. d. J. erfolgte Aufforderung Präsident Allendes, „die Betriebe zu besetzen und zu verteidigen“, und seine Erklärung, „das Volk werde Waffen haben“, anzusehen. […] Die Folge der Aufforderung Allendes war, dass von Extremisten, zum Teil ausländischer Provenienz, durchaus nicht etwa von Arbeitern der betroffenen Betriebe, damit begonnen wurde, sich der Betriebe, die bisher von einer Nationalisierung oder Bestellung eines öffentlichen Verwalters verschont geblieben war, zu bemächtigen. […] Besonders bedrohlich erscheint die öffentliche Ankündigung des Generalsekretärs der KP Luis Corvalán und des sozialistischen Abgeordneten Mario Palestro [(1921–2000)], eines anarchistischen Demagogen, die Industrien zu zerstören und keinen Stein auf dem anderen zu lassen. […] Die Generalität und das Offizierskorps ist gespalten. Einige hohe Offiziere, besonders der Oberkommandierende Prats, hat Allende für sich gewonnen, aber viele auch aktive hohe Offiziere – vor allem jedoch die pensionierten Generäle – sind der Regierung gegenüber feindlich eingestellt. Diese Leute hören nicht auf die Sirenengesänge von einer Seite, die früher das Militär als Volksfeind hingestellt hat und deren Militärfeindlichkeit auch heute immer wieder durchkommt. […].  

14. September 1973. Zl. 67-Pol/73. Übernahme einer Junta in Chile.

Wie ich bereits in einer ganzen Reihe von Berichten, zuletzt mit Zl. 60-Pol/73 v. 28. 8. d. J. dargelegt habe, musste angenommen werden, dass sich das Militär selbst auf die Gefahr einer Spaltung innerhalb ihrer Reihen die Angriffe besonders der Sozialisten und Miristen nicht lange bieten lassen wird, zumal besonders der Generalsekretär der SP Altamirano [ Carlos Altamirano Orrego (1922- 2019)], der Generalsekretär von Mapu Garreton [ Movimiento de Acción Popular Unitaria; Óscar Guillermo Garretón (*1943)] und der Chef der MIRisten [Movimiento de Izquierda Revolucionaria] Henríquez [Miguel Humberto Enríquez Espinosa (1944–1974)] nicht bloss die Mannschaften zur Meuterei aufriefen, sondern auch wiederholt die Militärs mit Waffengewalt angreifen liessen.

Am Dienstag den 11. etwa gegen 9 Uhr begann das Militär loszuschlagen. Zum Unterschied von dem dilettantischen Putschversuch am 29. 6., der rückblickend vielleicht als eine Generalprobe mit deren Scheitern man gerechnet hatte (ähnlich wie Dieppe als eine Generalprobe für die spätere Invasion in Nordfrankreich gedacht war) war der nunmalige Staatsstreich ausgezeichnet geplant. Er begann mit einem Bombardement auf die Residenz des Präsidenten im Villenbezirk Las Condes von der Erde und Luft aus und mit einem Aufmarsch vor dem Regierungsgebäude der Moneda bei gleichzeitigem Ultimatum an den Präsidenten, sich bis spätestens 11 Uhr zu ergeben.

Zugleich wurde bei der Besetzung des Verteidigungsministeriums, das in nächster Nähe der Rückseite der Moneda gelegen ist, der Verteidigungsminister Letelier [Orlando Letelier del Solar (1932–1976)], der kurze Zeit auch Aussenminister gewesen ist, von einem schwerbewaffneten Kontingent Soldaten herausgeholt und als Gefangener abgeführt.

[…] Als sich bis 11 Uhr der Präsident nicht ergab, wurde etwa um 11,30 der Regierungspalast durch Luft-Erde Raketen und Panzer beschossen und hiebei so zerstört, dass Teile wahrscheinlich abgerissen werden müssen. Über die tatsächlichen gleichzeitigen Vorgänge innerhalb der Moneda zirkulieren widersprüchliche Versionen. Nach den einen wollten sich Allende ergeben, scheint aber von den vielen anarchistischen Elementen in der Moneda gehindert worden zu sein. Ob er sich tatsächlich mit der von Fidel Castro geschenkten Maschinenpistole getötet hat oder von seinen Anhängern erschossen worden ist, ist ungeklärt. […]

Insbesondere fehlen bis zur Stunde selbst zahlenmässig Verlautbarungen über Tote und Verwundete auf beiden Seiten. Die Zahl der Toten in Santiago allein dürfe jedoch in die Tausende gehen.

