HomeFeuilleton„Das Bild des Kaisers“ – Napoleon Bonaparte im Spiegel von Kunst und...

„Das Bild des Kaisers“ – Napoleon Bonaparte im Spiegel von Kunst und Politik

Gastautor: Dr. Wolfgang Häusler, geboren 1946 in St. Pölten. Studium der Geschichte und Kunstgeschichte. Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien. Zahlreiche Bücher zu Themen der historischen Landeskunde, Geschichte des österreichischen Judentums und des 19. Jahrhunderts. Zuletzt: Ideen können nicht erschossen werden. Revolution und Demokratie in der österreichischen Geschichte 1789–1848–1918 (Molden 2017). Er forscht und publiziert im (Un)Ruhestand weiterhin zu dieser Thematik.

Am 11. November 2018 gedachten Präsident Macron und Kanzlerin Merkel des Endes des Ersten Weltkriegs und seiner Opfer am Pariser Arc de Triomphe. Wenig später sah das bombastische Siegesdenkmal Napoleons mit der Auflistung von 136 (siegreichen!) Schlachtorten, begonnen nach Austerlitz und unter dem Bürgerkönigtum 1836 vollendet, die anhaltende Protestbewegung der Gelbwesten. Am 1. Dezember 2018 wurde dabei gar die Marianne der Marseillaise-Gruppe beschädigt – die weiteren Reliefs feiern, die Widersprüche der Epoche resümierend, den Triumph Napoleons, den Widerstand 1814 und den Frieden 1815.

Die runden Geburts- und Todestage der Leitfigur der modernen Geschichte Frankreichs und Europas boten und bieten immer wieder Anlass zu Reflexion. Am 5. Mai 2021 würdigte Macron Napoleon als großen Staatsmann, verwies aber auch auf die Millionen von Toten seiner Feldzüge: „Napoleon hat sich bei seinen Eroberungen nie um menschliche Verluste gekümmert.“ Mit Bezug auf die Corona-Pandemie betonte er, „die heutige Politik stellt das menschliche Leben über alles.“ In seiner Ansprache im Institut de France, dessen Mitglied der General Bonaparte gewesen war, meinte der Präsident, es sei kein Platz für „exaltierte Feierlichkeiten“ und trat für ein aufgeklärtes Gedenken ein. Für das moderne Rechtswesen sei der nach Napoleon benannte Code Civil die bleibende Grundlage. „Fehler“ und „Verrat an der Aufklärung“ sei dagegen die Wiedereinführung der Sklaverei in Haiti gewesen. Auf die Rede folgte die Kranzniederlegung am Grab im Pariser Invalidendom. Macrons rechtspopulistische/nationalistische Gegnerin und Konkurrentin um das Präsidentenamt, Marine Le Pen, nannte dagegen Napoleon unkritisch eine „unsterblich gewordene französische Legende“. Napoleons Verdienste schmälern zu wollen, bedeute „ethische Waterloos“. All dies dargeboten in einem mit pathetischer Musik unterlegten Video: Während seiner „ebenso kurzen wie brillanten Herrschaft“ habe Bonaparte Europa zwischen 1799 und 1815 die „Botschaft der Freiheit“ gebracht und stets in dem Willen gehandelt, „Frieden zu stiften.“

Im Abstand von vier Jahrzehnten hat Franz Grillparzer in seinem autobiografischen Fragment Erscheinungsbild, Körpersprache und Faszination Napoleons festgehalten – die Eindringlichkeit der Szene aus dem Jahr 1809, der Demütigung Österreichs, erinnert an eine Filmsequenz: „Noch sehe ich ihn die Freitreppe des Schönbrunner Schlosses mehr herablaufen als ‑gehen, und nun mit auf dem Rücken gefalteten Händen eisern dastehen, seine vorüberziehenden Gewalthaufen mit den unbewegten Blicken des Meisters überschauend. Seine Gestalt ist mir noch jetzt gegenwärtig, seine Züge haben sich leider mit den vielen gesehenen Porträten vermengt. Er bezauberte mich, wie die Schlange den Vogel.“ „Glück und Ende eines Gewaltigen“ – so sollte König Ottokar ursprünglich genannt werden: Kaiser Franz verstand das kritische Potential sehr wohl, als er dieses vordergründig habsburgtreue Drama von der Bühne fernhalten wollte. Die Geschichte der Ehen des Böhmenkönigs– mit der Babenbergerin Margareta und, nach Verstoßung der Kinderlosen, mit der leichtfertigen Kunigunde, glich offenkundig Napoleons Trennung von Joséphine und der Vermählung mit der österreichischen Kaisertochter Marie Louise, die den stürzenden Franzosenkaiser 1814 verließ und sich allzu rasch mit dem Offizier Neipperg tröstete. Polizeichef Sedlnitzky und Metternich befürchteten „unangenehme Erinnerungen des Publikums“ und „Vergleichungen mit der jüngeren Zeitgeschichte“. Die dann doch durchgesetzte Uraufführung am Hofburgtheater am 19. Februar 1825 stand unter keinem guten Stern, der große Dramatiker der österreichischen Geschichte war unangenehm aufgefallen und erlangte die angestrebte Bibliotheksstellung nicht.

