Im September 1991 erschien mit „Nevermind“ ein Album von musikhistorischer Bedeutung. Doch die Band Nirvana hat auch größere gesellschaftliche Spuren hinterlassen.
Am 24. September 1991 kam das Album „Nevermind“ in die Platten- und CD-Läden, die es damals noch massenhaft gab. Es handelte sich um das zweite Studiowerk der 1987 gegründeten Band Nirvana, die bis dahin eher nur Insidern der Alternative Rock-Szene von Seattle ein Begriff war. Doch was in den folgenden Wochen und Monaten geschah, war ein einzigartiger Durchbruch nicht nur der Band um Leader Kurt Cobain (1967–1994), sondern eines ganzen neuen Genres, das als „Grunge“ bekannt wurde – mit Nirvana als Hauptvertreter und „Nevermind“ als stilbildendem Ausgangs- und Bezugspunkt. Vom Erfolg des Albums war sogar die Plattenfirma überrascht: Das Major-Label Geffen Records hatte Nirvana in der Sub-Schiene DGC geparkt und viel zu wenige CDs ausgeliefert. Als klar wurde, dass sich „Nevermind“ unerwartet zum Bestseller entwickelte, wurde die Pressung aller anderen Alben eingestellt, um rasch ausreichend Produktionskapazitäten zu schaffen.
Binnen weniger Wochen wurde die Millionenmarke an verkauften CDs in den USA überschritten, in den Albumcharts stieß „Nevermind“ im Jänner 1992 Michael Jacksons „Dangerous“ vom Thron und platzierte sich erstmals auf Platz eins – schließlich wurden rund zehn Millionen Exemplare in den USA verkauft, erst nach ca. 500 Wochen fiel „Nevermind“ aus den US-Charts. Weltweit verkaufte sich das Album über 30 Millionen Mal. Dass „Nevermind“ ein derart sensationeller Erfolg einer aus dem Nichts kommenden Untergrundband werden würde, hatte sich knapp vor der Veröffentlichung aber bereits anhand der vorab erfolgten ersten Single-Auskoppelung angedeutet: „Smells Like Teen Spirit“ war schon am 10. September 1991 publiziert worden und nach Anlaufschwierigkeiten in den US-Single-Charts in den Top-10 platziert. Nicht unwesentlich trug dazu das ikonische Musikvideo bei, das zum meistgespielten Clip bei MTV wurde. Die weiteren Singles („Comes As You Are“, „Lithium“ und „In Bloom“) festigten das Standing von Nirvana. Weithin bekannt ist auch das Album-Cover von „Nevermind“, das ein schwimmendes Baby zeigt, das eine Dollarnote an einem Angelhaken verfolgt.
Aus dem Nichts – für nichts?
„Nevermind“ war kein geplanter kommerzieller Erfolg. Das Produktionsbudget war vergleichsweise lächerlich, die PR-Aktivitäten blieben zunächst überschaubar. Geffen Records konzentrierte sich damals auf sein Topprodukt Guns N’ Roses („Use Your Illusion“ I & II), auch ansonsten war das Jahr 1991 musikalisch kein Ereignisloses – so erschien z.B. auch Metallicas „Black Album“ nur wenige Woche zuvor. Doch offensichtlich hatten Glam Rock und Metal damit zwar ihre Höhepunkte erreicht, aber auch schon wieder absehbar den Zenit überschritten. Die Hochglanzscheinwelt um Axl Rose und die Massentauglichmachung der Brachialgewalt von James Hetfield und Lars Ulrich hinterließen Raum für Neues, das dringend gebraucht wurde: Die Generation X war auf der Suche nach ihrer eigenen Identität – und fand diese in Nirvana und einem vermeintlichen Nihilismus: Never mind, scheiß drauf, vergiss es! Und trotzdem waren es nicht individuelle Gleichgültigkeit und persönliche Depression, die zu den Hauptträgern der Grunge-Welle wurden, sondern es waren kollektive Desillusionierung und Zorn, die dann doch wieder Auflehnung, Protest und Widerstand beförderten. Die scheinbare unpolitische Selbstaufgabe der Generation X mündete nicht zufällig schließlich in der Globalisierungskritik mit antikapitalistischer Schlagseite.
