HomeInternationalesWer sind die Muslimbrüder und warum gab es in Österreich eine Razzia?

Wer sind die Muslimbrüder und warum gab es in Österreich eine Razzia?

Die Hausdurchsuchungen im Umfeld mutmaßlicher Strukturen der Muslimbruderschaft in Österreich werfen Fragen auf – wir bemühen uns um ein paar Antworten.

Am vergangenen Montag führte das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) in Wien, Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten eine Razzia bei mutmaßlichen Einrichtungen der Muslimbruderschaft durch. Über 60 Wohnungen, Geschäfts- und Vereinsräume wurden im Zuge der „Operation Luxor“ von hunderten polizeilichen Einsatzkräften durchsucht und 30 Personen zum Zwecke von Befragungen vorübergehend festgesetzt. Gegen rund 70 Personen wird wegen Mitgliedschaft bzw. Unterstützung einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung ermittelt, außerdem geht es um mutmaßliche Geldwäsche zur Terrorfinanzierung sowie staatsfeindliche Aktivitäten. Einen Zusammenhang mit dem Anschlag vom 2. November in Wien gebe es nicht, wurde betont – ein solcher ist tatsächlich auszuschließen –, dennoch drängt sich der Verdacht auf, das mit dieser Razzia u.a. zumindest versucht werden soll, Innenministerium und BVT nach ihrem Versagen rund um die Beobachtung des Attentäters in ein effizienteres Licht zu rücken.

Gründung und Zentrum der MB in Ägypten

Grundsätzlich handelt es sich bei der Muslimbruderschaft (MB) um eine gänzliche andere Organisation als etwa beim so genannten „Islamischen Staat“ (IS) oder auch bei Al-Kaida, wenngleich es ideologische Überschneidungen gibt. Zweifellos ist die MB eine reaktionäre und radikale islamistische Vereinigung sunnitischer Herkunft, deren Gründung 1928 in Ägypten auf die Errichtung eines islamischen Staates mit einer entsprechenden Gesellschaft abzielte. Sie unternimmt in Europa jedoch keine Terroranschläge und ist hier nicht einmal offiziell präsent – von daher ist die MB auch in der EU und Österreich nicht verboten (in Russland z.B. sehr wohl). In Ägypten war sie es immer wieder und ist es auch gegenwärtig: Nachdem der sozialdemokratische Diktator Mubarak gestürzt worden war, ging sie aus den demokratischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen als klare Siegerin hervor. Sie verdankt ihren Zuspruch in der Bevölkerung weniger dem religiösen Fundamentalismus, der von allen Unterstützern und Wählern geteilt würde, sondern ihrem sozialpolitischen Engagement. Das ägyptische Militär sah sich 2013 veranlasst, Präsident Mursi durch einen Putsch abzusetzen und im Gefängnis zu Tode zu bringen, während die MB-Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ abermals illegalisiert und unterdrückt wurde. In der Bevölkerung verfügt sie trotzdem noch über viele Anhänger und Einfluss.

Muslimbrüder-Filialen in der arabischen Welt

Die ursprünglich ägyptischen Muslimbrüder unterhalten jedoch Ableger in verschiedenen arabischen bzw. muslimisch geprägten Ländern. Im Sudan stellte sie lange die Alleinregierung, in Tunesien und Algerien sind ihre Parteien in den gegenwärtigen Regierungen vertreten – im letzteren Fall handelt es sich aber um den zweiten Anlauf: 1991 war die MB-Partei FIS („Islamische Heilsfront“) nach ihrem Wahlsieg verboten und durch das Militär zerschlagen worden. In Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden Aktivitäten der MB ebenfalls verboten, in Jordanien jüngst wieder legalisiert. Als Förderer der MB gelten die türkische AKP und Präsident Erdogan, aber auch Katar. Die Verfolgung der MB in arabischen bzw. islamisch geprägten Ländern hat keineswegs immer mit säkularen und laizistischen Ausrichtungen der dortigen Regierungen zu tun, sondern mit einem innerislamistischen Konkurrenzverhältnis zum Wahabismus – dieser ist nicht nur die Grundlage der saudischen Herrschaft, sondern auch des IS und, mit Abstrichen, der Al-Kaida. Vor diesem Hintergrund ist so mache „interne“ und internationale Diskrepanz zu verstehen, ebenso jene Fälle, wo MB-Ableger in bewaffneten Konflikten (z.B. Libyen) oder sehr wohl als terroristische Organisationen (Syrien) aktiv waren oder sind. Gemäß ihrer Gründungscharta sind für die MB in einem Fall jedoch immer Gewalt und Attentate zulässig, nämlich gegenüber einer Besatzungsmacht. Dies war z.B. in der Anfangszeit im britisch dominierten Ägypten nicht unlogisch, hat aber seine massivste Auswirkung im benachbarten Palästina und Israel – denn dort ist die MB-Tochterorganisation Hamas tätig.

