Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Bruno Frei als Erbe von Heinrich Heine
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler (1889–1945) vom Reichspräsidenten der Deutschen (Weimarer) Republik Paul von Hindenburg (1847–1934) zum Reichskanzler berufen. Die 1925 nach kurzer Unterbrechung neu gegründete Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) konnte mit ihrem Führer dank der Unterstützung aus der Industrie beginnen, ihre mörderische politische und rassistische Ideologie verwirklichen. Joseph Goebbels (1897–1945) hat sich als bemühter Schriftsteller früh der antisemitischen und antikommunistischen NSDAP angeschlossen und ist 1926 nach Berlin übersiedelt. Dort veröffentlichte er als deutscher Prototyp eines falschen Messias ein Jahr nach der Machtübernahme das Buch „Das Erwachende Berlin“.[1]
Was hat die deutschen Juden Emanuel bin Gorion (1903–1987), Alfred Loewenberg (1902–1949), Otto Neuburger (1890–1956) und Hans Oppenheimer (1903–1985) bewegt, in diesem „erwachten“ Berlin 1934 das „Philo-Lexikon“ als „Handbuch des jüdischen Wissens“[2] herauszugeben? Das Ende des Albtraums der faschistischen Diktatur in Deutschland war nicht abzusehen. Das Lexikon konnte aber Vermächtnis sein, Religion und Geschichte, Leistung und Leben des Judentums im deutschen Sprachraum zu dokumentieren. In diesem Lexikon ist als Einzelbiografie Heinrich Heine, geboren in Düsseldorf am 13. Dezember 1797, gestorben in Paris am 17. Februar 1856, aufgenommen: „jüdischer Klassiker deutscher Zunge; 1825 getauft, bewusste Rückwendung zum Judentum 1848, Übersiedlung nach Paris 1831, langes Krankenlager (>Matratzengruft<). […] Stellung zum Judentum teils ironisch, teils sentimental […]“.[3]
Zum 75. Todestag von Heinrich Heine hat der gelehrte, in Wien lebende Vorstand der europaweit beachteten Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde und Erforscher jüdischer Familiengeschichte Bernhard Wachstein (1868–1935) „Schriften über das Jüdische in und bei Heine“ bibliographiert. Aus den zahlreichen antisemitischen Schmähschriften gegen Heine nennt Wachstein zwei aus den Jahren 1856 und 1906.[4] 1906 hat Adolf Bartels (1862–1945) eine solche mit dem Titel „Heinrich Heine. Auch ein Denkmal“ geschrieben. Bartels denunziert Bemühungen von Persönlichkeiten aus der Intelligenz – unter ihnen Gerhart Hauptmann (1862–1946), Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), Lily Braun (1865–1916) und Käthe Kollwitz (1867–1945) – ein Heine-Denkmal in Deutschland zu errichten als „die ärgste Beschimpfung, die man uns antun kann, Schmach und weiter nichts als Schmach!“.[5] In seinem 1933 veröffentlichten Artikel über „Das neue Geschichte des Antisemitismus“ hat Wachstein auf prominente antisemitische Agitatoren wie Ernst Graf zu Reventlow (1869–1943), Artur Dinter (1876–1948), Siegfried Passarge (1863–1941) oder Werner Sombart (1863–1941) hingewiesen.[6]
Nach der Julirevolution von 1830 in Paris hat Heinrich Heine in Helgoland entschieden, von dem ihm möglichen bequemen Weg zu einem individualistischen und parasitären Leben in dekadenten Literatencafés abzubiegen und im konkret werdenden Klassenkampf aktiv Option für die Armen zu nehmen. Dabei hat Heine überlieferte Mystik aus dem alten Judentum verinnerlicht (7 Himmel): „Worte gleich blanken Wurfspeeren, die bis in den siebenten Himmel hinaufschwirren und die frommen Heuchler treffen, die sich dort eingeschlichen ins Allerheiligste … Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!“ (10. August 1830).[7] Seine arrogante Überheblichkeit, wie sie in seinen Reisebildern über Tirol niedergeschrieben ist, hat Heine hinter sich gelassen.