Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck
Es gehört zum „mainstream“ von aufgeregten Zeit-Historikern, das Karl Lueger-Denkmal in Wien als Monument antisemitischer Gesinnung zu qualifizieren. Es müsse im Interesse der Moral und der Erziehung der Wiener entsorgt werden. Wer den Klassencharakter solcher Auseinandersetzungen mit einbezieht, wird die Debatte um das Karl Lueger Denkmal aber nicht auf den Antisemitismus beschränken, sondern weiter fassen. Eine für die Gegenwart noch gültige Analyse der herrschenden sozialen Zielstellung, für das ein solches Denkmal steht, hat das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (Sektion der Kommunistischen Internationale) >Die Rote Fahne< am Tag der Denkmalenthüllung am 19. September 1926 (9. Jahrgang, Nr. 222) gegeben.
>Heute ist Wien wieder einmal die Kaiserstadt, von welcher Gattung es bekanntlich auf der ganzen Welt nur ein Exemplar gibt. Zur Enthüllung des Denkmals jenes historisch gewordenen Spießbürgers, der aus dem Sozialismus des dummen Kerls eine politische Partei machte, werden aus allen Gegenden unserer liebenswürdigen Republik die zweibeinigen Backenbärte à la Kaiser Franz Josef aufmarschieren, im Herzen die Erinnerung an die selige Backhendlzeit und vor dem Kopfe ein Brett.
Heute feiert Wien, das »rote« Wien, das Andenken jenes Mannes, der die Revolte des von der kapitalistischen Entwicklung gefährdeten Kleinbürgers zur Sicherung dieser Entwicklung auszunützen verstand. Es begibt sich heute die immerhin denkwürdige Angelegenheit, daß unter Patronanz der Nutznießer einer Revolution das Ideal der vorrevolutionären Periode mit größtem Aufwande gefeiert wird. Zur Erheiterung der Gemüter, die in dieser Zeit einer Erheiterung wahrlich bedürfen, wird das »rote« Wien dem erhebenden Schauspiel beiwohnen dürfen, daß Karl Seitz das Denkmal Karl Luegers in den Schutz der sozialistischen Stadtverwaltung übernimmt.
Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der Ruhm Luegers den Höhepunkt erreicht hatte, begann die österreichische Sozialdemokratie ihren mächtigen Aufschwung zu nehmen. Und in diesen stürmischesten und ereignisreichsten Jahren der österreichischen Arbeiterbewegung war einer ihrer erbittertsten, skrupellosesten Feinde der gefeierte Bürgermeister von Wien, Karl Lueger. Mit einer zynischen Offenheit sondergleichen setzte sich Lueger selbst über die bürgerlichen Gesetze hinweg und ließ jeden städtischen Arbeiter und Angestellten, der sich zur Arbeiterklasse und ihrer Partei bekannte, dieses Bekenntnis mit dem Verluste seiner Existenz büßen.
Mit Luegers Namen ist untrennbar verbunden die Verluderung des politischen Lebens in Wien, von bezahlten Klopffechtern der Bourgeoisie, „wienerische Gemütlichkeit“ genannt; jene Verluderung, gekennzeichnet durch die vielzitierten Aussprüche Luegers, daß sein theoretischer Antisemitismus ihn nicht hindere, mit den Herren Juden gute Freundschaft zu halten und gute Geschäfte zu machen; jene bewußt und planmäßig geförderte Korrumpierung der politischen, Auseinandersetzung, die es in Ordnung findet, und es lobt, daß die politischen, Gegensätze beim gemeinsamen »Heurigen« unter den Tischen gesoffen werden.
Wenn wir die heutige »Arbeiterzeitung« zu Gesicht bekommen werden, dann werden wir dort gewiß lesen können, wie sehr sich Luegers Christlich-soziale Partei zu ihren Gunsten von der Christlichsozialen Partei von heute unterscheide. In Wahrheit handelt es sich dabei nur darum, daß mit Zuspitzung der ökonomischen Klassengegensätze die einzelnen politischen Parteien ihr wahres politisches Gesicht und ihren wahren Klasseninhalt immer deutlicher zeigen müssen. Lueger war nicht um ein Haar besser, als »unser« Seipel es ist, er vertrat zu jener Zeit ebenso skrupellos die Interessen der herrschenden Gesellschaftsordnung, wie es heute sein Nachfolger in der Führung der Christlichsozialen Partei tut. Daran ändert der Umstand, daß einzelne Teile der herrschenden Klasse dies nicht verstanden, oder wenigstens so machten, als ob sie dies nicht verstehen, nicht das Geringste.
Umso eindrucksvoller wird es sein, wenn der Bürgermeister der Stadt Wien, deren sozialdemokratische Verwaltung das Grundstück für die Aufstellung des Lueger-Denkmals gratis gewidmet hat, wienerische Worte der Versöhnlichkeit und der Klassenharmonie sprechen wird, während gleichzeitig vor dem Angehimmelten und ganz in dessem Sinne die Hakenkreuzler und Frontkämpfer, die organisierten Arbeitermörder vorbeimarschieren. Und zu einer ernsteren politischen Angelegenheit wird diese Komödie, wenn man bedenkt, daß der Bürgermeister der Stadt Wien zugleich Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Oesterreichs ist.
Luegers Popularität rührte nicht zuletzt davon her, daß er, der geschworene Antisemit, im Interesse der von ihm verwalteteten »Kaiserstadt« mit den Herren Israeliten sich gut zu vertragen wußte. Am Tage der Enthüllung des Lueger-Denkmals wird Wien auf den uns Kommunisten schon längst bekannten Umstand aufmerksam werden, daß es einen neuen Lueger gibt, der mit die dem nunmehr in Stein gehauenen Spießbürger nicht nur den Vornamen gemeinsam hat. Den Repräsentanten einer Partei, die in Worten radikalste Politik und in Taten, wie der heutige Tag zeigt, gemütliche Klassenversöhnung betreibt, den »sozialistischen« Bürgermeister des »roten« Wien, Karl Seitz.<