Hamas als MB-Organisation in Palästina

Einerseits reicht der anzustrebende islamische Staat in der Region aus Hamas-Sicht vom Fluss (Jordan) bis zum Meer, d.h. für Israel ist kein Platz vorgesehen (wohl aber für Juden und Christen als künftige Bürger zweiter Klasse). Die umfangreichen und im höchsten Maße verbrecherischen Terroranschläge der Hamas bzw., richtiger, ihres „bewaffneten Arms“ (Kassam-Brigaden) richten sich keineswegs nur gegen die IDF-Armee, sondern bekanntlich auch gegen israelische Zivilisten. Dies rechtfertigt man sich nicht nur mit der teilweisen Rezeption antisemitischer Verschwörungstheorien, sondern auch auf besonders zynische Weise: Alle Bürger Israels wären aufgrund der (langen) Wehrpflicht legitime Ziele. Eine friedliche Lösung des „Nahostkonflikts“ erscheint auf dieser Grundlage kaum möglich, allerdings beiderseits: Nach dem Wahlsieg der Hamas-Partei in den Palästinensergebieten 2006 wurde ihre Regierung von Tel Aviv und Washington boykottiert und schließlich im Rahmen eines „Bürgerkriegs“ gestürzt: Seither kontrolliert die Hamas den Gazastreifen, das Westjordanland wiederum die Fatah (bzw. Israel). Recht hartnäckig hält sich die auch durch israelische Quellen gestützte Ansicht, dass die Regierung Israels ursprünglich die MB-Organisationen in Palästina unterstützt hatte, um die Fatah bzw. die PLO und die linken Palästinenserorganisationen zu schwächen. Nun, dies wäre ja immerhin gelungen.

Ablenkung und PR, Unterstützung für Israel und Ägypten

Wenn nun in Österreich eine pompöse Razzia durchführt wird gegen Vereine, die mutmaßlich der MB nahestehen, so hat dies zunächst rein gar nichts mit irgendeiner realen Bedrohungslage hierzulande zu tun. Insofern möchte man tatsächlich von einem Ablenkungsmanöver oder einer PR-Aktion von Innenminister Nehammer (ÖVP) ausgehen. Ganz so einfach ist es aber auch wieder nicht, denn natürlich haben MB-Mitglieder und ‑Sympathisanten viele islamische Einrichtungen in Österreich unterwandert, um einerseits fundamentalen Einfluss auf die muslimische Community zu nehmen, andererseits unterhält die MB ein internationales Wirtschaftsimperium, das rückwirkend sehr wohl die ägyptischen Muslimbrüder, aber eben auch die Hamas finanziell unterstützt. Man könnte also sagen, dass das Vorgehen der österreichischen Behörden rund um diese Razzia und in weiterer Folge insbesondere eine Operation zugunsten Israels, Ägyptens und Saudi-Arabiens darstellt, gleichzeitig aber auch eine weitere Maßnahme gegen türkische Interessen. Die ideologische Nähe der AKP, die über eine große Anhängerschaft in Österreich verfügt, zur Muslimbruderschaft ist kein Geheimnis. Insofern trifft das BVT mit der Razzia zumindest indirekt wohl auch Strukturen im Bereich der türkisch dominierten Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) sowie der aus Ankara staatlich geförderten Türkisch-Islamischen Union ATIB, ob nun zurecht oder nicht.

Konfrontation mit der Türkei, Schulterschluss mit Frankreich

In der fortgesetzten Konfrontation mit der Türkei, die von der ÖVP gezielt betrieben wird, spiegelt sich sodann auch ein Kampf imperialistischer Regionalmächte um Einflussgebiete und Investitionssphären wider: Am Balkan, insbesondere in Bosnien, im Kosovo, in Albanien und z.T. in Nordmazedonien, stehen das österreichische Kapital und die momentan ökonomisch schwer gebeutelten türkischen Ambitionen in maßgeblicher direkter Konkurrenz. Auch das ist ein Grund – und nicht etwa das geteilte Leid aufgrund jüngster Terroranschläge –, warum die Wiener Regierung momentan die Nähe zu Frankreich sucht, während sie mit der laschen BRD-Position gegenüber Ankara weniger anfangen kann. Hier geht eine Bruchlinie durch die EU (und die NATO), gut sichtbar durch die verschiedenen Positionen im Öl-/Gasstreit im Ostmittelmeer zwischen Griechenland und Zypern einerseits und der Türkei andererseits, wobei am Rande freilich auch – siehe da – Ägypten involviert ist. Man soll sich nicht täuschen lassen: So unfähig die österreichische Geheimpolizei rund um die Observierung des nunmehrigen Terrorattentäters vom 2. November agiert zu haben scheint, so weiß man durchaus, was man tut – mit bewussten politischen Implikationen, die weit über das eigene Staatsgebiet hinausgehen.

Quelle: ORF

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