[8] Wie Heine hat sich Friedrich Engels (1820–1895) die ihm 1844 in England aufgefallene Legendenbildung um Andreas Hofer (1767–1810) gestört, weil dieser mit den servilen Tirolern „für den väterlichen Despotismus Wiens und Roms“ gekämpft habe.[9] Von Heine hat Engels in diesem Jahr das im „Vorwärts“ veröffentlichte Kampfgedicht „Die schlesischen Weber“ mit Begeisterung ins Englische übersetzt.[10] „Schwert und Flamme“ – Käthe Kollwitz (1867–1945) wird von Heine inspiriert gewesen sein, als sie bei ihrer Trauerrede auf Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) am 7. Februar 1924 in Moskau sprach: „Lenin – das ist das Schwert des Weltproletariats. Er ist die Flamme, die leuchtet und wärmt, er ist das Schwert, mit dem wir uns den Weg bahnen.“[11]
Für den österreichischen jüdischen Kommunisten Bruno Frei (Benedikt Freistadt), geboren in Bratislava (Preßburg) 11. Juni 1897, gestorben in Klosterneuburg 21. Mai 1988,[12] war Heinrich Heine kein toter Dichter, sein Erbe wurde von ihm lebendig gehalten. Frei hat in Wien, wohin seine Eltern 1909 übersiedelt sind, als noch nicht zwanzigjähriger Student mit der Veröffentlichung erster Feuilletons („Der Abend“) und sozialkritischer Schriften über das „Elend in Wien“ begonnen und wurde 1920 mit einer Doktorarbeit über die Sprüche der Väter (Pirke Awot) zum Dr. phil. promoviert. Nach Berlin ist er 1922 übersiedelt, war dort Korrespondent für den „Der Abend“, wurde Mitarbeiter der „Die Weltbühne“ und 1929 Chefredakteur von „Berlin am Morgen“. Im März 1933 glückte Bruno Frei, der aus der Wiener Sozialdemokratie schon längst zur Kommunistischen Partei übergetreten war, die Flucht nach Prag. Nach Paris ging er im Auftrag der Kommunistischen Internationale nach Paris, organisierte dort den Ausschuss für eine deutsche Volksfront, war Mitherausgeber der „Deutschen Informationen“, gründete mit F. C. Weißkopf (1900–1955) die Zeitschrift „Der Gegen-Angriff“ und leitete den antifaschistischen Informationsdienst „Nouvelles d’Allemagne“. 1939 wurde er im Lager Le Vernet inhaftiert, von dort konnte er 1941 nach Mexiko ausreisen, wo er Mitbegründer und Redakteur der Zeitschriften „Austria Libre“ und „Freies Deutschland“ wurde. 1947 kehrte er nach Österreich zurück, um hier im Rahmen der Kommunistischen Parteipresse im In- und Ausland am Aufbau eines neuen demokratischen Österreich mitzuwirken. Dass sich die „Leitkultur“ dieses neuen Österreichs aber nicht geändert hat, wurde ihm 1950 (28. November) von der sozialistischen „Arbeiter-Zeitung“ vermittelt, die seinen Ausschluss aus der Journalistengewerkschaft als „verdienten Tritt“ kommentierte. Die meisten der Bücher von Frei wurden in der (DDR) verlegt, worüber eine Neuerscheinung des Autors Auskunft gibt.[13]
„Zum Kampf gegen die Verderber Deutschlands und der Welt verschworen hatten wir in fremden Ländern lebend, in deutscher Sprache beheimatet, ein Leitbild nötig, eine Schutzmarke, an der man uns erkennen sollte und nicht zuletzt wir uns selbst. […] Heine wurde, wie es die Natur der Sache gebot, Schutzpatron der antifaschistischen Emigration deutscher Zunge. Mit der Buchausstellung im Paris des Jahres 1937 bekundeten wir selbstbewusst die Kontinuität von Heinrich Heine zu Heinrich Mann [(1871–1950)]. In Mexiko gaben wir der Stätte, von der wir den Geist des anderen Deutschlands, des wahren, zu verbreiten suchten, Heines Namen. Anna Seghers [(1900–1983)] wusste warum: >Wir haben in seinem eine große Strecke gemeinsam zurücklegen können, weil unser Leben innen und außen viele Punkte mit seinem gemeinsam hatte. Die wichtigsten, tiefsten inneren Fragen und äußeren Schicksale<. Die politische Emigration unter der Fahne Heines war äußerstes, letztes Engagement. War Schwert und Flamme“.
