Über die ideologische Gemeinsamkeit von katholischen und jüdischen Reliquien
Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
101 Jahre Salzburger Festspiele sind für das Jüdische Museum in der Wiener Dorotheergasse (I. Bezirk) Anstoß, vom 14. Juli 2021 bis 21. November 2021 eine Ausstellung „Jedermanns Juden“ zu arrangieren. Im Auftrag des Jüdischen Museums wurde dazu von Marcus G. Patka und Sabine Fellner im Salzburger Residenz Verlag ein schön bebildertes Buch mit Beiträgen mehrerer Autoren herausgegeben (308 Seiten).[i] Fellner („… da ja gerade die Reinhardtschen Inszenierungen unendlich viel dazu beigetragen haben, Salzburgs Ruf als Festspielstadt in aller Welt zu begründen. Max Reinhardts Regiearbeit“) und Patka („Salzburg versus Bayreuth. Der Umgang des NS-Regimes mit der katholischen Konkurrenz aus dem Süden“) sind mit eigenen Beiträgen vertreten.
Danielle Spera, verdienstvolle Leiterin des Jüdischen Museums, betitelt ihr Vorwort „Der Pilgerort Europas“ und unterstreicht darin den 1919 von Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) gegenüber der Wiener jüdischen Journalistin Berta Zuckerkandl (1864–1945) geäußerten Optimismus über sein mit Max Reinhardt (1873–1943) entworfenes Projekt, es werde der Tag kommen, „an dem die ganze Welt zu unseren Salzburger Festspielen pilgern wird“. Spera schreibt: „Nachdem am 22. August 1920 die erste Jedermann-Aufführung über die Bühne gegangen war, wurde Salzburg zum Inbegriff für innovatives Theater auf Freiluftbühnen, Musik in absoluter Perfektion und Tanz als Ausdruck der Avantgarde. Theater an ungewöhnlichen Orten, wie dem Domplatz oder der Felsenreitschule, wurde zur Trademark für die Festspiele“. Der verlogene Jedermann blieb in Salzburg seither obligatorisch und sicherte den Erfolg. Hofmannsthal entstammt einer 1835 geadelten jüdischen Bankiersfamilie und war in der zweiten Generation katholisch. Er schrieb Texte zu vielen Opern von Richard Strauß (1864–1949). Reinhardt (eigentlich Goldmann) prägte als Theaterleiter und Regisseur die deutsche und österreichische Theatergeschichte und war vom „Theater“ der Hochämter der katholischen Kirche beeinflusst.[ii]
Die Verehrung von Überresten und Gebrauchsgegenständen von Menschen, denen man zauberhafte Kraft zuschrieb, war in allen Religionen zuhause. Seit der Antike ist mit Gräbern der Heroen ein Totenkult verbunden, der in direkter Linie zu den Märtyrergräbern der Katholischen Kirche führt.[iii] Ab dem 4. Jahrhundert wird die Verehrung von tatsächlichen oder vermeintlichen Überresten ihrer Heiligen offiziell dann erlaubt, wenn es der Vatikanhierarchie nützlich erscheint. Die beiden Theologen Karl Rahner (1904–1984) und Herbert Vorgrimler (1929–2014) waren in ihrer Einschätzung des katholisch kirchlichen Reliquienkultes etwas zögerlich, sie wussten, „dass die konkreten Formen solcher Verehrung sehr dem Zeitgeschmack unterworfen sind und nicht alle jedem Menschen zusagen“.[iv]
Im Wiener Stephansdom wird seit 2019 eine in einer Kapsel gefasste Reliquie mit Haaren des 2014 von der katholischen Kirche heiliggesprochen Papstes Johannes Paul II. (1920–2005, Papst seit 1975) gezeigt. Bei der Übergabe dieser Kapsel mit den Papsthaaren an die Dompfarre von St. Stephan zelebrierte der polnische Erzbischof Mieczyslaw Mokrzycki in einem von Papst Johannes Paul II. getragenen Messgewand.[v] Unterhalb eines vom Wiener Künstler Bernd Fasching gemalten Porträts (Tondo) des Papstes in der im westlichen Eingangsbereich des Stephansdoms gelegenen Eligiuskapelle ist diese Haarlocke des langjährigen Repräsentanten der Katholischen Kirche ausgestellt und soll die „Pilger aus aller Welt“ zum andächtigen Innehalten einladen.
