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Neukaledonien wegen Protesten im Ausnahmezustand

Unter den Toten waren drei indigene Kanaken und zwei Polizeibeamte. Eine sechste Person wurde am Samstag bei einem Feuergefecht zwischen zwei Gruppen an einer Straßensperre in Kaala-Gomen getötet und zwei schwer verletzt. Eine Einmischung aus Aserbaidschan und Russland wird vermutet, Ursache des anhaltenden Konflikts bleibt jedoch eine nie getilgte Kolonialschuld Frankreichs.

Nouméa/Paris/Canberra/Baku. Im französischen Überseegebiet Neukaledonien kam es mehrere Tage in Folge zu Ausschreitungen von indigenen Frankreich-Separatisten. Seit Beginn der Krawalle am Montag kamen sechs Menschen ums Leben, darunter zwei Polizisten. Hunderte Menschen wurden verletzt.

Unabhängigkeitsbefürworter haben wiederholt Geschäfte und Autos in Brand gesetzt. Örtliche Medien veröffentlichten Fotos und Videos von geplünderten und völlig zerstörten Supermärkten und Tankstellen. Auslöser der Unruhen ist die Wut der indigenen Kanakinnen und Kanaken über eine von den Gesetzgebern in Paris verabschiedete Verfassungsänderung, die es Franzosen, die seit mindestens zehn Jahren in Neukaledonien leben, ermöglichen würde, an den Wahlen in den Provinzen teilzunehmen, was, so befürchten einige lokale Führer, die Stimmen der Kanakinnen und Kanaken ausdünnen würde.

Der nationale Rat der Kanaken warf Paris in der Tat vor, die umstrittene Reform voranzutreiben, ohne den Widerstand der großen Mehrheit der indigenen Bevölkerung zu berücksichtigen. Neukaledoniens Ureinwohnerinnen und Ureinwohner hoffen jedoch schon lange auf einen eigenen Staat.

Koloniales Erbe

Die französische Kolonialherrschaft über Neukaledonien dauert bereits seit mehr als 170 Jahren an und brachte für die einheimische Bevölkerung vielfaches Leid mit sich: von eingeschleppten Krankheiten und der Christianisierung über Zwangsrekrutierungen in die französische Armee bis hin zur Nutzung der Inseln als Strafkolonie, für Plantagenwirtschaft und schließlich für den profitablen Nickelerzabbau, was mit entsprechender Ausbeutung einherging. Die Kanakinnen und Kanaken wurden rechtlos gehalten, und schließlich wurde ein System ähnlich der Apartheid eingeführt.

Trotz mehrerer Aufstände und Revolten der unterdrückten Bevölkerung wurden diese gewaltsam niedergeschlagen. Ab 1975 führte die Kanakische Sozialistische Befreiungsfront (FLNKS) den Kampf gegen die französische Herrschaft an. Die Pariser Regierung griff mit militärischen Einsätzen und Autonomiemaßnahmen ein, und schließlich wurden Volksabstimmungen zugesagt, die 2018 und 2020 stattfanden.

Frankreich verhängt Ausnahmezustand

Vor vielen Geschäften bildeten sich in den letzten Tagen lange Schlangen besorgter Bürgerinnen und Bürger, da Lebensmittel bereits rationiert werden. An Tankstellen ging das Benzin aus. Als Reaktion auf die Gewalt in der Inselgruppe hat Paris den Ausnahmezustand für zunächst zwölf Tage verhängt. Dies ermöglicht den Behörden unter anderem, Demonstrationsverbote zu erlassen, öffentliche Orte und Websites zu sperren sowie der Polizei und Justiz erweiterte Befugnisse einzuräumen.

Die Regierung beschloss zudem, Soldaten zur Sicherung von Brücken und des vorerst geschlossenen Flughafens La Tontouta einzusetzen. Der Zugang zu TikTok, das von vielen Protestierenden genutzt wird, wurde vorläufig gesperrt.

Nach dem verhängten Ausnahmezustand und den damit einhergehenden Repressionen beruhigte sich die Situation für kurze Zeit. Dies erklärte vorgestern der französische Hochkommissar Louis Le Franc. Er räumte jedoch gleichzeitig ein, dass die Kontrolle über einige Bezirke „nicht mehr gewährleistet“ sei, da an einigen Stellen Hunderte Randalierer nur darauf warten würden, der Polizei Scharmützel zu liefern.