Bei seiner intensiven Beschäftigung mit dem tapferen und mutigen Friedensaktivisten Carl von Ossietzky (1889–1938) dachte Frei an den Geist und das Engagement von Heine: „Ein halbes Jahrhundert nach Heines Tod hat Ossietzky“, präzisiert Frei den Kontext, „das Amt des engagierten Publizisten angetreten, nicht wie ein Träumender, vielmehr in klarer Deutung der Rolle und der Risiken. Heine und Ossietzky hatten ein identisches Idealbild von dem tätig wirkenden, geschichtsbewussten, engagierten Worte-Täter. Zwischen ihnen besteht überdies eine erstaunliche Parallelität in der Sinngebung der deutschen Geschichte und in dem Naheverhältnis zum Kommunismus“.
Ein familiengeschichtlicher Zugang von Bruno Frei zu Heinrich Heine und Karl Marx
Im Alter werden Erinnerungen wach, aber die Geschichte geht weiter. Wie erinnert sich Bruno Frei: „Am Scheitel der Lebenskurve angelangt, von wo die Bahn, dem Gesetz der Natur folgend, nur noch abwärts führt und die Zeit ausrinnt, glaube ich“, so Frei, „den Lebensbericht eines Engagierten in Angriff nehmen zu müssen. Wo anfangen? Das forschende Auge sucht die fernsten Vorzeiten ab und bleibt am Grabe des Urahns haften. Der kaiserliche Hoffaktor Simeon ben Michael aus Preßburg nutzte seine privilegierte Stellung in der Nähe der Macht, um mit guten Worten und noch besserem Geld zugunsten der verfolgten Glaubensgenossen Fürbitte zu tun. Als er im Jahre 1719 starb, gab ihm die dankbare Gemeinde den Ehrennamen >Fürst in Israel<; so zu lesen auf dem Grabstein, der im alten Wiener Judenfriedhof die Zeiten überstanden hast.[14] Simon Michls Uruurenkel, mein Großvater, stand 1848 mit der Bürgergarde auf dem Glacis von Erdberg, ein Engagierter. Seine Tochter Sarl aber hatte der Urahn dem Lazar van Geldern aus Düsseldorf zur Frau gegeben. Ihr Enkelkind Betty war die Mutter von >Heinrich Heine<“.[15]
Bernhard Wachstein hat den Grabstein aus Marmor von Simeon ben Michael, Preßburg, gestorben am 10. April 1719 auf dem alten Wiener Judenfriedhof auf einer Tafel in seinem eindrucksvollen Werk „Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien“ abgebildet und für Nichtjuden transkribiert.[16] Die letzten Zeilen des Grabsteins lauten: „Es verfinsterten sich die Lichter, es dehnten sich die Abendschatten und seine Seele ging in Reinheit ein. Abgehoben wurde der Kopfschmuck und weggezogen die Krone. Im Bunde des Lebens sei seine Seele eingebunden“. Als jüngste Tochter Simon Michls identifiziert Wachstein Sarl, die Frau Lazar ben Josef de Gelderns. Das Vermögen von Simon Michel wurde von den Kindern verbraucht, „aber“, so Wachstein, „seiner jüngsten Tochter Sarl war es doch beschieden, sein Andenken dauernd zu erhalten, denn die Tochter ihres Sohnes Gottschalk, Betty, ward die Mutter Heinrich Heines“.[17]
Wachstein hat zu Frei die Vermutung geäußert, Simon Michel sei nicht nur Stammvater von Heine, sondern auch von Karl Marx (1818–1883). Wachstein hatte sich mit der Abstammung von Marx befasst und 1923 einen Artikel mit einer wenige Fragezeichen enthaltenden Stammtafel veröffentlicht.[18] Frei erzählt, er habe als junger Mann „mit einer wegwerfenden Geste“ darauf reagiert: „Und wennschon!“[19] 1973 veröffentlichte der in Trier arbeitende Historiker Heinz Monz (1929–2012) in dem in Tel Aviv erscheinenden und von dem 1938 aus Wien vertriebenen Walter Grab (1919–2000)[20] herausgegebenen Jahrbuch für Deutsche Geschichten den Artikel „Karl Marx und Heinrich Heine verwandt?