Heinrich Heine war vierzehn Jahre alt, als er in der Düsseldorfer Allee am 3. November 1811 „ihn selber sah, mit hochbegnadeten Augen, ihn selber, Hosianna! den Kaiser. Der Kaiser trug seine scheinlose grüne Uniform und das kleine welthistorische Hütchen. Ein Lächeln, das jedes Herz erwärmte und beruhigte, schwebte um die Lippen – und doch wußte man, diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und die ganze Klerisei hatte ausgeklingelt – diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und das ganze heilige römische Reich tanzte.“ Hinter der Stirne Napoleons ahnte der Dichter „die schaffenden Gedanken, die großen Siebenmeilenstiefel-Gedanken, womit der Geist des Kaisers unsichtbar über die Welt hinschritt“ („Ideen. Das Buch Le Grand“, 1826). Der deutsche Poet huldigte fernerhin der von Napoleon angebahnten „Emanzipation der ganzen Welt“ auf dem Schlachtfeld von Marengo. Heines letztes Wort war die kühne Behauptung des Waterloo-Fragments, Napoleon sei der „Gonfalionere (Bannerträger) der Demokratie“ gewesen.

Äußerst wirkungsvoll hat die Propaganda – und Napoleon selbst war ihr Poet, Hauptdarsteller, Dramaturg und Regisseur – den Gegensatz zwischen dem sich selbst entdeckenden, die Welt erobernden modernen Individuum und dem unermesslichen Machtanspruch der modernen Nationen, der Bourgeoisie, des Kapitalismus und Imperialismus benutzt. „Zwo gewalt´ge Nationen ringen um der Welt alleinigen Besitz“, dichtete Schiller, der darüber hinaus Napoleon in der Wallenstein-Tragödie spiegelte, „bei Anbruch des 19. Jahrhunderts“, das dieses Programm erfüllen sollte. Angesichts der Schlacht von Jena hat Hegel diesen Kontrast dialektisch komprimiert: „Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.“ (13. Oktober 1806)

L’homme – der Mann, ein Kerl wie wir – so lautete die vertrauliche Bezeichnung der napoleonischen Soldaten für ihren Petit caporal, der sich zu dieser Kameraderie gerne und gut inszeniert herabließ, wenn er ans Lagerfeuer trat, die Menage der Mannschaft verkostete (etwa die gebratenen Kartoffeln auf dem winterlichen Schlachtfeld von Austerlitz 1805, am Jahrestag der Kaiserkrönung), die Männer (scheinbar spontan, in Wahrheit wohl präpariert) beim Namen und mit ihrer Schlachtenteilnahme nannte und sie am Ohrläppchen zupfte. So grüßte Napoleon Goethe bei der Erfurter Begegnung (1808) mit einem bedeutungsvollen Wort: „Vous êtes un homme!“ Goethe revanchierte sich mit der Bezeichnung „Kompendium der Welt“ und hielt, stolzer Träger des Ordensbandes der Ehrenlegion, „seinem Kaiser“ zeitlebens die Treue.

