Vor 100 Jahre wurde der portugiesische Autor, Kommunist und Literaturnobelpreisträger José Saramago (1922–2010) geboren.
Nach dem frühneuzeitlichen Nationaldichter Luís de Camões (1524/25–1579/80) sowie neben dem mitunter schwer fassbaren Fernando Pessoa (1888–1935) gilt José Saramago als Inbegriff der portugiesischen Literatur. Am heutigen 16. November wäre er 100 Jahre alt geworden.
Als José de Sousa – so der eigentliche Name – am 16. November 1922 in dem kleinen Dorf Azinhaga geboren wurde, deutete nichts auf eine große Schriftstellerkarriere hin, die auch lange auf sich warten lassen sollte. Er entstammte einer Familie von Landarbeitern, die im Ribatejo auf den Latifundien der Großgrundbesitzer ihren kargen Lohn verdienten. Der Vater konnte nur ansatzweise lesen, die Mutter war Analphabetin. Auch der Name „Saramago“ verweist auf die ärmlichen Verhältnisse, aus denen die Familie stammte: Das portugiesische Wort bezeichnet den wilden Ackerrettich, von dem sich die hungernde Landbevölkerung ernähren musste. Der Standesbeamte hatte das Wort dem eigentlichen Nachnamen de Sousa auf eigene Faust hinzugefügt, was als Herabwürdigung zu verstehen war. Erst bei der Schuleinschreibung in Lissabon bemerkte man, dass der junge José diesen Namen trug.
Während der faschistischen Diktatur
Obwohl Saramago gute Noten hatte, scheiterte der Besuch eines Gymnasiums am fehlenden Geld – er wurde stattdessen zum Kfz-Mechaniker ausgebildet. Trotzdem kam er während dieser Zeit erstmals mit Literatur in Kontakt. Auf autodidaktische Weise bildete er sich weiter und verbrachte viel Zeit in öffentlichen Bibliotheken. Dies ermöglichte ihm, für Zeitungen und Verlage zu arbeiten. 1947 – Saramago war inzwischen 25 Jahre alt – veröffentlichte er seinen ersten Roman „Land der Sünde“ (Terra do Pecado), doch nach Eingriffen des Verlegers war er kein Erfolg und Saramago gab das literarische Schreiben auf: In den nächsten 19 Jahren veröffentlichte er nichts mehr. Seine zwischenzeitliche Anstellung beim Sozialministerium verlor er 1949 aus politischen Gründen, da das faschistische Salazar-Regime ihm misstraute.
In den folgenden Jahren war Saramago für verschiedene Verlage in der Produktion sowie als Übersetzer tätig, wobei er tatsächlich mit vielen regime- und sozialkritischen Autoren in Kontakt kam. Erst 1966, im Alter von 44 Jahren, trat er wieder mit einem eigenen Werk an die Öffentlichkeit, nämlich mit dem Gedichtband „Die möglichen Gedichte“ (Os Poemas Possíveis). In dieser Zeit wurde Saramago auch endgültig politisiert, vor dem Hintergrund des antifaschistischen Widerstandes in Portugal und des Kolonialkrieges in Angola. Er verfasste Zeitungsartikel zum politischen Geschehen, so weit unter Zensur möglich, und trat 1969 der illegalen Portugiesischen Kommunistischen Partei (Partido Comunista Português, PCP) bei.
Nach der Nelkenrevolution
Mit der Nelkenrevolution 1974 verband Saramago große Hoffnungen, aber diese wurden enttäuscht: Zwar wurde das faschistische Regime gestürzt, doch der Antikommunismus überlebte. Seine Tätigkeiten im Bildungsministerium sowie bei der einflussreichen Tageszeitung „Diário de Notícias“ wurden beendet, ohne Chance auf neue Anstellungen. Im Jahr 1976 entschied sich der bereits 54-jährige Saramago mehr oder minder zwangsweise zu einem weiteren Leben als freier Schriftsteller. Er wandte sich ab vom Dasein als Kolumnist und Journalist sowie auch von der Lyrik, und veröffentlichte 1977 wieder einen Roman: „Das Handbuch der Malerei und der Kalligraphie“ (Manual de Pintura e Caligrafia) weist autobiografische Züge auf und versucht eine Aufarbeitung der Salazar-Diktatur. Mit seinem ersten Theaterstück „Die Nacht“ (A Noite) betrachtete er den Vorabend der Nelkenrevolution.