“[21] Dort wird resümiert, dass höchst wahrscheinlich die Ur-Ur-Großeltern Heinrich Heines zugleich die Ur-Ur-Ur-Großeltern von Karl Marx sind. Für Frei mag das trotz seiner Vorbehalte gegen die von den Nürnberger Gesetzen etablierten Ahnenforschung Anstoß gewesen sein, in der „Weltbühne“ einen zweiseitigen Kleinartikel „Simon Michel, Marx und Heine“ zu schreiben.[22] Ihm ist die „Ideenverwandtschaft“ von Heine mit dem jüngeren Marx als Phänomen der Zeitgeschichte im Vordergrund, auch wenn er „das Kuriosum der Blutsverwandtschaft“ nicht geringschätzen wolle. Die jüdische Abkunft von Marx habe „nicht zu wenigen Versuchen geführt, die Rolle, die dem Marxismus in der Geschichte der Ideen zukommt, zu deformieren, meist in der Absicht, ihn zu mißkreditieren“.[23] Frei beendet seinen Artikel mit der Verallgemeinerung aus “Faust“: „Wir freilich, die Nachfahren, müssen erwerben, was wir ererbt von den Vätern haben, um es zu besitzen“.
„Rehabilitation“ von Heinrich Heine im deutschen Sprachraum. Bruno Frei erhält den Heinrich-Heine-Preis der DDR (1966)
Hans (John F.) Oppenheimer, dem die Flucht in die USA geglückt ist, hat als Chefredakteur mit seinen Mitherausgebern bin Gorion, E. G. Lowenthal (1904–1994) und Hanns G. Reisner (1902–1977) das „Lexikon des Judentums“ neu bearbeitet und 1967 „Den Opfern zum Gedächtnis, den Lebenden zur Lehre“ gewidmet herausgegeben.[24] Über Heinrich Heine ist zu lesen: „populärer deutscher Lyriker und bedeutender Vertreter der spätromantischen Epoche; zunächst Kaufmann, Student der Rechte in Bonn, Berlin und Göttingen. Angezogen vom freiheitlichen Geiste, siedelte er 1831 nach Paris über, wo er seit 1848 ans Bett gefesselt war (>Matratzengruft<). – Trotz Taufe (1825) war Heine ironisch-sentimentaler Bekenner seines Judentums […] Mitschöpfer der Kunst des Feuilletons; Pamphletist (>Ludwig Börne, eine Denkschrift<); sein Name unter Hitler unterdrückt (in Lesebüchern hieß es von seinen Gedichten >Volkslied, Verfasser unbekannt<), Denkmal in Hamburg zerstört (das von der Stadt Düsseldorf 1897 verweigerte Denkmal fand einen Ehrenplatz in New York). Rehabilitation eingeleitet […].“[25]
Zu der von Oppenheimer angesprochenen Rehabilitation von Heinrich Heine in der deutschen Nachkriegszeit gehört vor allem die Aufmerksamkeit, welche die Deutsche Demokratische Republik (DDR) diesem jüdisch deutschen Poeten geschenkt hat. Am Beginn steht eine kleine, von dem wenig bekannten Igor Stern verfasste und vom Verlag Neues Leben in Berlin in der Sowjetischen Besatzungszone 1948 herausgegebene Broschüre „Heinrich Heine. Der Dichter der Revolution“.[26] Aus Anlass des 100. Todestages von Heine veranstaltete das Heinrich-Heine-Komitee und die Deutsche Friedensgesellschaft in der Berliner Volksbühne am 17. Februar 1956 in Berlin einen Festakt, auf dem Stephan Hermlin (1915–1997) die Festrede hielt.[27] Alexander Abusch (1902–1982) gab den Beschluss des Ministerrates des DDR bekannt, dass ab 1957 zum Geburtstag von Heine der Heinrich-Heine-Preis verliehen werde. Erstmals wurde ein solcher am Vorabend des 160. Geburtstages von Heine am 12. Dezember 1957 an Karl Schnog (1897–1964) und Walther Victor (1895–1971) verliehen.