[…]

Die Junta hat wenige Stunden nach Beginn des Putsches 14 Gründe für die Erhebung bekanntgegeben. Vor allem die Beraubung der Grundrechte, die Zerstörung der nationalen Einheit, der Klassenkampf, die Verletzung der Verfassung, die sogenannten „resquicios legales“ (über die wiederholt berichtet worden ist), die Nichtbeachtung der Beschlüsse des Kongresses, der Urteile der Justiz und der Dictamina der Contraloría. Die Anmasssung dem Präsidenten nicht zustehender Kompetenzen auf der einen Seite und die Unterwerfung Allendes unter die Diktate der politischen Komitées der Parteien und Extremisten.

[…]

Auch die zahllosen Ausländer, die widerrechtlich sich im Lande aufhalten (und die Stosstrupps der Anarchisten bilden) müssen sich sofort stellen. Wie aus ho. Bericht Zl. 215-Res/73 v. 14. 8. 73 seinerzeit berichtet worden ist, befindet sich unter diesen Elementen auch eine österreichische Staatsbürgerin Dr. Kaltenegger [Dr. Marie Luise Kaltenegger].

19. September 1973. Zl. 70-Pol/73. Vorbereitung der Ermordung hohen Militärs und eines Blutbades durch die Regierung Allendes.

Soweit übersehen werden kann, hat die Junta wirklich den letztmöglichen Termin zum Losschlagen gewählt. In dem aufgesprengten Panzerschrank des Subsecretario für Inneres wurden genaue Unterlagen gefunden, dass die Regierung Allende geplant hat, am 17. d. M. während der Generalprobe für die Parade die Spitzen der Wehrmacht und zahlreiche gegnerische Politiker, Journalisten etc. ermorden zu lassen.

Es sollten auch die Quartiere der bürgerlichen Kreise überfallen werden und eine richtige Bartholomäusnacht stattfinden.

Als Basis für die Gefolgschaft der Regierung sollten die als Festungen ausgebauten Fabriken und gewisse andere Objekte wie Staatsdruckerei und Juristische Fakultät dienen. Ein derartiges Chaos wurde durch die Erhebung des Militärs verhütet.

Es ist auch festzuhalten, dass auf der in anarchistischen Händen befindlichen Technischen Universität die Extremisten bereits um 7 Uhr losschlugen, während der Aufmarsch der Wehrmacht vor der Residenz Allendes und der Moneda erst etwa um 9 Uhr begann.  

24. September 1973. Zl. 72-Pol/73. Die Ereignisse seit 11. September 1973 aus Santiaginer Sicht.

[…] Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass Allende nicht allein dauernd schwere Rechtsbrüche gewähren liess, sondern an der Vorbereitung eines Bürgerkrieges mitbeteiligt war, während er immer vorgeben wollte, dass er einen solchen vermeiden wolle. Nicht bloss, dass in seiner Residenz und in der Moneda ungeheuere nunmehr detailliert bekanntgegebene Mengen von Waffen bis zur Rakete und Panzerabwehrwaffen gelagert waren, befand sich in seinem 23 km vom Zentrum entfernt gelegenen Landsitz, in dem er die Wochenenden mit seiner Freundin, einer Extremistin, zu verbringen pflegte, eine Fabrik zur Bombenherstellung sowie eine grosszügig angelegte Schule mit Interna für Guerrilleros. Es fand sich auch ein komplettes Lazarett. […] Weiters wurde im Safe des Innenministers Dokumente gefunden, die genaue Anweisungen für ein am 17. 9. beabsichtigtes fürchterliches Gemetzel enthielten. Dieses Gemetzel sollte beginnen, während die Generalprobe der Wehrmacht für die übliche Parade am 19. 9. in Santiago abgehalten werden sollte. Man suchte also einen Moment zu benützen, an dem eine wirksame Gegenwehr der Wehrmacht umso mehr beeinträchtigt gewesen wäre, als etwa zur gleichen Zeit die Marine eine grosse Parade in Valparaíso probte und ähnliche Proben in allen Garnisonen stattfinden sollten. Diese Vorbereitungen eines Gemetzels durch den Innenminister in der Moneda konnten Allende nicht unbekannt sein. Es wurden auch bei einer Hausdurchsuchung im Regionalsekretariat der SP in Concepción Listen gefunden, dass 600 Familien in der Stadt Concepción allein (einer typischen Kleinstadt) mit Frauen und Kinder am 17. 9. ermordet werden sollten. Auf den Listen waren höchste Offiziere, sowie Richter, Politiker und Journalisten der Mehrheitsparteien, Verwaltungsbeamte, Universitätsprofessoren mit ihren Familien usw. Ähnliche Unterlagen wurden für ein Gemetzel im Kriegshafen Talcahuano sichergestellt, sowie in der Botschaft benachbarten Häuser.

