Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck
Hans Lorbeer (1901–1973) beschreibt in seinem erzählerischen Werk eine Proletarierkindheit in der dörflichen Armut nahe Wittenberg in den Jahren vor dem Imperialistischen Weltkrieg, in jungen Tagen schon die Fabrikarbeit, im Krieg in der Munitionsindustrie ausgebeutet, dem „Heldentod“ dank Novemberrevolution entgangen. Erst bewegt er sich in Kreisen kleinbürgerlich christlicher Jugendvereine. Dann gelangt er über sozialdemokratische Jugendgruppen zur revolutionären Arbeiterbewegung, zur KPD. Nach unglücklicher Lehre ist er gerade in den Jahren der konterrevolutionären Gewalt nach dem gescheiterten mitteldeutschen Arbeiteraufstand 1921 zurück in der Chemiehölle, im mitteldeutschen Stickstoffwerk, in der Westfälisch-Anhaltischen Sprengstofffabrik. Rasch steht Lorbeer auf schwarzen Listen, wird nach dem „Roten Oktober“ 1923 in jahrelange Arbeitslosigkeit entlassen. Spät um 1970 notiert Lorbeer in einer kleinen verschlüsselten Autobiographie: „[Die] Inflation machte uns bettelarm. Da, im August [1923], traten die Arbeiter gegen die Regierung entschlossen in den Streik. Sie stürzten sie auch, doch sie stürzten die Herren der Werke wieder nicht von ihren Stühlen, und so stürzten diese nun mich – als einen der ‚Rädelsführer‘.“
Hans Lorbeer spricht immer wieder die Resignation von großen Teilen der Arbeiterklasse im Zeichen der kapitalistischen Rationalisierung, „Stabilisierung“ Mitte der 1920er Jahre an. Manche revolutionäre Energie schien erschöpft. Nach seiner Entlassung schreibt er als Arbeiterkorrespondent auch für die „Rote Fahne“. Johannes R. Becher unterstützt Lorbeer, der sich als „Hungerkünstler“ im wörtlichen Sinn sieht. Er zählt 1928 zu den Mitbegründern des „Bundes Proletarischer Schriftsteller“, entfernt sich als „Brandlerianer“ vorübergehend von der KPD.
In der „roten Kommune“ Piesteritz ist Lorbeer mit dabei, als es im Sommer 1932 gilt, (noch einmal erfolgreich) gegen den staatlichen Polizeiterror und gegen die Nazibanden vorzugehen. Doch 1933 rächten sich die Faschisten an der roten Hochburg: „Auch mich verhafteten die Braunen. Du weißt, sie standen plötzlich in der Schlafzimmertür und holten uns und die Kinder aus den Betten. Mit ein paar hundert anderen brachten sie mich nach Schloss Lichtenburg, das vor Jahren schon für baufällig erklärt worden war. Als Konzentrationslager fand man es noch brauchbar, sollten doch hier die Gefangenen auch nur ‚baufällig‘ gemacht werden, fertigmachen, nannte man das.“
Entlassen war Lorbeer in einer kleinen KP-Zelle aktiv. Sogar im Frühjahr 1945 mussten die Genossen noch auf der Hut sein: „Die Sowjetarmeen hatten die faschistische Wehrmacht bereits bis Schlesien und weiter zurückgeschlagen. Wir Kommunisten atmeten auf, hätten gern triumphiert. Doch für uns wurden die Gefahren jetzt noch größer, die Nazis würden, bevor sie abtreten mussten, sicher noch einmal aufräumen wollen, um die Zeugen ihrer Verbrechen, die für sie gefährlichen Gegner zu beseitigen. Durch einen Mitläufer war uns zugetragen worden, dass SS-Leute eine Liste von etwa hundert zu liquidierenden Antifaschisten aufgestellt hätten, wir sollten uns vorsehen – er nannte ein paar Namen von Genossen, die anderen warnen.“ Nach 1945 war Lorbeer am sozialistischen Aufbau beteiligt, einige Jahre als Bürgermeister von Piesteritz nahe Wittenberg.
