Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Zu den Erinnerungen eines österreichischen Sozialdemokraten
Vorbemerkung
Autobiografien sind mehr als nur „Selbstenthüllungen“, sie lassen bei aller Individualität die sozialen Komponenten der Geschichte deutlich werden, in der das Individuum selbst eine soziale Funktion erfüllt und dabei zu einer „unpersönliche“ Figur wird. Der Wiener Ewald Nowotny (*1944), der zweifellos eine der repräsentativsten Personen der österreichischen Sozialdemokratie der letzten Jahrzehnte ist, hat Erinnerungen unter dem Titel „Geld und Leben“ veröffentlicht. Der Inhalt des Buches ist in 22 Kapitel dankenswerterweise so aufbereitet, dass jedes Kapitel für sich allein gut lesbar ist. Ein Nichtökonom erhält viele Einblicke in eine ihm fremde und fremdbleibende Welt des Finanzkapitals. Das eine oder andere wird ihm schon in den oft genug als Kriminalnachrichten interpretierbaren Wirtschaftsnachrichten der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), die das Hofjournal des Schweizer Finanzplatzes ist, randständig begegnet sein. Am 9. Oktober 2020 schreibt die NZZ, dass die Milliardäre dieser Welt mit der Corona-Krise wegen des Börsenbooms noch wohlhabender geworden seien und dass die 511 reichsten Steuerzahler der Schweiz 227,7 Milliarden Franken Vermögen auf sich konzentrieren. In diesem Kontext kommen Assoziationen zu Bemerkungen der NZZ über die Firma Glencore. Glencore ist als weltweit größte Unternehmensgruppe im Rohstoffhandel tätig und hat seinen operativen Hauptsitz im Kanton Zug, der Nowotny als „steuerschonend“ bekannt ist. Mit einem Umsatz von 205,4 Milliarden US-Dollar und einem Gewinn von 5,8 Mrd. US-Dollar stand Glencore im Jahr 2017 auf Platz 64 der weltgrößten Unternehmen. Für den 29. November d. J. hat eine Konzerniniative des Schweizer liberalen Bürgertums, das um seine Reputation fürchtet und sich mit solchen schweizerischen Raubkonzernen nicht auf eine Ebene stellen lassen will, eine Volksabstimmung mit dem Ziel organisiert, gegen solche Konzerne, die für die Vergiftung von Kindern verantwortlich sind, vor Gericht zu ziehen. Die Schweizerische Nationalbank und die vielen schweizerischen Privatbanken, von denen die Julius Bär-Bank die berüchtigtste, jedenfalls die bekannteste ist, sind nicht im Fokus dieser Konzerninitiative. Die durch Sklavenarbeit angehäuften Gelder und die den von Diktatoren der „Dritten Welt“ den einheimischen, im Einverständnis vom profitierenden Westen ans Kreuz geschlagenen Völkern geraubten Gelder werden in der vornehmen, hinter der Mauer des Bankgeheimnisses operierenden Schweizer Bankwelt deponiert. Nur gelegentlich dringt das eine oder andere mit Namen wie von Sese Seko Mobuto (1930–1992) aus Zaire oder von Jean-Claude Duvalier (1951–2014) aus Haiti in die Öffentlichkeit.
Als fünfzehnjähriger hat Nowotny, wie er gerührt am Beginn seiner Erinnerungen erzählt, von einem seiner Onkel ein kleines Aktiendepot von Nestlé Aktien mit dem Rat erhalten, diese nie zu verkaufen. Daran habe er sich gehalten und dieses Depot an seinen Sohn weitergeben. Kein Wort lesen wir von Nowotny darüber, dass selbst Säuglinge der Profitgier von Nestlé, der einer der mächtigsten transkontinentalen Nahrungs- und Trinkwasser-Konzerne ist, geopfert werden. Nestlé kontrolliert 10,5 Prozent des weltweiten Wassermarktes. Mit der Aufklärung von Jean Ziegler über die „Krake von Vevey“[1] will Nowotny nichts zu tun haben.