Die Erhebung der Wehrmacht am 11. d. M. unterscheidet sich daher wesentlich von einem der üblichen Militärputsche in Südamerika. Die Erhebung des Militärs in letzter Stunde war ein Akt der Selbsterhaltung und der Rettung wohl von hunderttausenden Menschenleben (man spricht von einer Million), darunter der chilenischen Elite, soweit sie nicht in den letzten drei Jahren emigriert ist. Auch diese Vorbereitungen in der Provinz konnten Allende nicht verborgen bleiben. Allende entzog sich der Verantwortung durch einen Selbstmord. Die Antwort auf den nach dem Aufmarsch vor der Moneda erfolgten Aufruf Allendes >que las fuerzas armadas deben cumplir con su deber< [dass die Streitkräfte ihre Pflicht tun müssen] war, dass alle Militärs, Carabineros und 12 Kriminalbeamte die Moneda verliessen, um sich auf die Seite ihrer Kameraden zu stellen. Bei Allende blieben schliesslich nur seine extremistischen Partisanenfreunde, acht Kriminalbeamte und verschiedene schwer bewaffnete Funktionäre. Bevor die Regierungssender zum Schweigen gebracht wurden, waren die letzten Worte Allendes im Äther: >posiblemente es la última vez que escuchen mi voz< [Das werden wahrscheinlich die letzten Worte sein, die sie von mir hören]. Es soll in diesem Zusammenhang gar nicht von mit Allendes im Widerspruch stehenden Lebensführung, von zehntausenden Dollar Fluchtkapital usw. gesprochen werden. 

Die Lage des Militärs wurde auch dadurch erschwert, dass 16–18.000 meist lateinamerikanische Guerrilleros, darunter Tupamaros, sich im Lande aufhielten, die im Besitz grosser Waffenmengen waren, dass seit dem 29. 6. ungeheuere Waffenmengen unter den UP-Angehörigen verteilt, zahllose Fabriken und andere Objekte in strategischer Lage zu richtigen Festungen ausgebaut worden waren. Es wäre daher nach dem ersten Gemetzel am 17. 9. eine Situation entstanden, wie sie aus dem spanischen Bürgerkrieg allgemein bekannt ist Während Allende ein Gesetz zur Kontrolle der Waffen durch das Militär verlautbarte, hat er Millionen Waffen unter seine Anhänger verteilt und schuf eine meist aus Ausländern bestehende Paralleltruppe. […]

Es wurden zwar bisher sehr wenige Mitteilungen über die Zahl der Toten, Verwundeten und Angehaltenen gemacht, verschiedene Rundfunkmeldungen aber gehören in den Bereich der Phantasie. Standrechtliche Erschiessungen wurden bisher nur einige bekanntgegeben. Es handelt sich um Fälle, die auch in europäischen Ländern unter ähnlichen Bedingungen vollzogen worden wäre. Es scheinen etwa 10.000 angehalten worden zu sein und zwar im Stadion von Santiago etwa 7.000. Das Internationale Rote Kreuz hat bereits die Möglichkeit sie zu besuchen gehabt, ebenso die internationale Presse (letztere allerdings ohne Sprechmöglichkeit). Etwa 1000 wurden bereits auf die Robinson Crusoe-Insel transportiert. Zahlreiche Minister, darunter auch Aussenminister Almeyda [Clodomiro Almeyda (1923–1997)] wurden auf der Insel Dawson in der Gegend von Punta Arenas im äussersten Süden interniert. Nicht nur eine Gefährdung des Militärs, sondern auch der Zivilbevölkerung haben bisher die Franktireure verursacht. Nicht nur in den Nächten der ersten Woche, auch bei Tag haben ausländische Extremisten von Luxuswohnungen aus auf Militär und Zivilisten geschossen, darunter auch von einem Hochhaus neben der Botschaftskanzlei. Während rechtschaffene Chilenen abgebaut wurden, haben zahlreiche ausländische Extremisten Posten mit hohen Gehältern (zum Teil sogar in harter Währung) erhalten, wodurch sie sich in den elegantesten Gebieten der Stadt Luxuswohnungen halten konnten. […]