„Ein Mensch wird geprügelt“ / „Der Spinner“
In ersten nach 1918 veröffentlichten Gedichten, Kurzgeschichten, Reportagen pflegte Hans Lorbeer noch einen ultralinken Ton individuell subjektiver Rebellion ohne organisierten Zusammenhang mit den täglichen Arbeiterkämpfen, mit Tendenz zum individuell gewalttätigen Widerstand. Von sozialer „Mitleidslyrik“ hielt sich Lorbeer aber fern.
Lorbeers erste Erzählfiguren handeln linksradikal spontan, oft deklassiert unabhängig jeder Arbeiterpartei. Nach und nach gab Lorbeer die Sicht von der reinen Spontaneität der Massen bzw. umgekehrt vom angeblichen „Unverstand der Massen“ auf. Lorbeers widerspruchsvoller Weg zur organisierten Arbeiterbewegung spiegelt sich auch in seiner Literatur.
Nach vergeblicher Verlagssuche konnte Lorbeers erster Roman 1930 in der Sowjetunion in russischer Sprache unter dem Titel ein „Mensch wird geprügelt“ erscheinen. 1959 wurde der Roman unter dem neuen Titel „Der Spinner“ in der DDR in deutscher Sprache vorgelegt.
In der ärmlich bieder religiös-christlichen Welt vegetiert Alois Petermann, der Protagonist des Romans, dahin. Den Vater hatte die Schufterei in einem Chemiewerk bereits zerschunden. Wie das nahe Leuna-Werk war auch dieser Piestritzer Stickstoffbetrieb während des Krieges unter Einsatz von russischen, französischen Kriegsgefangenensklaven rücksichtslos unter Verwüstung ganzer Dörfer, Naturlandschaften buchstäblich aus dem Boden gestampft worden. Alois Petermann, dem verträumten, Natur liebenden Proletenbub, droht das Schicksal seines Vaters: „Alois liebte dieses Chemiewerk nicht. Es hatte den Wald, den Wald seiner Kindheit gefressen.“
Die Installateur-Lehre bricht er wegen der täglichen Schikanen ab: „Es war eine Prügelwelt, ein Prügeleben – ein Prügelsterben am Ende …“ Die Hoffnung, Angestellter mit „Stehkragen“ zu werden, zerstiebt. So steht nur mehr das Leben als Chemieprolet offen. Alois erkennt, dass er eine „Ware“ ist, erkennt aber im Verkauf seiner einzigen „Ware Arbeitskraft“ keinen klassenmäßigen Zusammenhang. Er bietet sich in der Chemiefabrik an: „Zwei Monate vergingen. Alois war noch immer eine unverkaufte Ware. Ein dritter Monat zog vorüber. Er blieb unverkauft. Dann wurde es dem Vater zuviel, er wollte ihn hinauswerfen. Mochte er zu den Bauern aufs Land gehen und arbeiten lernen.“
Mit 17 Jahren ist Alois Schipper im Chemiewerk, in den Karbid‑, Staub- und Giftwolken eines verkrüppelnden und freudlosen Arbeiterlebens angekommen: „Alois wurde von einem heftigen Hustenanfall überrascht. Dabei vergaß er das Schippen. Die Tränen traten ihm in die Augen, so brannte der Staub. Wollte er sie mit dem Handrücken auswischen, wurde der Schmerz noch größer.“
Hans Lorbeer kontrastiert naturlyrische Stimmungen (Birken in der Sonne, Blüten, Herbstlaub, Margeriten, Arnika, Himmelschlüsselchen am Rande verseuchter Industriegelände) mit der täglichen Arbeitsqual: „Traurige Novembertag, feuchte Herbststimmung. (…) Der Schweiß, diese grässliche Salzlauge, floss in zahllosen Rinnen über den Menschenleib, schwemmte Hemd und Jacke auf.“
Alois fehlt jedes Klassenbewusstsein. Er „wusste nichts vom wahren Elend seiner Klasse, obgleich er es am eigenen Leib spürte; er ahnte nichts von den Ursachen seiner Not, so grausam sie ihn auch schon umkrallte.“ Aus dieser elenden Lage „kommt man nie heraus“.
