Gastautor: Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924), russischer Revolutionär und marxistischer Theoretiker, Begründer der bolschewistischen Partei, der Kommunistischen Internationale und der Sowjetunion, 1917–1924 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare der RSFSR bzw. der UdSSR
Die moderne Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundeigentümer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut. Das ist eine Sklavenhaltergesellschaft denn die „freien“ Arbeiter, die ihr Leben lang für das Kapital arbeiten, „haben Anrecht“ nur auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt der Profit erzeugenden Sklaven und zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.
Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen Arten der politischen Unterdrückung und sozialen Erniedrigung, der Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für den Kampf um ihre ökonomische Befreiung erringen, aber keinerlei Freiheit wird sie von Elend, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen Joches, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.
Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewusst geworden ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hört bereits zur Hälfte auf, ein Sklave zu sein. Durch die Fabrik der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft der moderne klassenbewusste Arbeiter die religiösen Vorurteile mit Verachtung von sich, überlässt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das moderne Proletariat bekennt sich zum Sozialismus, der die Wissenschaft in den Dienst des Kampfes gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, dass er sie zum diesseitigen Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschließt.
Erklärung der Religion zur Privatsache – mit diesen Worten wird gewöhnlich die Stellung der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch die Bedeutung dieser Worte muss man genau definieren, damit sie keine Missverständnisse hervorrufen können. Wir fordern, dass die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber keinesfalls unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. Den Staat soll die Religion nichts angehen, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verbunden sein. Jedem muss es vollkommen freistehen, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder gar keine Religion anzuerkennen, d.h. Atheist zu sein, was ja auch jeder Sozialist in der Regel ist. Alle rechtlichen Unterschiede zwischen den Staatsbürgern je nach ihrem religiösen Bekenntnis sind absolut unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfession der Staatsbürger in amtlichen Dokumenten muss unbedingt ausgemerzt werden. Es darf keine Zuwendungen an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften geben, die völlig freie, von der Staatsmacht unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung dieser Forderungen kann Schluss machen mit jener schmählichen und verfluchten Vergangenheit, da die Kirche in leibeigener Abhängigkeit vom Staat war und die russischen Bürger in leibeigener Abhängigkeit von der Staatskirche waren, da (bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzbüchern und Prozessualordnungen erhalten gebliebene) mittelalterliche, inquisitorische Gesetze bestanden und angewandt wurden, die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche vom Staat – das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.
Die russische Revolution muss diese Forderung als unerlässlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution findet diesbezüglich besonders günstige Bedingungen vor, denn die widerwärtige Bürokratenwirtschaft des absolutistischen Polizei- und Leibeigenschaftsstaates hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch war, sogar sie wurde jetzt von dem Getöse geweckt, mit dem die alte, mittelalterliche Ordnung in Russland eingestürzt ist. Sogar sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen die Bürokratenwirtschaft und Beamtenwillkür, gegen die polizeilichen Spitzeldienste, zu denen die „Diener Gottes“ genötigt werden. Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Geistlichen bis zu Ende führen, diese Leute, wenn sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, dass sie jedes Band zwischen Religion und Polizei entschlossen zerreißen. Entweder ihr seid aufrichtig – dann müsst ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, für die uneingeschränkte und vorbehaltlose Erklärung der Religion zur Privatsache sein. Oder ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht – dann seid ihr also immer noch in den Überlieferungen der Inquisition befangen, dann klebt ihr also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, dann glaubt ihr also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe und lasst euch nach wie vor von der Staatsmacht bestechen – und dann erklären euch die klassenbewussten Arbeiter ganz Russlands den schonungslosen Krieg.
Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund klassenbewusster, fortgeschrittener Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich nicht gleichgültig verhalten zu Unaufgeklärtheit, zu Unwissenheit oder zu Dunkelmännertum in Form von religiösem Glauben. Wir fordern die völlige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort zu kämpfen. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, unter anderem gerade für einen solchen Kampf gegen Jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der ideologische Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.
Wenn dem so ist, warum erklären wir in unserem Programm nicht, dass wir Atheisten sind? Warum verwehren wir es Christen und Gottesgläubigen nicht, in unsere Partei einzutreten?
Die Antwort auf diese Frage soll einen sehr wichtigen Unterschied zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung hinsichtlich der Religion klarmachen.
Unserem ganzen Programm liegt eine wissenschaftliche, und zwar die materialistische Weltanschauung zugrunde. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Quellen des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die von der absolutistisch-fronherrschaftlichen Staatsmacht bisher streng verboten und verfolgt worden ist, muss jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels einmal den deutschen Sozialisten erteilt hat: die Literatur der französischen Aufklärer und Atheisten des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und massenhaft zu verbreiten.
Doch wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, „von Vernunft wegen“, außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie das radikale Demokraten aus der Bourgeoisie häufig tun. Es wäre unsinnig, zu glauben, man könne in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile auf rein propagandistischem Wege zerstreuen. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur Produkt und Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Mächte des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheit dieses wirklich revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für ein Paradies auf Erden ist uns wichtiger als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.
Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm von unserem Atheismus nicht sprechen und nicht sprechen dürfen; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Überreste der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verwehren und nicht verwehren dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, und die Inkonsequenz irgendwelcher „Christen“ müssen wir bekämpfen; das bedeutet aber durchaus nicht, dass man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, dass man eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch Jede politische Bedeutung verlieren und durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.
Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Hader zu entfachen, um so die Aufmerksamkeit der Massen von den wirklich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen abzulenken, die das gesamtrussische Proletariat, das sich in seinem revolutionären Kampf zusammenschließt, jetzt praktisch löst. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzhunderter äußert, kann morgen sehr wohl auch irgendwelche raffinierteren Formen ersinnen. Wir werden ihr jedenfalls die ruhige, beharrliche und geduldige, von jeder Aufbauschung zweitrangiger Meinungsverschiedenheiten freie Propaganda der proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegenstellen.
Das revolutionäre Proletariat wird durchsetzen, dass die Religion für den Staat wirklich zur Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen breiten und offenen Kampf führen, um die ökonomische Sklaverei, diese wahre Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, zu beseitigen.
Quelle: W. I. Lenin, „Sozialismus und Religion“ (1905), Werke, Bd. 10, S. 70–75