Immer wieder kehrte Napoleon zurück, zwischen Korsika und Frankreich pendelnd als Freiheitskämpfer und Offizier der Republik, als vom Zauber des Orients umwobener Eroberer und Erforscher Ägyptens, von all seinen Feldzügen, aus den Eiswüsten Russlands, von Elba im heroischen Abenteuer der Hundert Tage, zuletzt in der ewigen Dauer seines Prometheus-Mythos als Revenant von der einsamsten aller Inseln des Ozeans, von St. Helena in den Invalidendom, im Dezember 1840. Schon zu seinen Lebzeiten verschwamm dieser „Roman“ von Napoleons Leben mit der Realität und sollte einer blutigen Gegenwart Sinn und Bedeutung verleihen.

Der junge General der Italienarmee stand in der kurzen, aber umso intensiveren Tradition der modernen Kriegsgeschichte, die mit der Kriegsbegeisterung der Girondisten und der Losung „La Patrie en danger“ begonnen, mit der Levée en masse des „Organisators des Sieges“ Lazare Carnot ihren Siegeszug angetreten hatte, den Vorstoß der Revolutionsarmeen zu den „natürlichen Grenzen Frankreichs“ und weit über sie hinaus führte, zugleich die Befreiung der Völker und Nationen Europas von Fürstenmacht und Feudalismus proklamierte. Schon zur Zeit dieses ersten Triumphes wurde Bonapartes Bild durch Antoine-Jean Gros’ Heroisierung der Fahnenepisode auf der Brücke von Arcole (1796) geprägt. In der Realität spielte sich die berühmte „Mir nach“-Szene weit weniger heldisch ab. Der nervös agierende General stürzte mitsamt seinem Pferd in den Ufersumpf und konnte nur mit Mühe geborgen und gereinigt werden; die Schlacht wurde übrigens nicht im Sturm, sondern zwei Tage später durch ein Umgehungsmanöver gewonnen. Gros erwies sich weiterhin als der kongeniale Propagandist des Aufsteigers: Sein „Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa“ ist krasse Geschichtsfälschung – der auf dem Gemälde als krankenheilender „Roi thaumaturge“ agierende General ließ in Wahrheit in Jaffa nicht nur gefangene osmanische Truppen niedermetzeln, der britische Gegner beschuldigte ihn überdies der Vergiftung der nicht marsch- und transportfähigen eigenen Kranken.

In dem heimkehrenden Sieger und Friedensbringer von Campoformio (1797) sah Jacques-Louis David den Retter Frankreichs und der Zukunft, dessen Kopfwendung und bannender Blick in eine geniale Skizze gefasst wurden – zu einer Porträtsitzung hatte der vielbeschäftigte politische General freilich keine Zeit. An der Wende zum 19. Jahrhundert schuf David wenig später jene den dramatischen Anbruch der Moderne signalisierende Ikone des kühnen Reiters – kaum eine Weltgeschichte, kein Schullehrbuch, kein Ausstellungsplakat verzichten seither auf diese Fanfare. Der Blick des Feldherrn bannt den Beschauer hinein ins Bild: Vorwärtsgepeitscht vom Sturm, klimmen wir mit Bonaparte zur im Mai 1800 noch schneebedeckten Passhöhe des Großen St. Bernhard, voran der Erste Konsul, nach eigener Anweisung „ruhig auf feurigem Ross“. Dekonstruktion fällt leicht: Tatsächlich wurde Bonaparte, der mit dem Reiten immer wieder Probleme hatte (zuletzt fatal das Hämorrhoidalleiden bei Waterloo), auf einem geduldigen, von einem am Halfter geführten Maultier zum Pass hinangetragen. Bergab ging es rascher – der Feldherr wurde mit einer Rodel über die Schneefelder geführt. Davids Pathos, seine Synthese von barocken, romantischen und historisierenden Stilelementen lassen über die völlig unmögliche Darstellung des Pferdes hinwegsehen – ein Reiter in dieser Haltung würde selbst von einem Karussellpferd stürzen. Dennoch bleibt der „Große St. Bernhard“ als Schlüsselwerk einer Wende- und Schwellenzeit ein genialer Wurf, dessen Kongenialität Bonaparte spontan erkannte. Er persönlich gab David die Anweisung, den Realismus nicht etwa auf eine Warze auf der Nase zu konzentrieren, sondern „das Genie“ darzustellen. Davids Reiter ist d i e Summe der Herrscherdarstellung zu Pferd – von den antiken Imperatoren über die christliche Tradition (St. Georg) zur Renaissance (Donatello, Verrocchio, Leonardo da Vinci) und Barock (Falconets Peter der Große). Am stärksten wirkte Berninis Plastik in der Vorhalle von St. Peter in Rom ein: Die sturmbewegte Draperie Konstantins dort wird zum Mantel des künftigen Imperators hier. Hannibal und Carolus Magnus werden als historische Vorbilder bemüht. Mit Pferd und Uniform formt sich der Farbdreiklang der Trikolore – der Reiter selbst ist die Fahne der Revolution, im Bunde mit der Natur, Gebirge, Wolken und Sturm. Diese Überhöhung der Peripetie des Italienfeldzuges des Zweiten Koalitionskrieges belegt, dass sich Napoleon nicht nur als Sohn der Revolution, sondern auch als vom Schicksal geleiteter Sohn des Glücks verstand: Die dem Alpenübergang, der Suworows Marsch ein Jahr zuvor übertreffen wollte, folgende Schlacht von Marengo (14. Juni 1800) schien schon zur Niederlage zu missraten, als das kühne Eingreifen Desaix’, der im Kampfe fiel, die Lage wendete. Dass erst der Sieg des wenig später zum Gegner Napoleons gewordenen Generals Moreau bei Hohenlinden vor München im Dezember 1800 kriegsentscheidend wurde, fand keinen Eingang in die napoleonische Siegeslegende.