Nirvana-Frontman Kurt Cobain war der unfreiwillige vorbildhafte (Anti-)Held dieser Generation, wenngleich es hier mehr um Projektion als Identifikation ging – er war kein Ideologe, kein Weltverbesserer, aber einer, der sich bewusst in die sprunghafte Kontinuität des Punkrocks und nicht zuletzt der Sex Pistols stellte, der die Macht der „großen schweinischen Kapitalisten-Major-Labels“ durchaus zur Sprache brachte. Insofern torpedierten, ja sabotierten die Bandmitglieder Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic die eigene Vermarktung, zogen die Medien- und Musikindustrie ins Lächerliche – und erhielten gerade hierfür erstrecht eine Millionenrezeption und Reputation. Am Ende ist der drogenabhängige Cobain am Widerspruch zerbrochen und beging am 5. April 1994 im Alter von erst 27 Jahren einen gewissermaßen erwartbaren Selbstmord, was gleichbedeutend mit dem Aus von Nirvana war.
Deklarierte Bedeutungslosigkeit schafft historische Bedeutung
Bis dahin hatte man in einer recht kurzen Karriere neben „Nevermind“ drei weitere Studioalben veröffentlicht: Das Untergrunddebüt „Bleach“ (1989), die hastig aus alten Aufnahmen nach dem „Nevermind“-Hype zusammengestellte Kompilation „Incesticide“ (1992) sowie „In Utero“, das genau zwei Jahre nach „Nevermind“ erschien und mit seinen Singles „Heart Shaped Box“ und „Rape Me“ nochmals ein großer Erfolg wurde (15 Millionen verkaufte CDs, Platz 1 in den US-Albumcharts). Ein halbes Jahr nach Cobains Suizid warf man noch den Mitschnitt der „MTV Unplugged“-Session in New York auf den Markt, der mit zwölf Millionen verkauften CDs ebenso ein Bestseller wurde – und der die letztliche Kommerzialisierung Nirvanas zwar nicht markiert, aber eine solche (von außen) öffentlich durchsetzte.
Unterm Strich war die Bedeutung Nirvanas freilich eine größere, als es obige Diskografie sichtbarmachen könnte – und das ist erstaunlich: Auf Basis einer musikalisch recht einfachen Herangehensweise und massiv überinterpretierter Texte, denen Cobain eigentlich wenig Relevanz beimaß, wurde Nirvana ausgehend von „Nevermind“ zum Phänomen, das die subkulturelle Attitüde in eine alternative Massenjugendkultur transferierte. Der Grunge-„Schmuddellook“, die zornige Destruktivität, die unangepasste „Unordentlichkeit“, die Konsumverweigerung und die Trotzreaktion schafften den Sprung zur umfassenden und gezielten antiautoritären Protesthaltung gegen das Establishment – und dies nich in einer blumigen Hippie- Phantasie, sondern in der vollen Härte der schmutzigen Realität. Dass hierbei auf überaus widersprüchliche Weise eine (Re-)Politisierung eines Teiles der Generation X erfolgte, stellt ein Nebenprodukt des Grunge dar, ist aber nicht minder wichtig.
In „musikhistorischer“ Hinsicht eröffnete „Nevermind“ einer Reihe von Underground‑, Indie- und Alternative-Acts die Tür zum Rampenlicht, wovon Bands wie Pearl Jam, Soundgarden, Hole, Bush oder auch Grohls späteres Projekt Foo Fighters profitierten. Andere ließen sich zu Irrwegen verleiten: Metallicas kuriose „Load/Reload“-Phase ist ohne Grunge-Durchbruch kaum zu erklären, ebenso wenig der In- und Output von z.B. Emo-Punk oder natürlich die Robin Daggers-Katastrophe. Aber egal: Never mind.