HomeFeuilletonHeiligenverehrung in der Welt von Juristinnen und Juristen

Heiligenverehrung in der Welt von Juristinnen und Juristen

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Der aus der Bretagne stammende Ivo (Yves) Hélory (1253–1303) de Kermartin gilt wegen seines Einsatzes für arme und unterdrückte Menschen vor Gericht seit 1347 als „Heiliger“. Von der Bretagne und Frankreich aus breitete sich seine Verehrung bis nach Wien aus. Der Hl. Ivo hat, jedenfalls in Wien, mit Hans Kelsen (1881–1973) laizistische Konkurrenz erhalten. Über ihn hat Thomas Olechowski eine über tausend Seiten starke Biographie publiziert (2020, Mohr Siebeck Verlag).

Die ersten Karriereambitionen von Kelsen waren verknüpft mit dem Austritt des 24jährigen Kelsen aus der Israelitischen Kultusgemeinde und mit seiner mit der Formel „Horresce Iudaicam Perfidiam“ verknüpfte römisch-katholische Taufe durch einen Jesuiten (1905). Sein Übertritt zur evangelischen Kirche erfolgte sieben Jahre später. Der mit der Welt der Wissenschaften bestens vertraute Mathematiker Wilhelm Frank hat gemeint, diese Konversion sei mehr dem Freimaurertum von Kelsen geschuldet. Von Wien aus ist Kelsen über Köln (1930), Genf (1933) und Prag (1936) 1940 in den USA (1940) angekommen. Seine neue Konfession war jetzt bis zum Lebensende „the American way of life“. Er stilisierte sich nicht mehr als deutscher Rechtsdenker, jetzt war er weißer US-Amerikaner mit jüdischer Herkunft und inspirierte als solcher das Rechtssystem der „amerikanischen Idee“. Besonders deutlich wird diese Haltung durch seine Tätigkeit für das U. S. Naval War College (1953/54). Das wird ihm ein schöner Relaunch seiner von Jugend an gepflegten militaristischen Ambitionen in der k. u. k. Wehrmacht gewesen sein. Bekanntlich war Kelsen, der seinen Fronteinsatz geschickt umschiffen hatte können, als Hauptmann-Auditor letzter Berater des letzten Kriegsministers des letzten Kaisers von Österreich. Als solcher hat er eine „für alle Verhältnisse“ passende Wehrmachtskonstruktion für die k. u. k. Monarchie vorbereitet. Unmittelbar nach Ende der Habsburgermonarchie hat Kelsen dank eher zufälliger Bekanntschaft mit Karl Renner „Verfassung“ geschrieben: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus“. Ein Grundrechtskatalog war damit nicht verknüpft und die Frage, wer konkret das „Volk“ ist, brillant bei Seite geschoben. Der im selben Jahr wie Kelsen geborene Jesuit Pierre Teilhard de Chardin hat festgestellt, dass die bürgerliche Demokratie droht, „die mit ihr geborenen Hoffnungen auf eine menschliche Zukunft zu gefährden“. Wichtig war Kelsen, dass die Bourgeoisie mit seiner Verfassung den ihrer Klassenherrschaft angepassten ideologischen Staatstalar erhält. Die Verfassung für Österreich zu schreiben war Kelsen zu wenig, er wollte ihr eine großdeutsche Geltung verschaffen. Anfang 1926 qualifizierte Kelsen das Österreich seiner Verfassung so: „Weder historische noch nationale, noch religiöse, noch kulturelle Gründe sind es, die das heutige Österreich rechtfertigen können, das nichts anderes ist als ein willkürlicher Fetzen Landes …“. Kelsen ergriff dabei „für uns Deutsche“ das Wort, wobei ihm gerade seine „Deutschen“ das Judentum vorwarfen.

Kelsen wusste nicht, was Gerechtigkeit ist (1953). Friedrich Dürrenmatt hat in seinem Kurs für Zeitgenossen (1952) den Henker auf die Frage über Gerechtigkeit antworten lassen: „Die Gerechtigkeit ist eine Sache von euch da draußen, denke ich. Wer soll auch klug werden daraus. Ihr habt ja immer wieder eine andere“. Kelsen lässt im Prozess des römischen Statthalters Pilatus gegen Jesus von Nazareth Pilatus die Frage „Was ist Wahrheit?“ stellen. Hinter dieser Frage stelle sich, meint Kelsen, „die ewige Frage der Menschheit: Was ist Gerechtigkeit?“ Damit will Kelsen im Grunde, dass aus dem Leben des historischen Jesu, das ein Leben in befreiender Wahrheit für die Unterdrückten war, keine konkreten Folgerungen gezogen werden sollen. Dieser Jesus hat mit Pilatus keinen rechtsphilosophischen Disput geführt, er hat für die gekreuzigten Völker das Kreuz auf sich genommen, er hat die Entmachteten zum Widerstand ermächtigt und für ihren Kampf um Befreiung ihnen die Vision einer neuen Ordnung der Gleichheit der Menschen gegeben. Kelsen wird von den Pharisäern der westlichen, von Gier und Konsumismus, von Gleichgültigkeit gegenüber den Armen, Migranten, Flüchtlingen und Vertriebenen geprägten Demokratien zurecht auf ihr Podest gehoben.

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