Nowotny ist kein Kriminologe, er ist rechtschaffener Ökonom und schreibt nicht über kriminelles Tun und Treiben in der Wirtschaft, sondern über die nationalen und internationalen Banken und deren Kooperation als Zentren der kapitalistischen Wirtschaft, ohne die unser kapitalistisches System eben nicht funktionieren könne. Auch im Rückblick stellt er keine systemischen Fragen, er zweifelt nirgends, auch wenn er seine „gemischten“ Gefühle gelegentlich artikuliert. Seine ökonomische Anleitung hat er bei John Maynard Keynes (1883–1946) gefunden. Dieser hat erklärt, wie es mit Hilfe der rechten Sozialdemokratie gelingen kann, Funktion und Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in den Händen einer winzigen Minderheit gegenüber den Massen der Völker zu verschleiern. Keynes ist Apologet des Monopolkapitals, wozu der deutschjüdische Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski (1904–1997), der nach seiner Flucht aus Nazideutschland über die USA und Großbritannien nach 1945 in der Deutschen Demokratischen Republik eine Alternative zur Kriegstradition Deutschlands gefunden hat, 1952 ein angriffiges Büchlein geschrieben hat.[2] Nowotny wird diesen Namen bei seinem Lehrer Kurt W. Rothschild (1914–2010) gehört haben, in einen Dialog mit den zahlreichen Veröffentlichungen von Jürgen Kuczynski ist er bewusst nicht eingetreten. Er hat auch keinen Dialog mit dessen ihm gleichaltrigen, in London geborenen Sohn Thomas Kuczynski geführt. Von diesem sind 2014 historisch-kritische Betrachtungen zur Ökonomie der Gegenwart veröffentlicht worden. Diese sind mit den Erinnerungen von Nowotny nicht kompatibel, weil sie komplexe Fragen wie den Zusammenhang von bürgerlicher Demokratie und unternehmerische Diktatur oder über die friedlichen und kriegerischen Expansionsstrategien des Kapitals verständlich und präzise erörtern.[3]
Intellektualität, Können und Brauchbarkeit
Der mit privilegiertem bürgerlichem Hintergrund aufgewachsene Nowotny trat nach seiner Promotion (1966) eine zielorientierte akademische Laufbahn als Ökonom an. Im spezifischen Wiener Biotop der Sozialdemokratie hat er sich von Anfang an wohlgefühlt, zumal er kein „Blauhemd“ tragen musste. Er ist gebildet und weiß, was im sozialdemokratischen Bildungsbürgertum noch heute angenommen wird. Thomas Mann (1875–1955) und Bertolt Brecht (1898–1956) haben zum studentischen Bildungserlebnis der heranwachsenden Nowotnys gehört. Thomas Mann wird, so Nowotny, als Autor „einer kultivierten, aufgeklärten und <verantwortungsbewussten >bürgerlichen Sozialdemokratie<“ gelesen. Diese Wahrnehmung kann Thomas Bernhard (1931–1989) bestätigen, der bissig anmerkt, Thomas Mann habe „nur für Kleinbürger“ geschrieben.[4] Thomas Mann hat, was bei Nowotny nicht zur Sprache kommt, den Antikommunismus scharf abgelehnt und kam nicht umhin „in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche“. Der Kommunismus sei „als Vision viel älter als der Marxismus und enthält auch wieder Elemente, die erst einer Zukunftswelt angehören. […] So ist der Kommunismus älter als Marx und das 19. Jahrhundert. Der Zukunft aber gehört er an insofern, als die Welt, die nach uns kommt, in der unsere Kinder und Enkel leben werden, und die langsam ihre Umrisse zu enthüllen beginnt, schwerlich ohne kommunistische Züge vorzustellen ist: d. h., ohne die Grundidee des gemeinsamen Besitz- und Genußrechts an den Gütern der Erde, ohne fortschreitende Einebnung der Klassenunterschiede, ohne das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit für alle“.