Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte soll die Erdölförderung in der Barentssee gestoppt werden – dies wäre zwar ökologisch notwendig, widerspricht aber leider kapitalistischen Interessen.
Straßburg/Oslo. Die norwegische Umweltschutzgruppe „Klimaaktion der Großeltern“ (Besteforeldrenes klimaaksjon) hat am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage eingebracht – und zwar gegen niemand geringeren als das Königreich Norwegen. Gefordert wird hierbei, dass über die Zulässigkeit der arktischen Ölbohrungen verhandelt wird. Diese halten die Kläger für illegal, da sie gegen den so genannten „Umweltparagrafen“ der norwegischen Verfassung, § 112, verstoßen – gemäß dieser konstitutionellen Bestimmung hat das Volk Anspruch auf eine gesunde Umwelt. Allerdings sind ähnliche Beschwerden vor Gerichten in Norwegen erfolglos verlaufen, d.h. der Instanzenweg im Inland ist ausgeschöpft – genau das ist aber die Voraussetzung, um sich nun an den EGMR zu wenden.
Der vom Europarat eingesetzte EGMR fällt Entscheidungen, die völkerrechtlich bindend sind – zumindest für die Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), zu denen Norwegen freilich zählt. Insofern muss die Klage natürlich auch einen mutmaßlichen Verstoß gegen eben diese EMRK beinhalten, wobei sich die „Klimaaktion der Großeltern“ diesbezüglich auf den Artikel 2 (Recht auf Leben) und den Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) bezieht. Es ist absehbar, dass hier einiges an Interpretationsspielraum vorliegt, der das Verfahren komplex und das letztliche Urteil schwer einschätzbar macht. Konkret möchten die Kläger, dass v.a. die norwegische Ölförderung in der Barentssee gestoppt wird – dieses Gebiet, das vom Norden Skandinaviens, Spitzbergen und der russischen Küste sowie deren vorgelagerten Inseln begrenzt wird, ist bereits ein Randmeer des Arktischen Ozeans – und die Arktis möge freilich von fossilen Ressourcenwettläufen und Ausbeutung verschont bleiben.
Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass der norwegische Staatskonzern Equinor (bis 2018: Statoil) in der Nordsee, im Nordmeer sowie eben in der Barentssee sowohl Erdöl als auch Erdgas fördert – und zwar in recht großen Mengen: Im internationalen Vergleich ist Norwegen bei der Erdgasproduktion die Nummer 8, beim Erdöl die Nummer 15. Diese Einnahmen haben ihre Relevanz für den Staatshaushalt, für das Sozialsystem – und v.a. für den staatlichen Pensionsfonds, in dem sich rund eine Billion Euro befindet. Man kann sich ausmalen, welche Bedeutung dies hat, zumal die Einwohnerzahl Norwegens doch eher überschaubar ist. Ebenfalls ist nicht zu vergessen, dass in Norwegen ca. 100.000 Arbeitsplätze an der Gas- und Ölförderung hängen. Nichtsdestotrotz braucht es aber unweigerlich eine klima- und umweltfreundliche Um- und Neuorientierung, die fossile Brennstoffe generell überwindet – dies freilich nicht nur in Norwegen, sondern auf der ganzen Welt. Doch so lange sich derart große finanzielle Gewinne mit Erdgas und Erdöl machen lassen, ist das unter kapitalistischen Bedingungen schwer vorstellbar – vermutlich auch für den EGMR.
Quelle: Der Standard