Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Auf einer Veranstaltung des Internationalen Instituts für den Frieden in Wien vor 50 Jahren (10. bis 12. März 1972) wurde an den Brief von Wladimir I. Lenin an die Arbeiter und Bauern der Ukraine (1919) erinnert.
In Wien konstituierte sich am 10. und 11. Juni 1950 die Österreichische Friedensbewegung unter Beteiligung von 2100 Delegierten mit der Wahl des Österreichischen Friedensrates. Das war das Ergebnis des Pariser Weltfriedenskongresses (20. bis 25. April 1949), auf dem Frédéric Joliot-Curie (1900- 1958) die Eröffnungsrede gehalten hat. Frédéric Joliot-Curie hat 1935 zusammen mit Irène Joliot-Curie (1897–1956) den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung künstlicher Radioaktivität erhalten. Pablo Picasso (1881–1973) gestaltete für den Weltfriedenskongress, an dem er teilnahm, das berühmte, in zahlreichen Variationen abgewandelte Symbol der weißen Friedenstaube.[1] Picasso wird sich von der christlichen Ikonographie anregen haben lassen, dort ist die Taube mit dem Lamm am häufigsten zu sehen. Bekannt ist die Heiliggeisttaube im Petersdom in Rom.[2]
Vor allem Naturwissenschaftler wie der Röntgenologe Georg Fuchs (1908–1986), Engelbert Broda (1910–1983), Walter Hollitscher (1911–1986) oder Thomas Schönfeld (1923–2008) waren von Anfang an in der ersten Reihe der österreichischen Friedensbewegung und beteiligten sich aktiv und inspirierend an dem vom Weltfriedensrat im Sommer 1957 ins Leben gerufenen Internationalen Institut für den Frieden – Wien (IIfdF). Dieses IIfdF, zu deren Mitgliedern der bedeutende Physiker und mit der Joliot-Curie-Medaille ausgezeichnete Präsident der Weltföderation der Wissenschaftlicher Eric H. Burhop (1911–1980) gehörte, gab über seine Konferenzen und Diskussionen die Schriftenreihe “Wissenschaft und Frieden“ heraus. Viele Themen zum Frieden in Europa und in der Welt wurden aufgegriffen. 1959 wurde ein eigenes Heft „Die Neutralität Österreichs – ein Beitrag zum Weltfrieden“ veröffentlicht.
Vom 10. bis 12. März 1972, also vor fünfzig Jahren, traf sich in Wien das IIfdF zu einer Konferenz „Organisation der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“.[3] Zielsetzung war, einen wissenschaftlichen Weg zur Verminderung der militärischen Konfrontation in Europa zu suchen. Die komplexen Themen mit unterschiedlicher wissenschaftlicher Herangehensweise wurden in Arbeitskreisen besprochen. Einige Teilnehmer waren der Auffassung, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Reihe ausgesprochen negativer Charakteristika wie Exklusivität des Systems, Diskriminierung in der Handelspraxis, immer grösser werdende Rolle der politischen Motive aufweist und dass sie deshalb der Schaffung eines gesamteuropäischen Systems der Sicherheit und der Zusammenarbeit hinderlich sein kann. Der deutsche Friedensforscher Dieter Senghaas (*1940) arbeitete in seinem Hauptreferat heraus, dass Abschreckungspolitik von vorneherein auf „Entzweiung“ angelegt ist: „Wir wissen, dass Abschreckungspolitik zur Perpetuierung von Konflikten, ja zu ihrer Erhärtung und Versteinerung beiträgt“.[4]