Das Leben ist weit weniger aufregend geworden und es kann der Eindruck gewonnen werden, dass die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung aufatmet, nicht nur die Oberschicht, sondern breite Massen der Bevölkerung. […]

Die Parteien, die über die Majorität im aufgelösten Parlament verfügten, haben sofort der Junta ihr Vertrauen zum Ausdruck gebracht, ebenso Oberster Gerichtshof und Contraloría, nebst zahllosen Berufsverbänden. Es kann also mit Fug und Recht behauptet werden, dass die Majorität des Volkes auf Seiten der derzeitigen Regierung steht, was Allende nicht für sich in Anspruch nehmen konnte, da er trotz eines ungeheueren Wahlschwindels auch nicht annähernd die Hälfte der Stimmen bei der letzten Kongresswahl erhalten konnte, so wie er bei der Präsidentenwahl nur etwa 1/3 der Wählerstimmen erreicht hat. Im übrigen hat er sich vorwiegend auf heimatlose Extremisten gestützt. […]

1.Oktober 1973. Zl. 76-Pol/73. Neue Mitteilungen eines Juntamitgliedes über die Umsturzpläne der UP.

Eine Juntamitglied, nämlich Admiral [José] Toribio Merino [(1915–1996)], hat kürzlich neue Details über die von der UP vorbereiteten Pläne und die eigenen Vorbereitungen bekanntgegeben.

Die UP hatte zwei Pläne, und zwar der Plan Z Alfa für Santiago und den Plan z Bravo für Valparaíso. Der Plan sah vor, um 1 Uhr nachts nicht nur die Offiziere vom Hauptmann aufwärts, sondern auch gegnerische Politiker, Mitglieder der Innungen, Journalisten usw. zu ermorden. Einerseits sollte die Wehrmacht ihrer Oberbefehlshaber, andererseits die Opposition ihrer Köpfe beraubt werden. Das Zeichen zur Verwirklichung des Planes sollte Allende geben, so dass er die Schlüsselfigur dieses verbrecherischen Anschlages war.

[…] Zweck der Erhebung war einerseits, den Plan der UP, ein Gemetzel durchzuführen, zu vereiteln, andererseits die Einführung einer marxistischen Diktatur in Chile zu verhindern. 

5. Oktober 1973. Zl. 78-Pol/73. Die Massnahmen der neuen Regierung zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Schichten. 

[…] Zufolge vorgefundenen Dokumenten hatte Allende selbst sogar das Signal zur Auslösung eines Blutbades unter den Offizieren und oppositionellen Kreisen geben sollen (Zl. 76-Pol/73). Offensichtlich um die Furcht der wirtschaftlich schwächeren Schichten, man werde nunmehr zu den sozialen Verhältnissen vor der Regierung Allende zurückkehren, zu zerstreuen, hat die Junta noch während des Kampfes in einem ihrer ersten Dekrete ausdrücklich erklärt, dass an den sozialen Errungenschaften der letzten Jahre nicht gerüttelt werden dürfe.

[…] Als Beispiel für die seinen Reden krass widersprechende Verschwendung Allendes auf Kosten der Bevölkerung sei nur erwähnt, dass er sich jüngst auf Rechnung des Staates einen Luxusbus von den Mercedes-Werken kommen ließ, wie ihn sonst nur noch vier Ölscheichs auf der ganzen Welt besitzen. Der Salon in diesem Bus ist mit allem erdenklichem Luxus ausgestattet, mit Kino- und Fernsehanlagen, Luxusteppichen usw. Dieser Wagen soll etwa US$ 185.000.- gekostet haben. Auch in seinen Residenzen wurden genügend Beweise gefunden, dass er ein weitaus luxuriöseres Leben geführt hat als selbst die gewiss nicht spartanische Oberschicht Chiles. Es ist nunmehr auch bekannt geworden, dass Allende neben seiner Residenz Tomás Moro und einem Haus auch mehrere Luxusvillen besessen hat. Alles war mit größtem Luxus eingerichtet.

