Zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele darf der „Jedermann“ trotz CoViD-19-Pandemie nicht fehlen – immerhin finden die Aufführungen ja im Freien statt, solange es nicht regnet. Das bürgerliche Risikogruppen-Publikum bekommt, was es braucht.
Salzburg. Am Domplatz wird ab heute wieder – wie jeden Sommer – theatralisch gestorben, in 14 Vorstellungen von 1. bis 26. August. Und zwar wird auf der Bühne das „Sterben des reichen Mannes“ gegeben, nach den Vorgaben Hugo von Hofmannsthals. Das hat Tradition, nämlich seit genau einem Jahrhundert, seit 1920. Wenn in Österreich wo „Tradition“ draufsteht, dann ist allerdings meistens wenig drinnen. „Être fidèle à la tradition, c’est être fidèle à la flamme et non à la cendre“, lautet ein bekanntes Zitat von Jean Jaurès: Einer Tradition treu zu sein, bedeute, der Flamme treu zu sein und nicht der Asche. Nun wird bei den Salzburger Festspielen, heuer Corona-mäßig ein wenig reduziert, seit genau 100 Jahren fleißig ein bissel Asche aufs reiche, bürgerliche Häupterl gestreut, ein Fünkchen springt nicht über. Aber das war und ist freilich auch so intendiert und konzipiert.
Zerrbild von Glauben und Moral
Inhalt und Moral von Hofmannsthals „Jedermann“ sind zunächst banal: Der reiche Mann hat das Geld – sein Geld – quasi zu seinem Gott erhoben. Dem „echten“ Herrgott im Himmel missfällt dies verständlicherweise, weshalb er den Tod zu Jedermann schickt, um diesen vors göttliche Gericht zu bringen, auf dass über ihn geurteilt werde: ewige Verdammnis oder himmlische Erlösung. Da schaut es freilich nicht gut aus für den Herrn Jedermann, denn er lässt im Laufe der Handlung u.a. einen Schuldner in den Kerker werfen, einen bettelnden Nachbarn abblitzen und selbst seine Mutter mit ihren moralisch-christlichen Vorhaltungen ist ihm vorerst keinen weiteren Gedanken wert. Denkbar schlechte Karten, wenn’s um die Eintrittskarte ins Paradies geht. Eher passt ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Himmelreich käme, soll mal ein jüdischer Sektenführer erklärt haben (wir kommen auf ihn zurück).
Und so ist Jedermann auch tief erschrocken, als ihn der Tod während eines Festes holen möchte. Doch der Tod gewährt ihm eine Frist von einer Stunde, um einen Freund auszuwählen, der ihn vor das Gericht Gottes begleiten möge. Es mag aber keiner: der gute Gesell, seine beiden Cousins und selbst seine „Buhlschaft“ verweigern Begleitung und Fürsprache. Dann trifft es Jedermann noch besonders hart: Auch sein Geld – personifiziert als Mammon – will nicht mit ihm ins Jenseits gehen. Als er völlig allein und verzweifelt ist, bietet sich Jedermann eine Möglichkeit: Zwar sind seine „guten Taten“ (personifiziert als gebrechliche Frau) nicht stark genug, ihn zu begleiten, weil er sie vernachlässigt hat – aber ihre Schwester, der Glaube, wäre dazu bereit. Hierfür muss Jedermann nach einem Leben in Ungläubigkeit wieder zu Gott finden. Damit tritt das ein, was im katholischen Rahmen als Happy End eben möglich ist: Mithilfe eines Mönchs besinnt sich Jedermann auf den Glauben, woraufhin der Teufel, der sich der Seele Jedermanns bereits gewiss war, das Nachsehen hat. Jedermann wird durch die Gnade Gottes errettet und kann in Begleitung des Glaubens und seiner guten Taten vor das himmlische Gericht treten.