[5] Solche Gedanken bleiben Nowotny fremd oder werden verdrängt durch mitgeteilte Übernachtungserlebnisse in Frankfurt a. M. im „Frankfurter Hof“ in der Thomas Mann-Suite des „Frankfurter Hofes“ in Frankfurt. Nowotny hat sich, wie er erzählt, „von der hemmungslosen Emotionalität“ und dem für ihn „>sehr deutschen<, autoritären Verhalten“ von Brecht abgestoßen gefühlt, erst später habe er entdeckt, „wie viel Menschlichkeit hinter seinem Zynismus steckt“ und vollends versöhnt habe er sich mit ihm, seit er entdeckt habe, dass Helene Weigel (1900–1971) für den Brecht’schen Frühstücktisch „schönes österreichisches Augarten-Porzellan verwendete“. Dann zitiert Nowotny aus den „Fragen eines lesenden Arbeiters“, was ihm ein passender Schlüssel für die soziale Einbindung seiner eigenen Arbeit zu sein scheint. Einen solchen hätte er allerdings im Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ finden können, wo es in Ergänzung zum Titel dieses Artikels heißt: „Denn es zieht mich zu dem Großen / Selbst- und Nutz- und Vorteilslosen / Und es zieht mich zum Geschäft / Unbewußt“.
Einlernen in die politische Kultur des Wegschauens
An der 1966 in Linz neu entstandenen Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (seit 1975 Johannes- Kepler-Universität) hat Nowotny als Assistent von Rothschild für seine wissenschaftliche Entwicklung eine gute Grundlage gefunden. Seit 1973 war Nowotny dort ordentlicher Universitätsprofessor und Obmann der Fachgruppe Hochschullehrer im Bund Sozialdemokratischer Akademiker (BSA). Die Statusfrage war in jungen Jahren gelöst. Von Bruno Kreisky (1911–1990) wurde er eingeladen, an dessen „Professorentreffen“ teilzunehmen und gewann sein Vertrauen. Kreisky selbst schreibt dazu in seinen Memoiren nichts.[6] Wohl aber schreibt Kreisky über einen typischen Charakterzug des österreichischen Mittelstandsbürgertum, dem die Nowotnys angehören, „jener Menschen, die es sich immer wieder richten und die die Kunst, jeweils im breitesten Strom mitzuschwimmen, zur Maxime ihres Handelns oder besser: ihres Nicht-Handelns gemacht haben“.[7] Nowotnys Agenda erweitert sich in den beginnenden 1970er Jahren mit separat honorierter Beratertätigkeit für Immobilieninvestoren. 1978 wird Nowotny von der SP als Abgeordneter ins Parlament gerufen und dort in den ersten Jahren von Klubobmann Heinz Fischer, der ihm als ein „bewährter Freund“ gilt, betreut. 1982 erhält Nowotny die Berufung an die Wirtschaftsuniversität in Wien.[8]
Ein zweijähriger Aufenthalt (1971 und 1972) in den USA über das American Council of Learned Societies-Scholar an der Harvard University prägt Nowotny. Es ist die Zeit des US-Völkermordes in Vietnam, es ist aber auch die Zeit von Protesten gegen den Krieg, gegen die rassistische Diskriminierung oder für die Befreiung der mit Nowotny gleichaltrigen Kämpferin für die Menschenrechte Angela Davis. War der österreichische sozialdemokratische Jungakademiker in den USA davon irgendwie erkennbar beeindruckt? „Man weiß von den Kriegsverbrechen durch Zeugen, die im Fernsehen (Chanell 13) befragt werden und berichten, was sie in Vietnam verrichtet haben unter der Order: Es werden keine Gefangenen gemacht. FREE FIRE ZONE: es darf alles getötet werden, inbegriffen Kinder. Belohnung für drei getötete Vietnamesen: eine Woche Urlaub am Meer. Als Beleg dafür, daß man Tote gemacht hat, bringt man Ohren