Und so begann für Saramago auf recht spätberufene Weise als größer Gegenwartsautor seines Landes die „portugiesische Reise“, die 1982 auch mit dem internationalen Durchbruch verbunden war: „Das Memorial“ (Memorial do Convento) beschreibt die Bedingungen beim Bau des Nationalpalastes von Malfa im 18. Jahrhundert, mit deutlicher Kritik an Absolutismus und katholischer Kirche sowie einem Gegenentwurf für die geknechtete Arbeiterschaft, wie auch schon zuvor mit „Hoffnung im Alentejo“ (ebenfalls 1982). Samaragos Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt und machten ihn nun erstmals in seinem Leben finanziell gänzlich unabhängig. Es folgten zahlreiche Preise – in einem Alter, in dem andere Menschen bereits in Pension gehen. In recht knappen Abständen veröffentlichte Samarago sodann weitere Romane (und Dramen), wovon manche auch verfilmt wurden.
Diese Bücher, die man gar nicht alle aufzählen kann, markieren einen überaus bedeutenden Teil der europäischen Literaturgeschichte, darunter u.a. „Das Todesjahr des Ricardo Reis“ (O Ano da Morte de Ricardo Reis, 1984), „Das steinerne Floß“ (A Jangada de Pedra, 1986), „Geschichte der Belagerung von Lissabon“ (História do Cerco de Lisboa, 1989), „Das Evangelium nach Jesus Christus“ (O Evangelho Segundo Jesus Cristo, 1991), „In Nomine Dei“ (1993), „Die Stadt der Blinden“ (O ensaio sobre a Cegueira,1995) oder „Die Geschichte der unbekannten Insel“ (O Conto da Ilha Desconhecida, 1997). Völlig berechtigt wurde Saramago 1998 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Sein letzter Roman „Kain“ (Caim) erschien im Jahr 2009, ein Jahr vor seinem Tod.
Einordnung und Bedeutung
Obgleich seine Geschichten teilweise auch zutiefst surrealistische Szenarien aufweisen sowie in frühere historische Epochen verlegt wurden, so ging es Saramago immer um die Darstellung der „einfachen Leute“, die mit gesellschaftlichen Problemen zurechtkommen müssen. Somit spielen Allegorien und Analogien ihre Rolle, doch es ist unschwer erkennbar, dass sich der Atheist und Kommunist Saramago deutlich gegen Obrigkeit, Faschismus und Katholizismus, gegen Unterdrückung und Ausbeutung sowie letztlich Kapitalismus und Imperialismus wandte. Dies tat er nicht nur auf die künstlerisch verklausulierte Art, die in seinem literarischen Werk zu finden ist, sondern mitunter auch in klaren Stellungnahmen: Hierzu zählen seine Ablehnung der EU- und NATO-Mitgliedschaft Portugals, der so genannten „Globalisierung“ oder der israelischen Besatzungspolitik in Palästina. Mitunter eckte er – bewusst provokant – nicht nur bei den Herrschenden der bürgerlich-kapitalistischen Staaten und beim Vatikan an, sondern auch in seiner eigenen Partei, der PCP, für die er trotzdem 2004 auf einem symbolischen Listenplatz bei der EU-Wahl kandidierte.
Seine letzten Jahre verbrachte Saramago eher zurückgezogen auf der spanischen Kanareninsel Lanzarote. Als er dort am 18. Juni 2010 im Alter von 87 Jahren starb, ordnete die sozialdemokratische Regierung in Lissabon eine zweitägige Staatstrauer an. Dass Saramago auch diesen Staat – die Dritte Portugiesische Republik – zugunsten des Sozialismus überwunden sehen wollte, ist kein Geheimnis, doch Künstlern von nationaler und globaler Bedeutung verzeihen die bürgerlich-kapitalistischen Eliten manchmal sogar die kommunistische Gesinnung. Man soll sie aber nicht vergessen, wenn man sich das umfang- und lehrreiche, aber auch einfühl- und unterhaltsame Werk Saramagos zu Gemüte führt, das berechtigt zur Weltliteratur der zweiten Hälfte des 20. und des Beginns des 21. Jahrhunderts zählt.