Die weltweite Ausstrahlung dieses Bildes belegt am eindrucksvollsten die Rezeption in den Gedichten Mao Zedongs. Seine poetische Verdichtung des Langen Marsches der Partisanenarmee (1935) bedient sich vielfach Davidscher Motive, die der Bauernsohn und Lehrer aus in der chinesischen Revolution verbreiteten Geschichtsbuchillustrationen kannte:

Berge!
 Schnelles Pferd, angepeitscht, nicht aus dem Sattel.
 Erschreckte Wendung des Kopfes!
 Vom Himmel drei Fuß, drei Daumen.

Im Wiener Belvedere hat man vor dem Mailänder Exemplar des Davidschen Bildes Gelegenheit, dieses Faszinosum gemeinsam mit den zahlreichen chinesischen Besuchern zu erleben. Der Reiter über den St. Bernhard wurde zur Ikone und taucht in unerwarteten Zusammenhängen bis zur Gegenwart auf: Etwa in den vielen Reiterdenkmälern Atatürks oder gar in Gestalt Osama Bin Ladens auf dem Himmelspferd Buraq des islamischen Mythos. Berdimuhamedow, der Präsident Turkmenistans, stellte sich selbst in einem Davids Bild nachempfundenen vergoldeten Reiterstandbild auf einem 20 Meter hohen Marmorkoloss dar (2015); überlebensgroß folgte 2020 sein vergoldeter Lieblingshund in der Denkmallandschaft der Hauptstadt Ashgabat. Der „Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen“, von dem Napoleon während des katastrophalen Rückzuges aus Russland 1812 sprach, wiederholte sich.

Napoleon selbst hat sein von ihm mitgeschaffenes Bild zutiefst verinnerlicht, die stilisierte Erinnerung an Marengo blieb für ihn das Schlüsselerlebnis, und noch im Todeskampf auf St. Helena rief er die Kampfgefährten von damals mit Namen und zu sich an die Spitze des Heeres: „…Masséna … Desaix … tête d’armée …“ – „Joséphine“ und „France“ als letzte Worte sind weniger gut bezeugt. Mit dem grauen Mantel von Marengo deckte man den Toten zu.

Das Erstaunlichste an deutscher Napoleon-Verehrung leistete Wilhelm Hauff. Seine Erzählung „Das Bild des Kaisers“ (1828) handelt von einem alten mediatisierten Reichsritter Thierberg, dessen Gutsnachbar, General Willi, die Feldzüge Napoleons mitgemacht hat, noch bei sechsmaliger Lektüre von Ségurs Memoiren in der Erinnerung an den Rückzug aus Russland und Neys Heldentum schwelgt und stets das „rote Band (der Ehrenlegion) im Knopfloch“ trägt. Auch Thierbergs schöne Tochter Anna schwärmt gegen den Willen des Vaters für den „großen Menschen“. Die Annäherung der Standpunkte – und Annas Vermählung mit Willis Sohn – vermittelt die Kopie von Davids Gemälde, in dem Thierberg jenen „grand capitaine“ erkennt, der ihm am St. Bernhard einst unerkannt Leben und Eigentum gerettet hatte. Mit einem „jauchzenden: „Vive l’empereur! aus fünfzig Kehlen“ schließt die Erzählung.