Spielwiese der Heuchelei
Nun ja. Man könnte sagen: Der „Jedermann“ ist ein „Faust“ für Reiche und geistig Arme: Auch ein guter Regisseur und die besten Schauspieler – und solche waren in den letzten 100 Jahren durchaus am Werk – können da wenig rausholen und dürfen es auch gar nicht (Bronner/Qualtinger verweisen darauf im „Jedermann-Kalypso“). Doch die idealistische Oberflächlichkeit, mit der hier hantiert werden muss, fällt sogar weit hinter das Schicksal Ebenezer Scrooges zurück, wo immerhin das letztliche Tun das Wort überwiegt – in einer weihnachtlichen Geschichte, wohlgemerkt, die vor allem Kinder ein wenig erschrecken und ihnen Anstand einprägen soll; auch Felix Mitterers „Ein Jedermann“ (1991) kriegt gegenüber dem Original halbwegs die Kurve. In Hofmannsthals „Jedermann“ aber regieren der Glaube und Gott absolutistisch: Wenn man sich nur diesen bereitwillig unterwirft, so hat dies mehr Gewicht als die vorangegangene Sünde. Es war wohl nicht Hofmannsthals Absicht, die Heuchelei des Katholizismus aufzuzeigen, gelungen ist es ihm aber trotzdem auf phänomenale Weise. Im größten Gegensatz zu Jesus von Nazareth steht das Ritualisierte über dem Konkreten, der Gedanke über dem Tun und der Glaube über den Taten. Wäre Jesus nicht auferstanden, würde er in seinem Felsengrab rotieren.
Die Moral des „Jedermann“ ist nicht nur banal, sie ist geradezu reaktionär, im Weltbild rückwärtsgewandt. Man soll den Glauben des einzelnen nicht geringschätzen, aber im 20. und 21. Jahrhundert aus der Glaubensunterwerfung noch den Heilsweg für alle zu konstruieren und zu propagieren, birgt einiges an Ignoranz und/oder zumindest Indifferenz in sich. Und diese Unterwerfung soll tatsächlich für alle vorgegeben sein, denn es ist eben (angeblich) ein Jedermann, der sein Heil findet. Tatsächlich spiegelt Jedermann aber nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft wider, die lediglich im Publikum am Domplatz eine Mehrheit stellt. Dieses Publikum kann denn auch zufrieden und sich selbst auf die Schulter klopfend jede „Jedermann“-Vorstellung verlassen: Denn so sind immer nur die anderen. Der Masse der einfachen, normalen Menschen, nicht reich, aber dafür eigentumslos, soll freilich auch oder sogar noch mehr die Glaubensunterwerfung angetragen werden, denn so lassen sich diesseitig Armut, Arbeitslosigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung viel leichter ertragen; jenseitig wartet dafür das Paradies, wenn man immer nur brav geglaubt hat: eine idealistische Strategie zur Krisenbewältigung, ja zur Kapitalismusbewältigung.
Von der Antiaufklärung zur Befreiung
Natürlich war das schon 1920 (resp. 1911) antiaufklärerischer Quatsch. Der „Jedermann“ und der Glaube an Gott helfen niemandem, sich aus seiner materiellen Lage zu befreien. Aber beides nützt den politisch und ökonomisch Herrschenden sowie den ideologisch Vorherrschenden: dem Kapital, seinen politischen Parteien, der katholischen Kirche. So gehört es sich auch in Österreich, denn jeder Staat und jede Gesellschaft bekommen die Festspiele, die sie verdienen – und die sie brauchen. Dieses Prinzip, als Tradition bemäntelt, ist schwer zu durchbrechen. Kein Wunder, dass Gottfried von Einems Ansinnen, Bertolt Brecht nach Salzburg zu holen, freilich nicht durchsetzbar war.
Dabei fände sich in Brechts Werk der „bessere Jedermann“. Wenn in seinem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ der Unternehmer Shui Ta schlussendlich für seine Untaten vor Gericht gestellt wird und sich als die ehemalige Prostituierte Shen Te zu erkennen gibt, sind die drei richtenden Götter ratlos. Offenkundig ist der Anspruch, „gut zu sein und doch zu leben“, im Kapitalismus nicht umzusetzen, denn man ist dessen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten unterworfen und stößt an dessen Grenzen. Brechts Publikum soll den Schluss ziehen, diese Grenzen niederzureißen. Für Hugo von Hofmannsthal, das Salzburger Publikum und ihren kleinen sozialen, aber großen politischen Freundeskreis natürlich eine furchtbare Vorstellung. Für alle anderen, einfachen, arbeitenden Menschen, die „Jedermann“ und Festspiele in gegenwärtiger Form zwangsläufig nur peripher tangieren, die logische und materialistische Konsequenz. Und so sind die materielle Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sowie die ideelle des reaktionären Überbaus die tatsächliche Aufgabe von jedermann und jeder Frau, inklusive der proletarischen Aneignung von Kunst und Kultur. Im chinesischen Sezuan wird’s seit 1949 zumindest versucht.