[28] Am 12. Dezember 1966 erhielt Bruno Frei gemeinsam mit dem kommunistischen Lyriker Helmut Preißler (1925–2010) den zum zehnten Mal verliehenen Heinrich-Heine-Preis im Operncafé Unter den Linden überreicht. Frei war von der Kinderbuchautorin Anneliese Kocialek (*1919), die Leiterin der Abteilung für Belletristik, Kunst- und Musikliteratur im Kulturministerium war, vorgeschlagen worden. Der stellvertretende Minister für Kultur Bruno Haid (1912–1993) war damit ebenso einverstanden (29./30. September 1966)[29] wie die unter seinem Vorsitz am 31. Oktober 1966 tagende Jury, der auch Hermann Kant (1926–2016) zugehörte. Anneliese Kocialek argumentierte solidarisch und mit Sympathie: „[…] Aus dem Journalismus der alten Wiener Schule kam Bruno Frei zur Arbeiterpresse und zur revolutionären Arbeiterbewegung. In der Nachfolge von Egon Erwin Kisch [(1885–1948)], mit dem er seit den zwanziger Jahren befreundet war, hat er die literarische Reportage, den Reisebericht stets betrachtet. Sein leidenschaftlicher Kampf gegen soziales Unrecht, politische Unvernunft und faschistische Barbarei führte ihn in die Reihen der kommunistischen Partei. Die klare, unverschnörkelte Sprache, die Angriffslust und polemische Schärfe seiner Artikel und Aufsätze riefen den Hass der Dunkelmänner in Deutschland hervor. Nach der Rückkehr aus dem Exil sah es Bruno Frei als eine seiner wesentlichen publizistischen Aufgaben an, den Friedensgedanken Werbe- und Überzeugungskraft zu geben. So schildert er in dem Band >Die Stafette. Historische Miniaturen< (1958) Etappen des Kampfes um den Frieden von biblischen Urzeiten bis in die jüngste Zeitgeschichte und gestaltet das Schicksal und Wirken bedeutender Friedenskämpfer, z. B. August Bebels [(1840–1913)] und Lenins. Als eine Art Krönung seiner bisherigen publizistischen und schriftstellerischen Tätigkeit betrachtet Frei mit Recht seine Monographie über Carl von Ossietzky, die in diesem Jahr neben einer gleichfalls vom Autor zusammen mit Hans Leonard [(1902–1966)] besorgten zweibändigen Ausgabe von Ossietzkys Schriften beim Aufbau-Verlag erschienen ist. Freis Arbeit über Leben, Wirken und Kampf des Schriftstellers und Antimilitaristen Carl von Ossietzky ist die Frucht jahrelanger wissenschaftlicher Nachforschungen und journalistischer Bemühungen. Seine eigene Entwicklung und die Gemeinsamkeit der Bestrebungen kamen dem Autor dabei zustatten. Frei ist seit 1925 Mitarbeiter der >Weltbühne< und war mit Ossietzky bekannt. Er schildert den Entwicklungsgang Ossietzkys <vom bürgerlichen Pazifisten zum Bekenner der antifaschistischen Einheit, vom bürgerlichen Humanisten zum Vorahner einer sozialistischen Weltordnung, vom Hasser der militaristischen Verderber Deutschlands zum Wegbereiter eines deutschen Friedensstaates<. Im Spiegel des Schicksals eines deutschen Patrioten vermittelt Frei ein Stück deutscher Zeitgeschichte von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre. Sein Buch gibt zum erstenmal eine umfassende und grundlegende marxistische Darstellung vom Leben und Kampf Ossietzkys, die entsprechenden westdeutschen Publikationen weit überlegen ist. In sehr glücklicher Weise verbindet der Autor Sorgfalt und Akribie des Historikers mit einer lockeren, eindrucksvollen Erzählkunst, die das Werk für einen großen Leserkreis interessant und wertvoll macht.“
Ähnlich drückte sich der Feuilletonist Heinz Knobloch (1926–2003) aus, der als Preisträger des Vorjahres die Heinrich-Heine-Preis-Rede am 12. Dezember 1966 hielt.[30] „Das Thema der Bücher des österreichischen Schriftstellers und Journalisten Bruno Frei kann“, so Knobloch, „durch ein Wort gekennzeichnet werden: Frieden“.