In der Situation des Dritten Koalitionskrieges 1805 wurde die nunmehr offizielle Bezeichnung Grande Armée auf das Grand Empire übertragen. Die historische Größe eines Alexander, Caesar, Augustus, Karl, Friedrich II. war eingeholt, die Gloire der Siege der Großen Nation heimgebracht. Die zugleich bezwungene, vollendete und europa‑, ja weltweit fortgeführte Französische Revolution war durch den siegreichen Kaiser der Franzosen, Napoléon le Grand, für immer zur Großen Revolution geworden.

Wenngleich Napoleon die Dynamik der aufsteigenden europäischen Nationalismen im letzten nicht begriff, hallte sein Auftritt auf dem welthistorischen Kriegstheater gewaltig nach. Dieses Erwachen bezeugt Hölderlin – „die Völker schwiegen, schlummerten“, ehe „der unerbittliche, der furchtbare Sohn der Natur“ sie zu seiner „wilden Ordnung“ rief. Alessandro Manzonis Ode auf den 5. Mai fand mit Goethe einen kongenialen Übersetzer.

In grandioser Paradoxie beschwor Puschkin in Napoleons Todesjahr 1821 den großen Tyrannen:

Heil ihm! Er hat dem Russenvolke
 Gewiesen ein erhabnes Los,
 Verhieß aus der Verbannung Wolke
 Der Welt die Freiheit ewig groß.

In „Krieg und Frieden“ hat Tolstoi diesen Gedanken als Epochenpanorama monumental ausgeführt: Der Held der Geschichte ist das russische Volk, das Napoleons Invasion standhält. Und Dostojewski fragte mit seinem zum Mörder gewordenen Studenten Raskolnikow nach „Schuld und Sühne“.

Mit dem lapidaren Eingangssatz zu seiner Darstellung der deutschen Geschichte 1800–1866 gab Thomas Nipperdey dem Eintritt Deutschlands in die Reihe der modernen Nationen das Programm: „Am Anfang war Napoleon.“ Der Kampf gegen den Erwecker und Unterdrücker – Fichte, Kleist, Arndt (Napoleon, „das erhabene Ungeheuer“, gar „welsche Mordhyäne“) waren die wichtigsten Wortführer im philosophischen, poetischen und publizistischen Protest – prägte widerspruchsvoll die Ideologie der „Befreiungskriege“, die in die Restauration absolutistischer Fürstenmacht und die Heilige Allianz der Monarchen führten. In den Friedhöfen deutscher Städte links des Rheins, z. B. Mainz, Bingen, Koblenz, existieren dagegen viele Gräber jener Veteranen, die unter den Fahnen Napoleons kämpften und in Vereinen ihre Erinnerungen pflegten. Ihre Inschriften nennen mit Stolz die Namen napoleonischer Feldzugsziele: Berlin … Wien … Moskau …

Mit Volk und Völkern musste sich selbst die konservative Habsburgermonarchie einlassen, war ja schon 1797 das „Gott erhalte“ mit der wundervollen Melodie Haydns als „Volkshymne“ mit großer Wirkung eingesetzt worden. Das Äußere Burgtor in Wien, nach der von Napoleon 1809 angeordneten Zerstörung der Basteien monumental neu errichtet, galt offiziell als Denkmal der Leipziger Völkerschlacht 1813 und wurde, leicht verspätet, am elften Jahrestag (18. Oktober 1824) feierlich eröffnet. Gleichzeitig errichtete Kaiser Franz im Volksgarten den Theseustempel für Antonio Canovas Marmorgruppe – einst Sinnbild Napoleons als Einiger Italiens, nun Denkmal der Überwindung des Tyrannen. Immerhin hatte der Theseus als Portier des Kunsthistorischen Museums ein besseres Schicksal als der nackte Mars Pacificator Canovas für Mailand – die Statue wurde von Wellington erworben, der sie im Stiegenhaus von Apsley House als Wächter vor Garderobe und – Toilette postierte. Der heroisch nackte Napoleon aus Bronze steht nun im Hof der Brera, als etwas skurrile Erinnerung an das italienische Königreich unter der Eisernen Krone der Lombardei. Jedes Risorgimento-Museum Italiens hebt mit Napoleon als dem Protagonisten der nationalen Einigung an. Die 1814/15 wiederhergestellte Habsburgermonarchie beeilte sich mit der Konstituierung des Lombardo-Venetianischen Königreichs ihrerseits den Orden der Eisernen Krone für bürgerliche Verdienste einzusetzen.