Der von Wladimir Putin (*1952) kritisierte[5] Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) wurde im Referat des an der katholisch theologischen Fakultät der Wiener Universität als Sozialwissenschaftler und Ethiker lehrenden Rudolf Weiler (*1928) an die Seite von Johannes XXIII. (1881–1963) gestellt. Beide hätten, so Weiler, trotz ihrer ideologischen Verschiedenheit die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit und der friedlichen Lösung aller zwischenstaatlichen Fragen anerkannt.[6] Auch für Albert Einstein (1879–1955), der sich immer wieder für den Frieden eingesetzt hat,[7] war Lenin ein Mann, „der seine ganze Kraft unter völliger Aufopferung seiner Person für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt hat“.[8]
Weiler war einer der Gründer der 1971 begonnenen Symposien zum Thema „Friedliche Koexistenz aus der Sicht verschiedener Weltanschauungen“. Er zitiert in seinem Beitrag Lenins Worte zur Deklaration der Sowjets über den Frieden (26. Oktober 1917): „Alle Punkte, die gut nachbarliche Beziehungen und wirtschaftliche Abkommen festlegen, nehmen wir gerne an, sie können wir nicht ablehnen“.[9] Weiler macht einige Vorschläge zur Förderung des europäischen Friedens. Er kommt auf die Psychologie des Friedens zu sprechen, in deren Dienst „alle Maßnahmen stehen, die das Vertrauen stärken, das Misstrauen aber abbauen“. Er macht den Vorschlag, „gewisse Werbeinitiativen für Zusammenarbeit und Verständnis der europäischen Völker gemeinsam in allen Ländern inhaltlich und formal koordiniert vorzunehmen. Ein Ehrenrat der Presse und Massenmedien könnte darüber wachen, dass jede imperialistische, nationalistische oder faschistische Propaganda in einem europäischen Land als Vorgehen gegen die europäische Idee anzuprangern wäre“.[10] Dieser Vorschlag ehrt Weiler, auch wenn er die Eigentumsverhältnisse und die damit untrennbar verknüpften Interessen ignoriert. Die in Wien erhältlichen bürgerlichen Leitmedien übertreffen derzeit in ihrer Hetze gegen die „Russen“ den „Völkischen Beobachter“.
Seinen Vortrag endet Weiler nochmals mit einem Zitat aus dem „Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine“ (28. Dezember 1919)[11] des von ihm als „großen Europäer“ hoch geachteten Lenin: „Wir wollen ein freiwilliges Bündnis der Nationen, ein Bündnis, das keinerlei Gewaltanwendung einer Nation gegenüber einer anderen zulässt, ein Bündnis, das auf vollem Vertrauen, auf klarer Erkenntnis der brüderlichen Einheit, auf völlig freiwilliger Übereinkunft gegründet ist. Ein solches Bündnis lässt sich nicht mit einem Schlage verwirklichen; auf ein solches Bündnis muss man mit größer Geduld und Behutsamkeit hinarbeiten, um die Sache nicht zu verderben, um kein Misstrauen zu wecken und das Misstrauen, das die jahrhundertelange Unterdrückung durch Gutsbesitzer und Kapitalisten, das Privateigentum und die Feindschaft wegen seiner Verteilung und Neuverteilung hinterlassen haben, zu überwinden“.[12] Lenins Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine enthält den Appell an die „Einheit und das enge Bündnis der großrussischen und ukrainischen Arbeiter und Bauern“. „Ein gemeinsamer Kampf wird in der Praxis“, so Lenin, „klar zeigen, dass, gleichviel wie die Frage der staatlichen Unabhängigkeit oder der Staatsgrenzen entschieden wird, die großrussischen und die ukrainischen Arbeiter unbedingt ein enges militärisches und wirtschaftliches Bündnis brauchen, denn sonst werden die Kapitalisten der >Entente<, des >Einvernehmens<, das heißt des Bundes der reichsten kapitalistischen Länder […] uns einzeln überwältigen und uns die Kehle zuschnüren“. Lenin war klar, dass der Kapitalismus alles daransetzen wird, die Ukraine und Russland zu spalten. „In diesem langen und schweren Kampf müssen wir großrussischen und ukrainischen Arbeiter“, so