„Alles Deutsche wirkt auf mich wie Brechpulver“. Eine Benediktinerin erinnert in den „Stimmen der Zeit“ Deutschland an Heinrich Heine
Klaus Gysi (1912–1999) hat als Kulturminister der DDR bei der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises 1966 betont: „Die Wiedergutmachung an Heinrich Heine ist bisher nur in diesem deutschen Staat erfolgt“.[31] Damit hat Klaus Gysi die Wertschätzung der Weltsicht von Heine in der DDR angesprochen, der bei allen seinen Widersprüchen Hoffnung vermittelt. Zum guten Ton in der Welt des deutschen und österreichischen Bildungsbürgertums gehört, Heinrich Heine irgendwie präsent zu haben. Bruno Kreisky (1911–1990) hat Heine zitiert, weil dieser nach seiner Meinung einen Sachverhalt besser als er formulieren konnte, zum Beispiel wenn es um die Jagd der westlichen Industriestaaten nach Aufträgen in Libyen geht – bei gleichzeitiger Weigerung Muhammar al Gaddafi (1842–2011) in ihren Hauptstädten zu empfangen.[32] Konrad Adenauer (1876–1967), der nach 1945 Westdeutschland mit Unterstützung von ehemaligen nationalsozialistischen Kadern als Militärkolonie dem US-Imperialismus etablierte, soll die Lyrik von Heine gerne gelesen haben.[33] Der durch Applaus korrumpierbare und korrumpierte Wolf Biermann (*1936), ein heuchlerischer Nutznießer der reaktionärsten deutschen Kräfte, wähnt in „wohlfeiler Ähnlichkeit“ mit Heine zu sein und will mit dessen Leichnam in die Ewigkeit der deutschen Lyrik eingehen.[34] Die Befürchtung von Karl Kraus (1874–1936) ist zutreffend: „Jeder Nachkomme Heines nimmt aus dem Mosaik dieses Werks ein Steinchen, bis keines mehr übrig bleibt. Das Original verblasst, weil uns die widerliche Grelle der Kopie die Augen öffnet.“[35]
„Alles Deutsche wirkt auf mich wie Brechpulver“ – mit diesen Worten aus den Briefen von Heine[36] titelt die Ordensschwester der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard in Rüdesheim Raphaela Brüggenthies OSB im 1. Heft dieses Jahres (2024) der Jesuitenzeitschrift „Stimmen der Zeit“ ihren Denkanstoß, Heine sollte der „Lieblingsdichter der Deutschen“ werden.[37] Bei der 1844 in Paris geschriebenen Schrift „Deutschland. Ein Wintermärchen“ ist es Heine nicht um die „Zivilisation des Reichtums“ in Deutschland gegangen, sondern um die Utopie der sozialen Volksrevolution.[38] Was Heine am „Deutsch-Sein“ besonders angewidert habe, sei „die von ihm empfundene geistige Enge des deutschen Patriotismus“, der „bloß im Hass auf alles Fremdländisches“ besteht.[39] Schwester Brüggenthies OSB bietet dem nicht nur von der AfD (Alternative für Deutschland) artikulierten deutschen Zeitgeist mutig die Stirn. Sie fordert mit Heine eine ehrliche Konfrontation mit der dramatischen Realität Deutschlands, das seine Geschichte aufarbeitet, indem es die Menschlichkeit der Gier der Profiteure von Krieg und Elend opfert. In Gedichten wie „Weltlauf“ oder „Das Sklavenschiff“ hat Heine die rassistische und kapitalistische Heuchelmoral seiner Zeit demaskiert.[40]