In Wien bleibt der Schwiegersohn des Kaisers Franz präsent mit der Erinnerung an seinen Sohn: Die Wiege des Königs von Rom ist Schaustück der Schatzkammer, die Herzurne des zum Herzog von Reichstadt zurückgestuften „Aiglon“ vergaßen Hitlers geschichtsunkundige Leute bei der Überführung in den Invalidendom 1940 in der Lorettokapelle der Wiener Augustinerkirche. Dort, unter den vielen Habsburgerherzen ist die Herzurne „Napoleons II.“ an einem trikoloren Bändchen kenntlich.

Eine paradoxe Fortsetzung der Napoleon-Ikonografie führt zur Vielvölkerarmee des supranationalen Kaiserstaates Österreich. Die Gestalt Erzherzog Karls, Gegner und Partner Napoleons, der am Wiener Heldenplatz mit hocherhobener Fahne als „heldenmüthiger Führer der Heere Oesterreichs“ und „beharrlicher Kämpfer für Deutschlands Ehre“ reitet, stellt diesen Übergang her. Seine militärische Laufbahn im Abwehrkampf gegen die Heere der Französischen Revolution begann bei Neerwinden 1793; folgende Siege in Süddeutschland wurden mit dem Titel eines „Retters Germaniens“ gefeiert. Die im Schönbrunner Verlustfrieden besiegelte Situation nach Aspern und Wagram führte dazu, dass Karl gegenüber dem Gegner als Brautführer seiner Nichte Marie Louise als Gemahlin Napoleons das Gesicht der Dynastie zu wahren hatte und dass andererseits Aspern zum Symbol des Widerstandes gegen den allmächtig gewordenen Empereur wurde. Karls Sieg wurde mit der Fahnenepisode heroisiert: Der Schlachtbericht meldete vom zweiten Gefechtstag (22. Mai 1809), „daß der Erzherzog als Generalissimus eine Fahne des Regiments (Nr. 15 FZM Freiherr von Zach) in die Hand genommen und selbes geführt hat“. Worum ging es? Es galt, mit der Infanterie in dieser zwischen den Dörfern Eßling und Aspern tobenden Schlacht, den Attacken des aus der Lobau in das Marchfeld vorbrechenden Marschall Lannes standzuhalten. Napoleon leitete solche Angriffe mit Artillerie ein, um den Durchbruch mit Kavallerie – die Kürassiere mit ihren Rossschweifhelmen figurieren noch heute eindrucksvoll als französische Präsidentengarde – bzw. konzentrierten Bataillonskolonnen zu erzielen.

In dem für die Grande Armée so verhängnisvollen Russlandfeldzug von 1812 weigerte sich Karl, das infolge der Bündnispflicht mit Napoleon zu stellende österreichische Flankenkorps zu kommandieren. In diesem Jahr gab Herzog Albert von Sachsen-Teschen ein Bild seines Adoptivsohnes als Held von Aspern in Auftrag. Johann Peter Krafft führte die Geste des die Trikolore vorantragenden Bonaparte auf der Brücke von Arcole und Davids St. Bernhard zusammen. Nach Wagram und Znaim hatte sich Erzherzog Karl, der ständigen Düpierungen durch seinen kaiserlichen Bruder müde, ins Privatleben zurückgezogen, doch blieb ihm der Nimbus des Siegers von Aspern, ein Ruhm, der ein halbes Jahrhundert später mit Fernkorns großartigem Monument im Auftrag Kaiser Franz Josephs erneuert werden sollte. Die schmerzliche Niederlage von Solferino ließ die Enthüllung des Denkmals erst im folgenden Jahr (1860) zu. Man mag hier auf dem Heldenplatz, dem wichtigsten historischen Erinnerungsort Österreichs, über den Sinn von Heldentum und Opfertod für Gott, Kaiser und Vaterland oder Volk und Nation nachdenken.