Im knapp fünf Gehminuten vom Stephansdom entfernten Jüdischen Museum Wien dürfen Besucher aus „aller Welt“ Reliquien des Juden Max Reinhart verehren. „Pilger aus aller Welt“, unter denen sich „nur“ Touristen mischen werden, dürfen vor einer eigenen Vitrine das von Max Reinhardt um 1928 benützte „Reisenecessaire“ mit Haarbürste etc. ihre eigenen Nachlässigkeiten bereuen. Falls ihnen das aber zu detailliert wird, werden sie „Die letzte Zigarre aus dem Bestand von Max Reinhardt, um 1943“ aus der privaten Reliquiensammlung von Michael Heltau zum stillen Anlass nehmen, um ihre Heiligenverehrung für Reinhardt konkret werden zu lassen.
Gibt es eine ideologische Verbindung zwischen dem polnisch katholischen Papst Johannes Paul II. und dem jüdischen Theaterregisseur Max Reinhardt? Beide sind Symbolfiguren der Herrschaft des Reichtums über die hunderten Millionen von versklavten und hungernden Armen der Welt und stehen für jene Verkehrung des jüdischen und christlichen Messianismus in der Gegenwart, die es eigentlich umzukehren gilt. Aus den Salzburger „Weltspielen“ das angeblich speziell Jüdische hervorzuholen, ist vom verseuchten Zeitgeist unserer notabene weißen europäischen Herrschaftswelt angeleitet und hilft in der Tragödie der Wirklichkeit unserer Welt nicht weiter. Papst Johannes Paul II. hat sich mit seinen Enzykliken von der seit dem Vatikanischen Konzil (1962–1965) sich entwickelnden katholischen Soziallehre inhaltlich distanziert und ist für das notfalls mit Gewalt zu verteidigenden „Privateigentum“ der Reichen eingetreten. Er war an einer dem Evangelium mit allen Konsequenzen dienenden Kirche nicht interessiert. Einer der führenden Figuren des auch im Umfeld des österreichischen diktatorischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz berüchtigten „Opus Dei“ ist Martin Rhonheimer. Der beklagt im Juli-Heft der Deutschen Herder Korrespondenz, dass der seit 2013 amtierende Papst Franziskus die Rolle des Privateigentums bei der Entwicklung der Menschheit bedauerlicherweise relativiere, und forderte auf, dass die Güter der Reichen zu schützen sind, besonders auch in jenen Entwicklungsländern, die auf die Idee kommen, einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus einzuschlagen.[vi] Von Johannes Paul II. wurde „Opus Dei“ zur päpstlichen Prälatur angehoben worden ist, um damit seine reaktionäre, von Blutopfern begleitete Tätigkeit institutionell anzuheben. Die Parteinahme des Papstes Franziskus für die etwa 40 Millionen Menschen, davon fast ein Drittel Kinder, die Opfer von Menschenhandel sind, oder für die mehr als 150 Millionen Kinder, die zu Kinderarbeit versklavt werden, tritt in den Hintergrund, es geht solchen Figuren nur um das Wohlergehen der Reichen, die immer reicher werden.
