Nach der Parlamentswahl verfügt Präsident Macron nur noch über eine Minderheitsregierung. Die links-grün-sozialdemokratischen Zugewinne bleiben überschaubar, die rechtsextremen sind im Ausmaß überraschend. Eine absolute Mehrheit von fast 54 Prozent der Wahlbevölkerung blieb den Urnen fern.
Paris. Mit der zweiten Runde, also den Stichwahlen der französischen Parlamentswahl 2022 am vergangenen Sonntag ergaben sich im Großen die erwarteten Verhältnisse: Das liberal-zentristische „Ensemble“-Bündnis von Präsident Emanuel Macron bleibt stärkste Kraft in der Nationalversammlung, verliert aber die absolute Mehrheit. Die Regierungsfraktion kommt auf 245 Mandate (minus 105), womit 44 auf die fragliche Grenze von 289 fehlen.
Das links-grün-sozialdemokratische Bündnis NUPES unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon erreicht 131 Sitze, was denn doch sehr weit von einer angestrebten Regierungsmehrheit entfernt ist – man gewann nicht einmal die Hälfte der dafür nötigen Mandate und liegt 114 Sitze hinter Macrons Liste. Trotzdem stellen die NUPES-Abgeordneten nun die größte Oppositionsfraktion. Es wird sich zeigen, ob das in manchen Fragen nicht allzu homogene Bündnis in dieser Form Bestand haben kann und wie die Zukunft des bald 71-jährigen Mélenchon aussieht.
Die Überraschung des Wahlabends lieferte die rechtsextreme „Nationale Versammlung“ (RN) von Marine Le Pen. Aufgrund des regionalen Mehrheitswahlrechts war es für die frühere „Front National“ immer schwierig, die beachtlichen Stimmenanteile auch in gewonnene Parlamentssitze umzusetzen – dies wurde nun mit einem erstaunlichen Rekordergebnis durchbrochen: Die RN kommt in der neuen Nationalversammlung auf gleich 89 Mandate und darf sich als eigentliche Wahlsiegerin betrachten.
Die über Jahrzehnte staatstragenden konservativen und gaullistischen Kräfte erlebten auch in der zweiten Wahlrunde wenig Erfreuliches: „Die Republikaner“ stellen nur noch 61 der 577 Abgeordneten, was eine erhebliche, aber erwartbare Schlappe darstellt. Die restlichen Mandate in der französischen Nationalversammlung gehen an linke, rechte, zentristische und regionalistische Einzelkandidaturen.
Unterm Strich steht Frankreich eine schwierige, vielleicht auch interessante Periode bevor. Präsident Macron wird sich zwar auf eine Regierung seines Vertrauens stützen können, aber für legislative Pläne über keine parlamentarische Mehrheit verfügen – eine solche kann er entweder über fallweise Kooperationen mit Teilen der Opposition oder, was eher unüblich wäre, mit einer Koalition herstellen. Bei beiden Optionen sind wohl die konservativen „Republikaner“ der ersten Ansprechpartner, da es hier die größten Schnittmengen gibt.
Insgesamt muss man sagen, dass Macrons Projekt den Anfang seines schließlichen Scheiterns erlebt hat. Die Inszenierungen funktionieren nicht mehr, die antisoziale und elitäre Realpolitik hat viele frühere Unterstützer enttäuscht. Dies verbindet sich mit einer gewissen Stärkung der Linken, mit einer bedeutenden Stärkung der rechtsextremen RN, die endgültig als etabliert gelten muss. Die Konservativen bringen zwar keine Beine auf den Boden, könnten aber als Macrons Gehilfen wieder an Bedeutung gewinnen.
Offensichtlich wurde in der zweiten Runde der Parlamentswahl außerdem, dass mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten allen Kandidaturen nichts abgewinnen konnte. Die Wahlbeteiligung sank nochmals auf nun 46,23 Prozent. Angesichts von 26 Millionen Nichtwählern verfügt die Macron-Regierung mit ihren acht Millionen Stimmen über wenig demokratische Legitimation, die reformistische Linksopposition mit ihren sechseinhalb Millionen Stimmen ebenso.
Quelle: ORF