Im ersten Durchgang der Parlamentswahl in Frankreich liegen die liberale Regierungsliste und das links-grün-sozialdemokratische Bündnis prozentuell gleichauf, was jedoch wenig über die Mandate aussagt. In der zweiten Runde wird Macrons Liste wohl eine relative Mehrheit erhalten.
Paris. Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich ist noch einiges offen – um genau zu sein, sind es gleich 572 der 577 Sitze in der Nationalversammlung. Das bislang erst fünf Mandate zugewiesen wurden, liegt am französischen Wahlsystem: Es handelt sich um ein regionales Mehrheitswahlrecht, was ursprünglich natürlich die Großparteien begünstigen sollte. Inzwischen ist die Parteienlandschaft ein wenig bunter geworden, daher wird es in allen Wahlkreisen, in denen keine absolute Mehrheit zustande gekommen ist, am kommenden Sonntag eine Stichwahl um die Parlamentssitze geben, in der theoretisch noch vieles möglich ist. Doch werfen wir einen Blick auf die bisherigen Resultate!
Schlappe für Macron, Ernüchterung für Mélenchon
Präsident Emanuel Macrons Gefolgsleute sammeln sich in dem Wahlbündnis „Ensemble“ („Gemeinsam“), dem außer Macrons eigener „Renaissance“/LREM-Bewegung einige kleinere liberale und zentristische Parteien angehören. Der Stimmenanteil in der ersten Runde beträgt nur noch 25,75 Prozent, was eine knappe relative Mehrheit markiert. Fixiert ist bisher nur ein einziges Mandat, doch schafften es „Ensemble“-Kandidaten in viele Stichwahlen. Prognosen zufolge kann Macron nach dem zweiten Durchgang mit 255 bis 310 Sitzen rechnen. Da die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung bei 289 Abgeordneten liegt, ist somit ein weiteres Durchregieren Macrons ebenso denkbar wie eine Minderheitsregierung, die bei legislativen Vorhaben auf wechselnde Verbündete angewiesen wäre. Für den Präsidenten ist das Ergebnis jedenfalls unangenehm und es könnte noch unangenehmer werden.
Direkt hinter „Ensemble“ landete das linke Wahlbündnis NUPES (Neue ökologische und soziale Volksunion). Diesem gehören die Partei des Spitzenkandidaten Jean-Luc Mélenchon, „Unbeugsames Frankreich“ (LFI), sowie die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS), die Grünen, die EL-„Kommunisten“ der PCF und einige kleinere linke Formationen an. Im ersten Wahlgang wurden vier Mandate fixiert, prognostiziert werden 150 bis 210. Das bedeutet, dass – realistisch besehen – der erste Platz und das von Mélenchon angestrebte Amt des Premierministers in einer Cohabitation mit Macron außer Reichweite sind, auch wenn man das bei der NUPES noch nicht wahrhaben will. Etwas befremdlich erscheint auch, dass man den Stimmenanteil von 25,66 Prozent – umgerechnet übrigens ein leichtes Minus – als großen Erfolg ausgeben möchte: Wenn die ehrwürdige Sozialdemokratie im Erbe Mitterands, Grüne und zwei namhafte linksreformistische Parteien zusammen gerade mal ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhalten, dann ist das nicht gerade ein sensationelles Ergebnis – egal, wie schlecht die (selbst verschuldete) Ausgangslage war.
Zugewinne für Le Pen, Desaster für Gaullisten
Die rechtsradikale „Nationale Versammlung“ (RN) von Marine Le Pen erreichte 18,68 Prozent der Stimmen, was ein prozentueller Zugewinn von sechs Prozentpunkten ist. Dies mag zunächst wie ein Erfolg aussehen – und mathematisch stimmt das ja auch –, doch die RN wird im zweiten Wahlgang ein Opfer des Wahlsystems werden und eventuell nur auf zehn Parlamentssitze kommen. Das muss man freilich nicht bedauern, trotzdem zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass das regionale Mehrheitswahlrecht objektiv undemokratischer ist als ein Verhältniswahlrecht. Ihre eigentliche Rolle hat Le Pen – wie schon bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen – erfüllt, denn die extreme Rechte hat v.a. die Aufgabe, gegen die Linke zu wirken und für Liberale bzw. Konservative Mehrheiten zu ermöglichen. Kurz gesagt: Le Pen war und ist Macrons politische Lebensversicherung.
Ein Desaster setzte es für die einst staatstragenden Konservativen: „Die Republikaner“ (LR), die in der Traditionslinie des Gaullismus und der Christdemokratie stehen, erhielten nur noch 10,42 Prozent der Stimmen. Ihre Mandatszahl wird in der 16. Nationalversammlung der Fünften Republik vermutlich einen historischen Tiefststand erreichen. – Alle weiteren Listen blieben unter der Fünf-Prozent-Marke, darunter die rechtsextreme „Rückeroberung“ (REC) von Éric Zemmour oder die als diverse Linke und diverse Rechte zusammengefassten Kandidaten. Sie werden bestenfalls einzelne Abgeordnete stellen, wie auch die korsischen Nationalisten.
Kein Vertrauen in bürgerlichen Demokratismus
Unterm Strich erbrachte die erste Runde der französischen Parlamentswahl nur Verlierer, wenngleich Macron, Mélenchon und Le Pen freilich Gegenteiliges behaupten müssen. Zu diesen Verlierern gehört ohne Zweifel auch das bürgerlich-demokratische System und sein Parlamentarismus, denn die Wahlbeteiligung sank unter 50 Prozent – mehr als die Hälfte der französischen Bevölkerung blieb den Urnen fern. Insofern sind es gewissermaßen auch nicht 25 Prozent, die Macrons Liste oder jener von Mélenchon das Vertrauen ausgesprochen haben, sondern gerade mal zwölf Prozent (und nur neun für Le Pen). Eine Regierung, die sich nur auf zwölf Prozent der Wahlberechtigten stützt, verfügt über wenig demokratische Legitimität.
Offenbar wird den Menschen in Frankreich zunehmend klar, dass sie von diesem System der gelenkten Scheindemokratie nichts zu erwarten haben. Gerade in Frankreich weiß man, dass es nicht Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen innerhalb der Systemgrenzen sind, die tatsächliche Veränderungen bringen, sondern Revolutionen. Die nächste französische Revolution wird eine sozialistische sein müssen.
Quelle: ORF