Da erklärt ein Genosse, genannt „der Bucklige“, ein alter Kohlenschipper, dem keuchenden Alois: „Alle müssen, aber sie können es erst, wenn sie es alle wissen.“ Alois versteht nicht: „‚Allein, da kommst du nicht weit‘, erklärte Buckelmänne. ‚Wie dann?‘ ‚Du verstehst doch rein gar nichts von Politik!‘ Alois sah ihn misstrauisch an: ‚Ach so, du bist ein Politischer!‘“ Alois hielt dies für reine politische Luftschlösser. Er hatte kein Vertrauen in Kraft des Proletariats. Er blieb lieber bei seinen privaten Träumereien.
In einer parallelen Erzählung „Kamerad Land vom Lande“ hat Hans Lorbeer 1928 die „Kriegskameradschaft“ zweier Feuerkesselschipper dargestellt, proletarische Kriegskameradschaft, weil die gefährliche Arbeit in einer Sprengstoff-Fabrik einem Fronteinsatz gleichkam, weil die produzierten Minen der Vorbereitung neuer Kriege dienten. Einer der bei einer Ofenexplosion getöteten Schipper hatte nur überleben können, weil er sich auch noch an einem kleinen Pachtacker abrackerte.
Während viele Kollegen „krisenbedingt“ entlassen werden, avanciert Alois für kurze Zeit zum Aufseher einer Ammoniakreinigungslage. Die „Freisetzung“ seiner Kollegen nimmt er schulterzuckend zur Kenntnis. Unter den Entlassenen viele Langgediente, denen düstere Altersarmut droht. Alois aber lief nun „wie ein General vor einer Front“ zwischen den Standkesseln mit den Manometern und Thermometern herum. Ihm geht es für einige Momente gut. Er lernt Annchen kennen, spaziert mit ihr glücklich über Wiesen, Felder, Wälder. Das Privatidyll ist brüchig.
Nach einer Arbeitspanne endet dieses Glück. Alois wird auf einen Schuttberg zum Stickstoffdüngerschaufeln strafversetzt, ein nicht endender Abstieg beginnt: „Unmengen von schmutzigen Säcken, gefüllt mit schwarzgrauem Stickstoffdünger, fraßen die Eisenbahnloren in sich hinein. (…) ‚Akkord ist Mord! Wir wollen einen anständigen Stundenlohn und vernünftige Arbeitsmethoden. Hier darf keiner den anderen in seinen Leistungen übertreffen wollen, politisch müsst ihr denken lernen.“
Ohne jedes arbeitersolidarische Empfinden will Alois noch einmal „hinauf“. Er wird zum Lohndrücker, zum Akkordhetzer. All dies scheitert, da gelingt es dem linken Vertrauensmann Raschberg Alois erst einmal vorübergehend für die Arbeitersache zu gewinnen. Sie streiken gegen den Akkorddruck für einen mäßigen Stundenlohn, für den Erhalt des von der Kapitalseite angefeindeten Achtstundentages: „Der Streik brach zusammen. Die Leute wussten noch nicht, worum es ging. Der Betriebsrat holte für sie nur ein paar Prozente heraus. Raschberg, Buckelmänne, Alois und einige andere aber mussten ihren Kram packen und wieder wandern – in die Verbannung, in die Wüste der heißen Öfen.“
Im dreckigen Betriebs-Klosett, „dem einzigen Ruheort im Getriebe kapitalistischer Ausbeutung“, trifft sich Alois mit einigen Kollegen, um Flugblattverteilungen und ähnliche Agitation zu beraten. Sie verteilen konspirativ verdeckt das Flugblatt „Proletarierelend“:
„Da stand es und war so fürchterlich:
Worte und Zahlen über Kinderkrankheiten,
über Wohnungselend,
über Fabriken und Dividenden,
über Berufs- und Betriebskrankheiten,
über Betriebskatastrophen,
über Schwindsuchtopfer,
über Arbeitslosenjammer,
über Selbstmord aus Not,
über Jugendtragödien,
über Alkoholkonsum und Alkoholwahnsinn,
über Polizeibrutalitäten, Justizverbrechen,
über Kriegsfolgen und neue Kriegsvorbereitungen,
Worte und Zahlen!