Lenin, „im engsten Bündnis vorgehen, denn einzeln werden wir gewiss nicht fertig werden. […] Sowohl die Bourgeoisie aller Länder als auch alle möglichen kleinbürgerlichen Parteien, die >Paktierer<parteien, die sich mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiter verbünden, waren vor allem bestrebt, die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten zu entzweien, das Misstrauen zu schüren, das enge internationale Bündnis, den internationalen brüderlichen Zusammenhalt der Arbeiter zu zerstören. Wenn das der Bourgeoisie gelingt, dann ist die Sache der Arbeiter verloren. Möge es den Kommunisten Russlands und der Ukraine gelingen durch geduldige, hartnäckige, beharrliche gemeinsame Arbeit jedes beliebige nationalistische Ränkespiel der Bourgeoisie, die nationalistischen Vorurteile jeder Art zu überwinden und den Werktätigen der ganzen Welt das Beispiel eines wirklich festen Bündnisses der Arbeiter und Bauern verschiedener Nationen zu zeigen […].“
Anstoß zu diesem Brief von Lenin an die Arbeiter und Bauern der Ukraine waren deren Sieg über die von Anton Iwanowitsch Denikin (1872–1947) befehligte „Weiße Armee“, deren Zielsetzung mit jener der NATO der Gegenwart durchaus vergleichbar ist. Zur Selbstvernichtung des Menschen sind angesichts der gigantischen Waffenproduktion nicht mehr viele Schritte notwendig. Friede ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Voraussetzung dafür ist die Überwindung der Klassengesellschaft mit ihrer Herrschaft des Reichtums.
[1] Vgl. Gerhard Oberkofler: Georg Fuchs. Ein Wiener Volksarzt im Kampf gegen den Imperialismus. StudienVerlag Innsbruck 2011, Kap. VII (In der Weltfriedensbewegung. Gestaltende Mitarbeit am Internationalen Institut für den Frieden seit Mitte der 60er Jahre), S. 111–132; derselbe: Thomas Schönfeld. Österreichischer Naturwissenschaftler und Friedenskämpfer Biographische Konturen mit ausgewählten gesellschaftspolitischen Texten. StudienVerlag Innsbruck 2010.
[2] Vgl. Kurt Pätzold: … fliege übers Land. Ein Taubenbuch. Nachrichtenbote, Kriegsteilnehmer, Sportkamerad und Friedenssymbol. Verlag Neues Berlin 2012.
[3] Für das Folgende: Wissenschaft und Frieden. Herausgegeben vom Internationalen Institut für den Frieden, Wien. Nr. 2, 1972.
[4] Dieter Senghaas: Abschreckung, Abrüstung und Frieden. Wissenschaft und Frieden, S. 34–42.
[5] 23.02.2022: Staat ohne Tradition (Tageszeitung junge Welt)
[6] Rudolf Weiler: Perspektiven und Realitäten in der Entwicklung der Gemeinschaft der europäischen Völker. Wissenschaft und Frieden, S. 124–130.
[7] Albert Einstein. Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang? Hg. von Otto Nathan und Heinz Norden. Vorwort von Bertrand Russell. Übersetzung der englischen und französischen Originale von Will Schaber. Melzer Verlag Neu Isenburg 2004.
[8] Siegfried Grundmann: Einsteins Akte. Einsteins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik. Springer Verlag Berlin / Heidelberg 1998, S. 331.
[9] „Wir binden uns nicht durch Verträge. Wir lassen uns nicht durch Verträge umgarnen. Wir lehnen alle Punkte über Raub und Vergewaltigung ab, aber alle Punkte, die gutnachbarliche Beziehungen und wirtschaftliche Abkommen festlegen, nehmen wir gern an, sie können wir nicht ablehnen“. Lenin, Werke 26 (1974), S. 244–247 (Schlusswort zur Rede über den Frieden 26. Oktober (8. November)), hier S. 245; Weiler, S. 124.
[10] Weiler, S. 129.
[11] Lenin Werke 30 (1974), S. 281–287.
[12] Weiler, S. 130.