9. Oktober 1973. Zl. 79-Pol/73. Weitere Details über die Umsturzpläne der UP. Verfolg Zl. 76-Pol/73 u. 70-Pol/73.

Es wurden nunmehr weitere Unterlagen betreffend den Plan Z der UP, über den bereits berichtet worden ist, gefunden. Es sollten zwar zunächst die Offiziere mit Familien sowie oppositionelle Politiker und Journalisten und Funktionäre der Innungen umgebracht werden, aber danach sogar zahlreiche führende Köpfe der UP, sowie sie dem anarchistischen ehemaligen Generalsekretär der SP Carlos Altamirano [(1922–2019)] im Wege gestanden wären. […] Der prominenteste zur Liquidierung bestimmte Mann war aber Allende. Während diese ganzen Liquidierungen von extremistischen Kommandos unter Leitung der ausländischen Extremisten durchgeführt werden sollten, wollte man die Schuld an der Liquidierung Allendes der rechtsextremistischen Organisation Patria y Libertad zuschieben. Mit der Ermordung Allendes wollte man das Volk aufputschen, weitere Ermordungen unter der den Linksextremisten feindlich gesinnten Kreisen durchzuführen. Militante Elemente standen jedoch nicht auf den Listen. Einer der Urheber dieser makabren Pläne ist der Chef der kubanischen Geheimpolizei Manuel Pineiro [(1933–1998)] gewesen. Der Plan für ein Gemetzel soll bis auf den langen Aufenthalt Fidel Castros in Santiago im November und Dezember 71 zurückgehen. Nach dem Gemetzel wollte man die „República Democrática de Chile“ ausrufen.  

10. Oktober 1973. Zl. 84-Pol/73. Zu ersten Rede des chilenischen Aussenministers vor den Vereinten Nationen.

Der neue Aussenminister Vizeadmiral Ismael Huerta [(1916–1997)] hat am 9. d. M. seine erste Rede vor den Vereinten Nationen gehalten. Von der Vorlage einer Übersetzung dieser Rede darf infolge der Überlastung des Botschaftspersonals deswegen abgesehen werden, weil die englische und französische Übersetzung bei der österreichischen UNO-Vertretung beschafft werden kann und möglicherweise auch die chilenische Botschaft in Wien eine deutsche Übersetzung hergestellt haben dürfe.

Die in dieser Rede behandelten Materien waren ausnahmslos der hiesigen Botschaft – zum Teil sogar seit langem – bekannt und wurde über diese Punkte im Laufe der letzten eineinhalb Jahre von der Botschaft ausführlich berichtet. Selbst politisch interessierte Kreise im Ausland dürften jedoch über viele in der Rede behandelte Themen nicht oder unzureichend informiert gewesen sein.

Auch manche durchaus um Objektivität bemühte Zeitungen hatten ein falsches Bild sowohl über die Regierungszeit Allendes, als auch über die Ereignisse der letzten Monate verbreitet. So war z. B. manchen Kreisen nicht bekannt, dass Allende unter der Maske eines Demokraten die Rechtsstaatlichkeit systematisch zerstörte und an der Vorbereitung eines Bürgerkrieges beteiligt war, während er vorgab, einen solchen vermeiden zu wollen. Ein solches Image konnte er auch dadurch leichter verbreiten als seine äussere Erscheinung anders als die seines engen Freundes Fidel Castro war. Er führte auch eine äusserst luxuriöse Lebenshaltung trotz grösster wachsender Armut des Landes.

Man kann über die während der letzten Jahre sich übersteigenden Ereignisse in Chile aber nur dann Bescheid wissen, wenn man im Lande lebt und viel Zeit für die Beschaffung des Materials verwendet. Selbst von Buenos Aires oder Lima aus konnten Korrespondenten vieles nicht in Erfahrung bringen.

Die Ausführungen des Aussenministers vor den Vereinten Nationen entsprechen der Wahrheit, wenn sie auch von verschiedenen Ländern und Kreisen als unwahr hingestellt werden sollten, so wie man andererseits die Rechts- und Verfassungsbrüche, die Untergrabung des Rechtsstaates durch Allende usw. nicht wahrhaben wollte. Den grösseren Teil der in der Rede behandelten Ereignisse hat der gefertigte Missionschef selbst beobachten können und ein Vergleich mit seinen Berichten kann beweisen, dass er in den letzten eineinhalb Jahren die von dem Minister behandelten Themen im wesentlichen so dargestellt hat wie sie nunmehr der Minister vor den Vereinten Nationen behandelt hat.

Abgesehen davon, dass viele dieser Tatsachen im Ausland lebenden Personen nicht bekannt sind, besteht der Wert der Rede auch darin, dass in engem Rahmen die wichtigsten politischen Ereignisse der letzten Jahre kurz und präzise dargestellt wurden.

Ich vermute, dass diese Rede weitgehend aus der Feder des Aseso Político des Aussenministeriums Bernstein [Enrique Bernstein Carabantes (1910–1990)], einem grossen Freund Österreichs, stammt. Der Genannte war bisher Director de Relaciones Internacionales.