Nackt, rücksichtslos!
Entsetzlich!“
Ein Lockspitzel, ein Provokateur verrät die Flugblattaktion. Der Werkschutz rückt an und führt den entlassenen Raschberg zum Ausgang, ein Genosse: „Jetzt sitzt er nun auf der Straße und kriegt vier Wochen lang nicht mal Unterstützung. Und im Betrieb haben wir einen guten Genossen verloren.“ Weitere Entlassungen, Lohnstrafen, weitere degradierende innerbetriebliche Versetzung folgen postwendend. Alois nähert sich trotzdem weiter den klassenbewussten politischen Kollegen an: „Alois aber befand sich auf dem Weg zu Raschberg. Dieser Weg führte ihn in ein politisches Land. Politik, Politik – ein trockenes Zeug, viel Arbeit und kein Verdienst, gefährlich wie der Krieg, dachte er manchmal leicht verschwommen und zögerte. (…) Raschberg gab ihm Bücher, Zeitschriften, drang in ihn, sie aufmerksam zu lesen (…) ‚Komm in die Jugendgruppe, da wird dir ein Licht aufgehen.‘“
Raschberg ist weiter kämpferisch, spricht von „seinen revolutionären Pflichten“, lässt sich aber zu einer sinnlosen Einzeltat hinreißen. Der Lockspitzel wird verprügelt. Raschberg erhält in seiner Parteizelle eine Abmahnung, er verschrecke Genossen: „Sind wir denn Anarchisten?“
Für Alois wird das Leben in der Reinigungskolonne zur Plage. Er holt sich eine schwere Lungenentzündung, noch lange nicht genesen, kommt das mechanisch profittüchtige „Arbeitsfähig!“ des Betriebsarztes. „Buckelmänne“ hat den kranken Alois im kleinen Häuschen seiner braven Eltern besucht. Er sieht, dass Alois allerhand Schund – „meist Geschichten von Mönchen, Rittern und Räubern“ oder „was ein junger Mensch von der Ehe wissen muss“ liest. Er schimpft Alois. Das Lesen solcher Bücher ist ein „Verbrechen am eigenen Verstand. Das ganz allein ist deine Krankheit, mein Lieber! Nicht die mit dem Staub in der Lunge, nein, die mit dem Staub im Gehirn.“
Der Schuttberg wird zum „Golgotha“, zum „Kalvarienberg“ der Chemiesklaven. Lorbeer deutet öfter in religiösen Bildern an: „So grauenvoll die Strafarbeit in der Reinigungskolonne war, für Alois und Buckelmänne sollte noch Schlimmeres kommen: beide wurden in die Verbannung geschickt. (…) Nach einer Stunde sahen die Schipper aus wie durch den Schutt gezogen. Der Staub der Karbid‑, Kalk- und Kohleabfälle, des Bauschutts und andern Zeugs ballte sich zu dichten, stickigen Wolken (…).“ Dieser Schuttberg, „das war ein Kalvarienberg auf dem ein neues, wohl unsichtbares, doch fühlbares Kreuz errichtet wurde: das für Alois. Hier konnte ihm das Grab seiner Jugend werden. Hier lag der Stein, an dem sich seine Seele den Schädel einrennen mochte. Hier drohte die Faust alles Bösen der Welt, eine Faust, die ihn zermalmte, wenn er ihr nicht entrann. Das war der Schuttberg, auf dem auch die Schipper zu Schutt wurden. Gab es hier überhaupt ein Entrinnen?“
Während sich Alois wieder einmal verzweifelt in der Welt seiner subjektiven „Spinnereien“ flüchtet, sieht „Buckelmänne“ den Ausweg allein im solidarischen Arbeiterkampf: „Buckelmänne dachte ganz anders, er begriff diese Welt, das ganze Elend, die Brutalität, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung. In seinem Gehirn war dieses Wissen fest geformt und wuchs an zu einem riesigen, wuchtigen Hammer, der mahnend herniederfiel und dröhnte. Aufgewacht! Es geht in den Kampf! Vorwärts Mut! Vorwärts.“
