Wien. Die jüngste Berichterstattung in der Tageszeitung „Der Standard“ zielt einmal mehr darauf ab, Antisemitismus und Kritik an Israels Kriegspolitik in einen Topf zu werfen. Indem man jede Form von Kritik an Israels Vorgehen mit Antisemitismus gleichsetzt, schadet man dem aufrichtigen Kampf gegen Judenhass. Statt konsequent Antisemitismus zu benennen und zu bekämpfen, wird die Aufmerksamkeit auf Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gelenkt, die laut IKG angeblich „gegen die Existenz Israels“ mobilisieren.
Gerade Amnesty International hat in den letzten Wochen mehrfach gezeigt, dass es nicht schweigend zuschauen will, wenn im Gazastreifen massenhaft Zivilistinnen und Zivilisten bombardiert, vertrieben oder getötet werden. Die NGO prangert ein systematisches Vorgehen an, das sie klar als Völkermord bezeichnet. So entlarvt sie den schrecklichen Zustand im Gazastreifen mit hungernden Menschen, zerstörten Spitälern und fehlender medizinischer Versorgung. Es geht um faktenbasierte Kritik an einem militärischen Aggressor – nicht um die Delegitimierung jüdischen Lebens an sich.
Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) und auch der „Standard“ nutzen in diesem Zusammenhang die Ablehnung der IHRA-Definition durch Amnesty, um die NGO zu delegitimieren. Die Menschenrechtsorganisation sei „offensichtlich“ Teil der „Mobilisierung gegen selbstbestimmtes jüdisches Leben und gegen die Existenz Israels“, schimpft IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele im besagten „Standard“-Artikel. Doch die eigentliche Absicht hinter der Empörung über Amnesty liegt auf der Hand: kritische Stimmen, die die Bombardierung von Wohngebieten, das Aushungern der Zivilbevölkerung und die völkerrechtswidrige Belagerungspolitik Israels im Gazastreifen anprangern, sollen mundtot gemacht werden. Amnesty International soll der Maulkorb angelegt werden und jegliche Solidarität mit Palästina soll verpönt, verteufelt und diffamiert werden.
Dabei verkennt man bewusst oder unbewusst einen elementaren Unterschied: Antisemitismus ist Rassismus und muss bekämpft werden; Kritik an menschenverachtender Politik ist nicht nur legitim, sondern zwingend notwendig. Wer das eine mit dem anderen gleichsetzt, betreibt zynische Propaganda – mit dem Ziel, dass auch die letzten kritischen Stimmen über das brutale Vorgehen gegen Palästinenserinnen und Palästinenser verstummen.
Dass der „Standard“ und die IKG ausrücken, um Amnesty in die Nähe antisemitischer Hetze zu rücken, ist unverantwortlich. Wer nicht gewillt ist, die Verbrechen im Gazastreifen zu verurteilen, geht den Weg der Diskreditierung: „Sie kritisieren Israel? Dann sind Sie antisemitisch.“ Hier wird offen Sprachlenkung betrieben, um evidenzbasierte Vorwürfe ins Leere laufen zu lassen.
Dabei geht es Amnesty erkennbar nicht um die Delegitimierung „jüdischen Lebens“ – wie es suggeriert wird –, sondern um die Dekonstruktion völkerrechtswidriger Praktiken einer Staatsmacht, die systematisch die Zivilbevölkerung trifft: Zehntausende Tote, Vertreibung, Hunger, zerstörte Spitäler und unzureichende Hilfslieferungen sprechen eine deutliche Sprache. In einer solchen Lage ist es blanker Hohn, den NGOs, die das anprangern, Antisemitismus vorzuwerfen.
Der „Standard“ leistet hier letztlich Schützenhilfe für Kriegstreiber: Wer in der Frage Gaza nicht den Mund hält, wer die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur anprangert, wird als „antisemitisch“ gebrandmarkt. Dass Amnesty International auf Grundrechte pocht, die weltweit gelten, scheint offenbar weniger wert zu sein als das Bestreben, jegliche Kritik an Israels Militäraktion als Hass gegen jüdisches Leben darzustellen.
Es stellt sich die Frage: Wer profitiert eigentlich von diesem verzerrten Diskurs? Sicher nicht die Menschen, die vor Bomben fliehen oder im Gazastreifen ihrem Schicksal überlassen werden. Vielmehr schaffen solche Artikel ein Klima, in dem unliebsame Kritiker mundtot gemacht werden. Ganz nach dem Prinzip: Wer nicht schweigt, wird beschuldigt. Irgendetwas wird schon hängenbleiben. Und genau darin liegt die Gefahr – für die Glaubwürdigkeit von Medien, für einen seriösen Antisemitismusdiskurs und nicht zuletzt für das Leben unschuldiger Zivilistinnen und Zivilisten.
Quelle: Der Standard / Amnesty International