Dass „vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt sei“, hatte Napoleon auf dem Rückzug von Russland mit bitterer Selbstironie erkannt. Früher schon hatte der zu Salbung und (Selbst-) Krönung bestellte Papst Pius VII. den neuen Kaiser als „commediante“ durchschaut. Marx’ erbarmungslose Kritik am „Neffen des Onkels“ im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ ist zugleich eine der großen Satiren auf hybride Machtanmaßung und autoritäre Herrschaft mit Hilfe von historischen Requisiten als ideologische Krücke: „Camille Desmoulins, Danton, Robespierre, Saint-Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und die Masse der alten Französischen Revolution, vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft … Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsündflutlichen Kolosse und mit ihnen das wieder auferstandene Römertum, die Brutusse, Gracchusse, die Tribunen, die Senatoren und Cäsar selbst … Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen.“

In der großen französischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts ist Napoleon in all diesen Widersprüchen präsent. Stendhal folgte im Armeedienst Napoleon vom St. Bernhard bis Moskau. „Die Kartause von Parma“ stellt den Antihelden Fabrizio del Dongo im vielschichtigen psychologischen Roman in das zeitgenössische historische Feld der Fürstenstaaten unter der Herrschaft der Restauration sowie der Größe und Hoffnung Italiens in Renaissance und napoleonischer Ära. Dumas’ sensationeller Abenteuerroman „Der Graf von Monte Christo“ rechnet mit Korruption und Misswirtschaft der bourbonischen Restauration und des Julikönigtums ab. Victor Hugos Panorama der politischen Ideen und der sozialen Realität vom Ancien Régime bis zur Arbeiterrevolution auf den Barrikaden des 19. Jahrhunderts in den „Misérables“ stellt die Frage: Kann der Bagnosträfling Jean Valjean freier und gleicher Bürger werden, rettet der idealistische Student Marius die revolutionäre und napoleonische Tradition, oder ist sie vom Schurken Thénardier, dem Wirt „zum Sergeanten von Waterloo“ rettungslos korrumpiert und vom unmenschlichen Polizisten Javert pervertiert? Das Musical transportiert diese Fragen wirkungsvoll an das Publikum der Gegenwart.

Der alte korsische Freiheitskämpfer Paoli hatte einst dem jungen Napoleon zugerufen: „Du gehörst gar nicht in unsere Zeit, du bist ein Mann aus dem Plutarch!“ In dieser Spannung von Geschichte und Gegenwart blieb Napoleons Andenken bei Italienern, Deutschen und Österreichern, unvergänglich, Mahnung und Verheißung der Zukunft, ob sie ihn nun liebten und verehrten oder fürchteten und hassten. Heines „Grenadieren“, unsterblich geworden durch Robert Schumanns Vertonung, schwebte Davids Bild vor: „Dann reitet mein Kaiser über mein Grab …“

Die napoleonische Ikonografie des 19. Jahrhunderts prägte den Historienfilm nachhaltig, mit dem Markstein des Stummfilms des Regisseurs Abel Gance (1927), über Sergej Bondartschuks Massendrama Waterloo (1970) zu der TV-Serie nach Max Gallos Napoleon-Romanbiografie, mit dem Asterix-Darsteller Christian Clavier in der Titelrolle (2002).

Deutscher Napoleonkult blieb ambivalent, von Hölderlins frühem Hymnenfragment auf Bonaparte – „Er kann im Gedicht nicht leben und bleiben, er lebt und bleibt in der Welt“ – zu Grillparzers Aussage im Todesjahr 1821 – „Er war zu groß, weil seine Zeit zu klein!“ Das Bild des Kaisers erstreckt sich von der Apotheose des Heros der Moderne zu einem von Ehrgeiz getriebenen Massenmörder. Beethovens Eroica-Symphonie mit der zornig ausradierten Widmung und Goyas furchtbare Desastres de la Guerra bezeugen diese Spannung.

- Advertisment -spot_img
- Advertisment -spot_img

MEIST GELESEN