Alois wird zwischendurch immer wieder resignativ zum träumenden, zum verzweifelten „Spinner“, zum hilflos „stöhnenden Sklaven“, verbittert, schweigsam: „Der Herbststurm sauste über ihn hin, zerrte und prügelte ihn, zerrte ihn auf und ab, warf ihm wie zum Hohn den Staub in dichten Wirbeln ins Gesicht.“ Alois schimpft: „Lasst mich endlich in Ruhe mit dem politischen Mist. Ich habe andere Sorgen!“ In der kommunistischen Jugendgruppe glauben viele, dass er nicht zu gewinnen, dass er nicht diszipliniert organisierbar ist: „Was wollt ihr von ihm? Er ist ein Spinner.“ Eine private Tragödie tut das ihrige: Sein Annchen stirbt an der Schwindsucht, der Proletenkrankheit.
Während eines heftigen Märzsturms werden die Schipper durchnässt, sie frieren, zittern. Ein alter Arbeiter überlebt die Strapazen nicht, wie ein „verrecktes Vieh“ wird er vom Werkschutz abgeholt: „So verrecken wir alle!“, sagt ein alter Kumpel.
Ein Spinner wird doch noch Kommunist. Wegen Protests gegen diese ganz schlimmen Arbeitsbedingungen am Schuttberg werden „Buckelmänne“ und Alois Petermann als „Kommunistenlümmel“ von der Werkpolizei aus dem Betrieb gejagt: „Buckelmänne sank ohnmächtig in sich zusammen. Sein Hass auf die Ausbeuter und ihre Antreiber erstickte ihn schier. Auch Alois war am Ende.“ Nun fühlt sich Alois als Kommunist. Wie raus aus dem „Kreislauf der Not“?
Die Chemiehölle war ihm schlussendlich doch zur Schule des Klassenkampfs geworden: „Auf dem Schuttberg des Chemiewerkes hatte Alois die hohe Schule besucht, die erste Klasse, die Arbeiterklasse. Was ihm bisher nie zum Bewusstsein gekommen, dass nicht ein unbarmherziges Schicksal, sondern ein niederträchtiges System sein Leben so schwer bedrückte, jetzt erkannte er die Wahrheit der Welt mit schmerzlicher Verwunderung. Das Geschehen der letzten Stunden saß fest in seinen Gedanken, dort wühlte es und nährte seine Einsicht. Freilich verfiel er nun gleich in den Fehler zu erwarten, dass sich mit seiner gedanklichen Wandlung auch diese schnöde Herren- und Knechtwelt wandeln werde. Er verkannte die ungeheure Macht des Systems der Ungerechtigkeit, er glaubte, sie mit einigem Geschrei leicht beseitigen oder wenigstens erschüttern zu können. Er ahnte nichts von der tiefen Verankerung dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Es fiel ihm nicht einmal ein, dass sie nicht nur im Chemiewerk herrschte, sondern überall, wo Menschen waren: in allen Fabriken, allen Städten und Straßen, auf dem Lande, auf dem großen Gute wie im kleinsten Dorfe, in Häfen und auf Schiffen, auf Eisenbahnen überall! So tat er nun, als habe die fortschrittliche Arbeiterbewegung mit seinem Entschluss, mitzumachen, einen starken Machtzuwachs erfahren. So, jetzt fangen wir einmal an aufzuräumen …“
Für Alois wird es immer noch ein langer Weg zum disziplinierten Arbeitergenossen. Alois wird am Arbeitsnachweis so wie alle Erwerbslosen aus der großen industriellen Reservearmee gedemütigt. Er verliert die Nerven, schlägt eine Scheibe ein, wird verhaftet, seine Eltern sind entsetzt über den „verlorenen Sohn“. Vorerst gibt es keine Unterstützung, weil er „durch eigene Schuld“, „wegen Arbeitsverweigerung und Aufreizung zum Ungehorsam“ entlassen wurde, so die Papiere.