Hermann Klenner (*1926), der als marxistischer Rechtsphilosoph sich nie dem Zeitgeist unterworfen oder angebiedert hat, sammelte 2013 mit Wolfgang Beutin (1934–2023) und Eckart Spoo (1936–2016) „Alte und neue Weckrufe für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen“ zum „Lob des Kommunismus“.[41] Die tiefe Ablehnung der „falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht“ ihres Genossen Heine wird von ihnen abgedruckt:
„… ich hasste und bekämpfte sie zeit meines Lebens, und jetzt, wo das Schwert der Hand des Sterbenden entsinkt, fühle ich mich durch die Überzeugung getröstet, dass der Kommunismus, der sie als erste auf
ihrem Weg finden wird, ihnen den Gnadenstoß versetzen wird … Die Kommunisten aber in ihren obersten Prinzipien huldigen dem absolutesten Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einer auf Gleichheit beruhenden Verbrüderung aller Menschen, freier Bürger dieses Erdballs. Dieses Grunddogma ist das gleiche, welches einst das Evangelium gepredigt hat, so dass die Kommunisten in Wesen und Wahrheit viel christlicher sind als unsere sogenannten germanischen Patrioten …“.[42]
[1] Dem Andenken des toten Sturmführers Horst Wessel gewidmet. Verlag Franz Eher Nachf., München 1934.
[2] Mit 250 Abbildungen, zahlreichen Plänen, Tabellen und Übersichten sowie 40 zum Teil mehrfarbige Tafeln, und Karten. Philo Verlag und Buchhandlung G. m b H., Berlin 1934 (16.–21. Tausend 1935); Nachdruck Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1. A. 2003.
[3] Hier zitiert nach dem durchgesehenen, verbesserten und ergänzten Neudruck vom März 1935, Sp. 273 f.; vgl. dazu Bernd Witte, Artikel Entreebillet (Heinrich Heine) in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2. Verlag J. B. Metzler Stuttgart Weimar 2012, S. 241–247.
[4] Wien 1931; Sebastian Brunner: Keilschriften. Geflochtenes Reimwerk. Regensburg 1856, Kap. III: Der Kranke in Paris, S. 37–64; Adolf Bartels: Heinrich Heine. Auch ein Denkmal. Dresden Leipzig C. A. Koch Verlag 1906, XVI, 374 S. Vgl. Witte, „Jüdische und antisemitische Rezeption Heines“, S. 246 f.
[5] Bartels, Vorwort S. XV.
[6] Bernhard Wachstein: Diskussionsschriften über die Judenfrage. Das neue Gesicht des Antisemitismus. Wien 1933. Sonderabdruck aus den „B’nai B’rith“ Mitteilungen für Österreich. ÖNB.
[7] Hier zitiert nach Ludwig Börne und Heinrich Heine, ein deutsches Zerwürfnis. Bearbeitet von Hans Magnus Enzensberger. Reclam Verlag Leipzig 1991, S. 173.
[8] Reise von München nach Genua. In: Heinrich Heine. Reisebilder. Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1987, S.177 ‑256; Bruno Frei hat sich 1966 mit Tirol bzw. Südtirol befasst: Die Weltbühne 2. November 1966, S. 1382–1387 (Südtirol im Röntgenbild) und Die Weltbühne 9. November 1966, S. 1415–1420 (Die Schwarze Hand).