oder Genitalien. […] Die öffentliche Versammlung leitet ein Columbia-Professor für Rechtslehre. Wenn nicht getötet wird, so nur aus einem einzigen Grund: zwecks Verhör, wobei jede Art von Folter vorkommt, übrigens auch sexuelle Befriedigung an Frauen und Männern, bevor sie erschossen werden. […] Was geschieht, wenn einer nicht mitmacht? Der junge Mann, jetzt kaufmännischer Angestellter, zuckt die Achsel; Strafversetzung, ein weiteres Halbjahr in Vietnam. Man werde eben ein Tier. Es ist in ihren Gesichtern nichts anzusehen. […] Der Vorsitzende bittet um weitere Fragen – „.[9] So lesen wir nicht in den Erinnerungen von Nowotny, sondern im Tagebuch von Max Frisch (1911–1991), der zur selben Zeit wie Nowotny in den USA war. Solche barmherzige Aufmerksamkeit eines schweizerischen Humanisten ist dem österreichischen Karrieristen und Sozialdemokraten fremd, von Beginn an wird er in die Kultur des Wegschauens eingeübt. Er schreibt über sein Wohlbefinden in den USA und darüber, dass es wegen der „immer intensiveren kriegerischen Involvierung der USA in Vietnam“ zu einer Abschwächung der Position des US-Dollars gekommen sei. Vor allem habe er in Harvard den republikanischen Makroökonomen Martin Stuart Feldstein (1939–2019) kennengelernt. Und weil sich Nowotny mit Feldstein, der als ökonomischer Chefberater den US-Kriegspräsidenten seit Richard Nixon (1913–1994) zur Seite gestanden ist, so gut verstanden hat, hat er ihn über viele Jahre zu Opernbesuchen „zu uns nach Wien“ eingeladen.
Rechtschaffenheit zahlt sich aus
Nowotny ist „Herr Professor“, er war viele Jahre sozialdemokratischer Abgeordneter (bis 1999), von 1973 bis 1978 Präsident des Verwaltungsrates der Österreichischen Postsparkasse, von 1999 bis 2003 Vizepräsident der Europäische Investitionsbank (Luxemburg) und 2006 bis Ende 2007 Generaldirektor der BAWAG PSK. Als letzterer wickelte er deren Verkauf so ab, dass der Funktionärsapparat des Österreichischen Gewerkschaftsbundes vor dem Konkurs bewahrt wurde, was einen völligen Neuanfang der Gewerkschaften verhinderte. Als „alter“ Gewerkschaftler war Nowotny kein Freund von Streiks. Als es um die Abwicklung der VOEST ging, konnte er in engem Kontakt mit den Betriebsräten verhindern, dass es zu unüberlegten „Trotzreaktionen wie einen Warnstreik“ gekommen ist. Viele Anekdoten streut Nowotny in seinen Text ein. Da finden sich das Mittagessen in einem „exzellenten Restaurant in Luxemburg“ mit dem Präsidenten der Europäischen Investitionsbank Brian Unwin, das den Sinn gehabt haben soll, ihn zu prüfen, ob er denn „mit Messer und Gabel auch schwierige Gerichte essen und auf Englisch und Französisch parlieren konnte“, ebenso wie die Erwähnung von Sondergeschäften österreichischer Bankmanager oder das Hypo-Alpe-Adria Desaster, das Werner Kogler „mit“, so Nowotny, „kabarettistisch verbrämten Erzählungen“ monatelang begleitet hat, oder das Einvernehmen mit Wolfgang Schüssel und andere, spezifisch österreichische Vorkommnisse. Der New Yorker Finanzplatz tritt mit dem Cerberus Capital Management ein bisschen aus der Anonymität. Zentrale Passagen finden sich in den Kapiteln über die EZB (Europäische Zentralbank) und die Finanzkrise und über die Ära von Mario Draghi, der gegen Ende seiner von der kriegsführenden Bundesrepublik offiziell bejubelten Amtszeit (2011–2019) als Präsident der EZB bei einer Diskussion in der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) meinte: „Vielleicht sind