Übrigens sind im hiesigen Aussenministerium die meisten nicht erst während der Zeit Allendes neu aufgenommene Funktionäre entweder auf ihren Posten verblieben oder auf höhere Posten aufgestiegen.

10. Oktober 1973. Zl. 81-Pol/73. Politische Wandlung des Kardinal-Erzbischofs von Santiago. Verfolg Zl. 73-Pol/73.

Nach meinem Antrittsbesuch und auch später habe ich mehrmals über die politische Einstellung des Kardinal-Erzbischofs von Santiago Raúl Silva Henríquez berichtet. Vor einiger Zeit hat er auch eine Broschüre veröffentlicht, in der seine damalige Einstellung festgehalten erscheint. In den ersten Tagen nach dem 11. 9. 73 hat er in verschiedenen Enunziationen noch starke Affinität zu dem Regime Allende gezeigt.

Die große Wandlung ist bei dem auf die Teilnahme der Junta und Regierung sowie wenige hohe Funktionäre beschränkten Te Deum am Nationalfeiertag (dem 18. 9.) gekommen. Das Diplomatische Corps war nicht eingeladen gewesen. Die Feier hat auch nicht in der Kathedrale, sondern in einer kleinen vom Militär hermetisch abgeschlossenen Kirche stattgefunden.

In den letzten Wochen hat sich die Anlehnung des Kardinals an die neue Regierung wesentlich verstärkt. Sie ist beispielsweise gelegentlich seines Antrittsbesuches bei der Junta und des Gegenbesuchs letzterer bei ihm in der Öffentlichkeit bekanntgeworden.

Der Kardinal äusserte hiebei nicht nur seine grosse Besorgnis über das derzeitige schlechte Image Chile im Ausland, sondern er sprach sich sogar nachdrücklich gegen eine Erklärung des Heiligen Vaters über Chile am letzten Sonntag aus. Der Text dieser Erklärung des Heiligen Vaters ist zwar der Botschaft nicht bekanntgeworden, da die chilenische Presse sie nicht publiziert hat, aber es scheint, dass sie kritisch gewesen ist. Der Kardinal erklärt in einem Interview, dass der Heilige Vater offensichtlich schlechte Informanten gehabt habe. […] Der Kardinal erklärte, die chilenische Kirche habe stets herzliche Beziehungen mit den Regierungen unterhalten, sie wünsche zu dienen. […] 


[1] Lenin, Werke 11 (1974), S. 380.

[2] Aus Reden des Präsidenten, S. 217–220.

[3] MEW 17 (1973), S. 339.

[4] Über den Fortschritt der Völker. Die Entwicklungsenzyklika Papst Pauls VI. Populorum Progressio. Mit einem Kommentar sowie einer Einführung von Heinrich Krauss SJ. Herder Bücherei Freiburg i. B. 1967. 

[5] Internationales Institut für den Frieden Wien. Wissenschaft und Frieden. Wissenschaftliches Symposium. Moskau, 11.–13. September 1973.

[6] Leonor Ossa: Die Revolution – das ist ein Buch und ein freier Mensch. Zur Inkulturation des Christentums in Lateinamerika. Furche-Verlag Hamburg 1973, S. 74.

[7] Leonor Ossa: Christliche Basis-Gemeinden und die Zuspitzung sozialer Auseinandersetzungen in Chile. Untersuchungen zur Ideologie der „Christen für den Sozialismus“ in Chile zur Zeit der Volksregierung (1970–1973). Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Dr. der Philosophie im Fachbereich Religionswissenschaften der Johann-Wolfgang v. Goethe-Universität. Peter Lang Verlag Frankfurt a. M. / Bern / Las Vegas 1977, S. 70–81 (Vortragstext Gutiérrez).

[8] Ediciones Sigueme, Salamanca. Gustavo Gutiérrez: Theologie der Befreiung. Mit einem Vorwort von Johann Baptist Metz. Kaiser Verlag München 1973.

[9] Luis Corvalán: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Dietz Verlag Berlin 1983, S. 150.

[10] Markus Wolf: In eigenem Auftrag. Bekenntnisse und Einsichten. Schneekluth München 1991, S. 49.

[11] Mit etwas anderem Wortlaut Jean Ziegler: Die Neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher. Aus dem Französischen überteagen von Holger Fliessbach. C- Bertelsmann Verlag München, 6. A. 2002, S. 235 f.

[12] Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin 1973.

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