Der durch die Gewalt des Reichtums versursachte Tod der Armen darf nicht übersehen werden. Das Wegschauen steht aber schon am Beginn der Salzburger Festspiele mit all ihrem Firlefanz nicht nur auf dem Domplatz, wo vor diesen die Uraufführung der Fronleichnamsprozession als katholisches „Theaterstück“ mit passender Tracht stattgefunden hat und stattfindet. Das Foto einer solchen religiösen Prunkveranstaltung findet sich im Katalog zur Ausstellung des Jüdischen Museums. Zu den Finanziers von Hofmeister und Reinhardt für Salzburgs Jedermann gehörten nicht die Wiener Textilarbeiter, sondern die aus jüdischen Familien von Textilindustriellen stammenden Irene geb. Redlich (1882–1944), die von den Deutschen in Auschwitz ermordet worden ist, und Paul Hellmann (1876–1938), der in Wien vor seiner Verschickung in ein Todeslager verstorben ist. Der Wissenschaftsjournalist der Wiener Zeitung „Der Standard“ Klaus Taschwer schreibt im Katalog des Jüdischen Museums über deren Leben (S. 47–51), auf Archivalien gestützt und versiert. Die Hellmanns gaben in ihrer Wiener Wohnung (Günthergasse1) in unmittelbarer Nähe zur Votivkirche Einladungen zu Dichterlesungen und Hausmusikabenden. Ihre Sommerresidenz hatten sie in Altaussee. „Der Textilfabrikant“, so Taschwer, „der vor dem Ersten Weltkrieg zu den zahlreichen Millionären Wiens zählte, sei selbst ein exzellenter Geiger gewesen und habe drei Stradivaris besessen. Gustav Mahler (1860–1911) war Gast im Anwesen der Familie Hellmann im heute tschechischen Hodonice (Göding). Die beigegebenen Fotos der Hellmanns, die mit ihrer Kleidung Reichtum und Schönheit demonstrierten, würden gut zu dem von der Ethnologin und Philosophin Elsbeth Wallnöfer verfassten Buch über „Tracht-Macht-Politik“ passen. Im Kontext werden dort solche gesellschaftlichen Gruppen, wie sie die Hellmanns repräsentieren, mit ihren Kostümen historisch materialistisch vermittelt.[vii] Taschwer vermittelt die Wirklichkeit des reichen Wiens. Eine andere Wirklichkeit in Wien hat der in Philadelphia geborene ukrainische Jude Louis Fischer (1896–1970) wahrgenommen. Er hat nach einem Monat Aufenthalt am 1. März 1922 in der „New York Post“ geschrieben: „Wien, bekannt für seinen Frohsinn und sein vergnügtes Nachtleben, wird grauenerregend, sobald es dunkel wird. Es herrscht eine eigenartige Abgestumpftheit und Reglosigkeit. Die Straßen sind nur schwach beleuchtet. Doch in der Gegend der eleganten Cafés, in der Nähe der Oper und der teuren Theater, in der Nachbarschaft hochmoderner Hotels ist Licht und Leben, sind hupende Taxis, Musik, viel Wein und gutangezogene Leute“.[viii] Der lateinamerikanische Befreiungstheologe Jon Sobrino SJ (*1938) gibt Zeugnis von der Notwendigkeit, eine kranke Zivilisation zu vermenschlichen. Er bemerkte einmal: „Prunk und Pracht – manchmal glamour – ist in einer Welt des Elends eine grobe Beleidigung“. Der religiöse Prunk muss ebenso wie der Prunk von „Weltfestspielen“ à la Salzburg einer Prüfung unterzogen werden.[ix]
[i] Jedermanns Juden, Markus G. Patka, Sabine Fellner, Markus G. Patka, Sabine Fellner. Residenz Verlag
[ii] Beide Namen finden sich in dem noch 1934 in Berlin herausgegebenen Handbuch des jüdischen Wissens (Philo-Lexikon), an welchem zahlreiche Rabbiner mitgearbeitet haben.Philo Verlag G. m. b. H., Berlin. Hg. und Redaktion: Emanuel bin Gorion / Dr. Alfred Loewenberg / Dr. Otto Neuburger / Hans Oppenheimer.
[iii] Lexikon der Antike. Hg. von Johannes Irmscher in Zusammenarbeit mit Renate Johne. Gondrom Verlag Bindlach (Sonderausgabe), 8. A. 1987, S. 472.
[iv] Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines Theologisches Wörterbuch. Herderbücherei Freiburg i. Br. 1961, S. 317.
[v] kathpress vom 8. Mai 2020.
[vi] Martin Rhonheimer: Warum Eigentum sozial ist. Herder Korrespondenz 7 / 2021, S. 45–49.
[vii] Haymon Verlag Innsbruck / Wien 2020.
[viii] Arthur Koestler / Ignazio Silone / Richard Wright / André Gide / Louis Fischer / Stephan Spender: Ein Gott der keiner war. dtv. Dokumente 1962, S. 197.
[ix] Jon Sobrino: Eine kranke Zivilisation vermenschlichen. Concilium 1 (2009), S. 55–65.