wir bei den liberalen Arbeitsmarkt-Reformen der letzten Jahre doch zu weit gegangen“, und Schülerinnen und Schülern erklärt habe, dass die EZB „das Leben von Millionen Menschen berührt“. Konkret hätte das für Europa etwa am Lohndumping verdeutlicht werden können. Die Inflation der Kriminalität infolge monetärer Ereignisse wird dem Fehlverhalten, der Gier und Überheblichkeit einzelner Personen und Personengruppen zugeschoben. Die Hauptlinie der EZB bleibt von Nowotny zugedeckt, über diese wäre bei Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) nachzulesen: „Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuss nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet – denn das würde einer Verminderung der Profite der Kapitalisten bedeuten -, sondern zur Steigerung der Profite durch Kapitalexport ins Ausland, in rückständige Länder. In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismäßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig“.[10] Dass dem so ist, lässt sich mit Nowotnys Erinnerungen da und dort zwischen den Zeilen nachvollziehen, insbesondere wenn von den Raubzüge in den früheren sozialistischen Länder, in denen von der Konterrevolution der Staat in Geldangelegenheiten ein Monopol hatte, oder von Griechenland die Rede ist.
Gleich auf den ersten Seiten stellt sich Nowotny als „ein großer Bewunderer“ des US-Investors und Milliardärs George Soros dar. Wir begegnen in seinem Buch vielen, aus den Medien nur zum Teil bekannten Namen, die sich im Netzwerk des internationalen Finanzkapitals bewegten und bewegen. Vom Wettlauf der österreichischen Banken in die implodierten, von oligarchischen Profiteuren, zu denen mit Michail S. Gorbatschow an der Spitze nicht wenige frühere Parteifunktionäre gehören, zerfressenen sozialistischen Länder erfahren wir so gut wie nichts. Für wirtschaftswissenschaftliche Seminare wird der Einblick in Probleme der sich ausdehnenden Institutionen wie der Europäischen Zentralbank nützlich sein. Schlussfolgerungen über die ökonomisch-kommerziellen Ausdrucksformen sind nicht herauszulesen.
Ist die „Herrschaft des Geldes“ die Bedingung für ein „gutes Leben“?
Gelegentlich kommt Nowotny auf seine schönen Gesten der Fürsorge zu sprechen. Nostalgisch erinnert er sich, dass er in jungen Jahren mit einem „Toni Pelinka“ gemeinsam für die Fragestellung „Christentum und Sozialdemokratie“ durch Österreichs Pfarrgemeinderäte gepilgert ist. Es war das für die beide Herren Nachwuchsakademiker eine gute Einübung in die Rhetorik des Opportunismus vor wohlwollendem Publikum. Hintergrund für diese Aktivität war das Übereinkommen zwischen dem widersprüchlichen Kardinal Franz König (1905–2004), der in diesen Jahren dem reaktionären Opus Dei organisatorischen Rückhalt in Wien gegeben hat, und der Sozialdemokratie des Bruno Kreisky, Lehren aus den Erfahrungen der ersten Republik zu ziehen. Der Politologe Anton Pelinka vertrat die Positionen der „Katholische Kirche“, Nowotny als Mitarbeiter des Österreichischen Gewerkschaftsbundes jene der Sozialdemokratie, die sich der Katholischen Soziallehre annäherte. Ein in Wien in diesen Jahren lebender österreichischer Jesuit, der sich mit dem Verhältnis von Christentum und Kapitalismus intensiv auseinandergesetzt hat, war der Moraltheologe Johannes Kleinhappl (1893–1979). Er wurde und wird mit seinen Werken totgeschwiegen[11] und könnte heute als einer der christlichen Vorgänger von Papst Franziskus genannt werden.