Wieder frei spricht Alois als kommunistischer Genosse in einer Erwerbslosenversammlung. Er sieht das Sinnlose individualistischer Aktionen ein. Nur mühevolle tägliche Partei- und Gewerkschaftsarbeit kann helfen. Alois berichtet von seinen Erfahrungen mit den „Stempelfritzen“ auf dem Arbeitsamt. Die Genossen mahnen ihn zur Disziplin: „Der Kollege Petermann wird nun beweisen müssen, dass er nicht bei einer individuellen Aktion, mit dem Ziel eine Scheibe einzuschlagen, stehen bleibt, sondern mit uns marschiert in der großen Aktion der Arbeiterklasse, mit dem Ziel, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu stürzen!“
Ein alter Genosse berichtet: „Sechsundzwanzig Jahre arbeitete ich in der Seifenfabrik, vorher war ich bei den Bauern und beim Militär. Vor zwei Monaten gab mir der Herr Direktor (…) die Papiere, da ich meine Pflicht nicht mehr so tun könne wie früher. Ein Jahr nach meinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum. Jetzt bin ich fertig. Solange ich noch die Arbeitslosenunterstützung kriege und das Essen aus der Volksküche, wird es einigermaßen gehen, aber danach bleibt mir nur noch die Armenfürsorge und die Altersrente; damit hört’s dann auf (…) Ich sage euch, ihr Alten, solange diese Ausbeutergesellschaft an der Macht bleibt, müssen wir verrecken, dann wenigstens als Männer; die in der Revolution mal mit angepackt haben!“
Alois nimmt mit seiner schon schwer leidenden, bald sterbenden Anna an der 1. Maidemonstration teil. Sie singen:
„Dem Morgenrot entgegen,
ihr Kampfgenossen all,
bald siegt ihr allerwegen,
bald weicht der Feinde Wall.“
Nach Wochen der Trauer verteilt Alois wieder Antikriegsflugblätter – auch vor dem Chemiewerk. Die an einer „Proletarierkrankheit“ verstorbene Anna könne er nur dann in Erinnerung behalten, wenn er sozialistisch kämpft, so Raschberg und „Buckelmänne“. Lorbeer schließt mit einem seiner Naturmotive, wobei die Natur bei Lorbeer für die Befreiung aus der Welt der Lohnsklaverei steht, nie im Sinn einer sozialdemokratischen „Feierabendlyrik“, nie im Sinn reaktionärer Naturanbetung: „Vor Buckelmännes Haus leuchteten gelb die Stauden des Löwenzahns.“ Noch einmal lacht Anna ihren Alois von ferne an: „Das Leben muss ganz von neuem beginnen …“
Literatur:
- Hans Lorbeer: Der Spinner. Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale, 1976 (2. Auflage, 1. Auflage 1959 – Ursprünglich 1930 unter „ein Mensch wird geprügelt“ in russischer Sprache erstveröffentlicht), 17, 41, 63, 68–71, 99, 106, 119f. 126f., 159f., 178–183, 197–203, 241, 246, 252f.
- Hans Lorbeer: Ein Leben lang (literarisch verfremdete Autobiographie, ca. 1970), in derselbe: Ein Leben lang. Geschichten aus fünf Jahrzehnten, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1974, 383–408, hier 390, 394, 397.
Über Lorbeer:
- Alfred Klein: Im Auftrag ihrer Klasse. Wege und Leistungen der deutschen Arbeiterschriftsteller, Aufbau-Verlag, Berlin-Weimar 1972, 422–432.
- Hans Lorbeer, in: Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, Leipzig 1964, 336–338.
- Walter Fähnders – Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Band 2, Reinbek 1974, 196–207.