[9] Friedrich Engels Ende Oktober 1845. MEW 2 (1972), S. 577.
[10] MEW, 2 (1972), S. 512 f.
[11] Clara Zetkin: „Für die Sowjetmacht – Artikel, Reden und Briefe“. Berlin 1977, S. 351–353.
[12] Gerhard Oberkofler: Mit dem österreichischen jüdischen Marxisten Bruno Frei unterwegs im 20. Jahrhundert“, trafo Verlag Berlin 1. A. 2024 (= Gesellschaft – Geschichte- Gegenwart, Band 46); Willi Weinert (Wien) danke ich auch bei diesem Artikel für Anregungen.
[13] Wie A. 12.
[14] Vgl. Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien. Böhlau Verlag Wien / Köln 2021, S. 71 f.
[15] Frei, Schwert und Flamme, S. 189.
[16] Die Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien. Im Auftrage der Historischen Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien. Bearbeitet von Dr. Bernhard Wachstein. Mit 68 Textabbildungen und 24 Tafeln. 2. Teil 1696–1783. Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller k. k. Universitäts-Verlagsbuchhandung Ges. M. B. H 1917, Nr. 727, S. 44–76.
[17] Ebenda, S. 76.
[18] Bernhard Wachstein: Die Abstammung von Karl Marx. Köbenhaven 1923 (Nationalbibliothek Wien).
[19] Bruno Frei: Simon Michl, Marx und Heine. Die Weltbühne vom 16. April 1974, S. 494 f.
[20] Walter Grab: Meine vier Leben. Gedächtniskünstler – Emigrant – Jakobinerforscher – Demokrat. PapyRossa Verlag Köln 1999.
[21] Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte II (1973), S. 199–207.
[22] Ebenda.
[23] Ebenda.
[24] C. Bertelsmann Verlag Gütersloh 1967.
[25] Ebenda Sp. 282.
[26] Vom Verfasser durchgesehener Sonderabdruck aus „Neue Welt“, Sozialpolitische und literarische Halbmonatsschrift Nr. 23/1947. Verlag Neues Leben GmbH., Berlin 1948, 67 S. 80
[27] Stephan Hermlin: Über Heine. Sinn und Form. Beiträge zur Literatur. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste. 8. Jahr / 1956, S. 78–90; wiederabgedruckt in: Äußerungen 1944–1982. Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1983, S. 209–222.
[28] Neues Deutschland vom 13. Dezember 1957.
[29] Frau Brigitte Fischer (Berlin), Dipl. Germanistin und Dipl. Archivarin, hat mir die gegenständlichen Akten im Bundesarchiv Berlin (DR 1 / 23398 Ministerium für Kultur) erhoben und in Kopie übermittelt. Dafür danke ich sehr herzlich!
[30] Maschinegeschriebener Text ebenda. Gedruckt Sonntag vom 25. Dezember 1966.
[31] Neues Deutschland vom 14. Dezember 1966.
[32] Bruno Kreisky: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Siedler Verlag und Kremayr & Scheriau Berlin 1986, S. 84.
[33] Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von Weg- und Zeitgenossen. Hg. von Dieter Blumenwitz / Klaus Gotto / Hans Maier / Konrad Repgen / Hans Peter Schwarz. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1976, S. 140.
[34] Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie. Ullstein Verlag 2017, S. 148.
[35] Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Karl Kraus: Auswahl aus dem Werk. Kösel Verlag in München, S. 183–206, hier S. 190 f.
[36] An Christian Sethe am 14. April 1822. In: Heines Briefe in einem Band. Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1984, S. 23–26, hier S. 25.
[37] Stimmen der Zeit 1 / 2024, S. 15–26.
[38] Wiederholte Auflagen, z. B. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1971
[39] Ebenda, S. 19.
[40] Z. B. Heinrich Heine: Gedichte. Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1988, S. 434 und S. 515–520.
[41] Titelbild, Vorsatzblatt, Zeichnungen von Thomas J. Richter. Ossietzky Verlag GmbH, Hannover 2013.
[42] Ebenda, S. 76