Seit seinem Amtsantritt ist Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ auf die Rolle von Arbeit und Geld für die menschliche Entwicklung und der persönlichen Verwirklichung zu sprechen gekommen. Er bringt in Erinnerung, dass er 2014 in einer Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Treffens der Volksbewegungen zum Kampf „gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes“ im Sinne der Solidarität mit den Armen aufgerufen hat. Unter Solidarität versteht Papst Franziskus mehr „als einige sporadische Gesten der Großzügigkeit. Es bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass man dem Leben aller Vorrang einräumt – und nicht der Aneignung der Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte“. Schade, dass Papst Franziskus nicht Fidel Castro (1926–2016) zitiert hat: „Die WTO (Welthandelsorganisation), die Weltbank und der Internationale Währungsfonds stellen die Regeln für eine Situation von Beherrschung und Ausbeutung auf, die de facto gleich oder schlimmer und in ihren Konsequenzen verhängnisvoller ist als die koloniale Sklaverei. Viele Menschen suchen eine Möglichkeit, sich von dieser Herrschaft zu befreien“.[12]
Nowotnys Resümee, dass “sich der Lebensstandard der meisten Menschen trotz der inzwischen eingetretenen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges tatsächlich massiv erhöht“ habe, gelingt Nowotny nur, weil er fähig ist, vom aktuellen Weltkrieg gegen die Armen, vom Hungertod und von der Ausgrenzung von Millionen Menschen wegzuschauen, ihnen keine Bedeutung beizumessen. Es fehlt ihm auf seinem Lebensweg durchgehend die dafür notwendige Achtsamkeit. Was solche „Achtsamkeit“ ist, erklärt sehr schön der Vietnamese Thich Nhat Hanh, der als Friedensaktivist ein Mitkämpfer des Befreiungstheologen Daniel Berrigan SJ (1921–2016) war. Thich Nhat Hanh ist mit einer Gruppe von Kindern in irgendeinen Supermarkt im Westen gegangen, nur um Nägel zu kaufen. Aber zugleich konnte er den Kindern im Vorbeigehen in anderthalb Stunden erklären: „Es gibt im Supermarkt Waren, die durch die Arbeit von Kindern hergestellt wurden, von Kindern, die keine Möglichkeit zum Schulbesuch haben. Es gibt Waren, deren Produktion giftig und zerstörerisch ist. Wir müssen lernen, mit einem mitfühlenden Herzen zu konsumieren“.[13]
Die Autobiografie von Nowotny lässt nachvollziehen, wie die österreichische Sozialdemokratie sich nicht als Klassenpartei, sondern als Partei der kapitalistischen Weltanschauung versteht und als solche handelt. Nowotny beruft sich dabei, hier ganz „Universitätsprofessor“, auf seine intellektuelle Leitfigur Karl R. Popper (1902–1994) und „in Übereinstimmung mit dem klassischen Liberalismus“ auf den nur noch Universitätsseminaristen randständig bekannten englischen philanthropischen Ökonomen John Stuart Mill (1806–1873). Dem zufolge sind die von der Ökonomie bestimmten universellen Gesetze nur für die Produktion gültig, es sei aber möglich, die daraus folgenden Widersprüche durch Reform der Verteilungsverhältnisse zu überwinden. Die klassischen Werke von Karl Marx (1818–1883), Friedrich Engels (1820–1895) und Lenin bleiben Tabu, obschon die dort analysierten Grundprinzipien der Werttheorie noch heute gültig sind. Nowotny resümiert mit Keynes als Eckpfeiler seiner Denkhaltung, dass Geld das Mittel für ein geglücktes Leben ist und so habe er seinem Leben das Programm „Geld und Leben“ gegeben. Die Welt des Geldes, so Nowotny, gehe immer weiter und „bestimmt neues Leben“, nirgends spricht er von einer möglichen Vermenschlichung dieses Systems. Nowotny leistet sich, wie er selbst gerne anmerkt, gelegentlich den Snobismus, bei Wortmeldungen im Freundeskreis um die vom Präsidenten der Banque de France Jean-Claude Trichet präsidierten, von den US-Amerikaner Zbigniew Brzeziński (1928–2017) und David Rockefeller (1915–2017) gegründeten „Trilateral Group“ lateinische Redewendungen einzuflechten. Cicero (106–43 v. u. Z.) mit seinem Urteil, dass „Pecunia nervus belli“ ist, wird nicht nützlich gewesen sein.
Nowotny schreibt, dass die Sozialdemokratie heute keine „Klassenpartei“ mehr ist, „sondern eine Partei einer gemeinsamen Weltanschauung“. Er meint, ihm sei der „Aspekt einer tatsächlichen und nicht nur formalen Chancengleichheit“ zentral. Weil sich die Sozialdemokratie nicht als Klassenpartei versteht, nimmt sie Partei für die herrschende Klasse, national und international, und ermüdet mit ihrem von Nowotny beispielhaft vorgetragenen Moralismus die unterdrückte Klasse im Kampf um Befreiung. Die Armut der Welt ist der Preis für das „geglückte Leben“ jener für die „Herrschaft des Geldes“ mitverantwortlicher und sozial entfremdeter Sozialdemokraten. In einer Botschaft am Welttag der Armen hat Papst Franziskus gesagt: „Die Armut wird nicht gesucht, sondern vom Egoismus, Hochmut, Gier und Ungerechtigkeit verursacht“.[14]Für all das sind grundlegend die Eigentumsverhältnisse mit ihrer Dialektik von Reichtum und Armut. Das Buch von Ewald Nowotny ist eine nützliche Dokumentation über die Rolle der Sozialdemokratie in dieser Dialektik.
Ewald Nowotny: Geld und Leben. Buch. Hardcover. Braumüller GmbH. Wien 2020, 256 S. ISBN 978–3‑99100–313‑7. Euro 22.-
[1] Jean Ziegler: Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung. Verlag Goldmann München 7. A. 2008.
[2] Jürgen Kuczynski: Die politökonomische Apologetik des Monopolkapitals in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Dietz Verlag Berlin 1952.
[3] Geschichten aus dem Lunapark: Historisch-kritische Betrachtungen zur Ökonomie der Gegenwart. Neue Kleine Bibliothek. PapyRossa Verlag Tb 2014.
[4] Thomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur. Suhrkamp Verlag Berlin 2011, S. 254 f.
[5] Thomas Mann: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1960, Band 12, S. 934.
[6] Bruno Kreisky: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Siedler Verlag GmbH Berlin 1986; Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil. Siedler Verlag GmbH Berlin 1988.
[7] Kreisky, Im Strom, S. 378.
[8] Heinz Fischer hat in seinem Buch: Überzeugungen. Eine politische Biografie. Styria Verlag Wien / Graz / Klagenfurt 2006 Nowotny nicht genannt, obschon der Autor das namedropping für solche Karrieristen charakteristisch beherrscht! Vgl. Gerhard Oberkofler: Masken zweier Biedermänner. http://www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Oberkofler_1_10.pdf
[9] Max Frisch: Tagebuch 1966–1971. Buchclub Ex Libris Zürich 1974, S. 376 f.
[10] Lenin, Werke 22 (1974), S. 245 (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus).
[11] Vgl. http://www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Oberkofler_3_04.html; Johannes Kleinhappl: Christentum und Kapitalismus. Analysen, Essays und Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. Und eingeleitet von Ernst von Loen. Tyrolia Verlag Innsbruck-Wien 1992.
[12] Fidel Castro: Mein Leben. Fidel Castro mit Ignacio Ramonet. Aus dem Spanischen von Barbara Köhler. Rotbuch Verlag Berlin 1. A. 2008, S. 425.
[13] Thich Nhat Hanh: Mein Leben ist meine Lehre. Autobiographische Geschichte und Weisheiten eines Mönchs. O. W. Barth Verlag München 2017, S. 140 f.
[14] Botschaft von Papst Franziskus zum zweiten Welttag der Armen am 18. November. L’Osservatore Romano vom 27. Juli 2018.