Weiterhin Plünderungen

Frankreichs Regierung kündigte wegen der anhaltenden Nahrungsmittelverknappung eine Luftbrücke an, um die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Trotzdem kam es laut örtlichen Medienberichten auch am Freitag speziell in Teilen der Hauptstadt Nouméa weiterhin zu Zwischenfällen. So wurden noch immer Geschäfte in Brand gesteckt, und sogar ein Kindergarten soll geplündert und vollständig zerstört worden sein.

Der französische Premierminister Gabriel Attal kündigte an, dass 1.000 zusätzliche Einsatzkräfte entsandt werden, um die dortigen Einsatzkräfte zu unterstützen. Berichten zufolge trafen bereits Mitglieder der französischen Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie (GIGN) aus Polynesien ein. Hunderte von französischen Polizeikräften trafen zudem am Freitag ein, um die Kontrolle über die Hauptstadt wiederzuerlangen.

Auch Touristen geht die Nahrung aus

Australierinnen und Australier, die in Neukaledonien gestrandet sind, rationieren nun ebenso ihre Lebensmittel, während sie auf einen Weg aus dem pazifischen Inselgebiet warten. Sie gehören zu einer Gruppe von 3.200 Menschen, die darauf warten, das französisch regierte Territorium zu verlassen oder zu betreten, da kommerzielle Flüge aufgrund der Unruhen gestrichen wurden, so die örtliche Regierung.

„Die Kinder haben auf jeden Fall Hunger, denn wir haben nicht wirklich viele Möglichkeiten, ihnen etwas zu essen zu geben“, sagte Joanne Elias der Nachrichtenagentur Reuters per Telefon von einem Resort in der Hauptstadt Noumea aus, wo ihre Familie Zuflucht gefunden hat.

Elias, die sich seit dem 10. Mai mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in dem Gebiet aufhält, sagte, man habe ihr gesagt, sie solle eine Badewanne füllen, falls das Wasser ausginge, da die Lebensmittelvorräte schwinden.

Flughäfen bleiben weiterhin geschlossen

Aircalin plant, die Flüge am Dienstag wieder aufzunehmen, wenn der Flughafen Tontouta voraussichtlich wieder geöffnet wird, und Air Caledonie hat vorerst keine Flüge geplant, so die Fluggesellschaften. Die australische Außenministerin Penny Wong erklärte, Canberra „arbeite mit den Behörden in Frankreich und Neukaledonien sowie mit gleichgesinnten Partnern, darunter Neuseeland, zusammen, um die Möglichkeiten für eine sichere Ausreise der Australier zu prüfen“.

In einem Beitrag auf der Social-Media-Plattform X am Samstag fügte sie hinzu, dass der internationale Flughafen La Tontouta in Noumea weiterhin geschlossen bleibe und forderte die Australier auf, „in Neukaledonien ein hohes Maß an Vorsicht walten zu lassen“. Die USA rieten ihren Bürgern am Freitag, „Reisen nach Neukaledonien aufgrund von Unruhen und Kriminalität zu überdenken“.

Die Regierung Neukaledoniens erklärte am Freitag, die Insel verfüge über Lebensmittelvorräte für zwei Monate und das Problem sei die Verteilung. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten wird damit beginnen, dass Teams, die auf Minenräumung spezialisiert sind, die von den Aktivisten errichteten Straßenbarrikaden entfernen, so die französischen Behörden.

Aserbaidschanische und russische Einmischungen vermutet

Demonstrantinnen und Demonstranten sollen während der Proteste aserbaidschanische Flaggen gezeigt haben. Die französische Regierung beschuldigt nun die Führung in Baku der Einmischung und vermutet eine Art Vergeltung für die Unterstützung Armeniens im Bergkarabach-Konflikt. Paris hatte sich bereits vor zwei Jahren auf die Seite Armeniens gestellt und mehrere Abkommen geschlossen, darunter auch über Waffenlieferungen. Im Februar dieses Jahres wurde ein weiterer Vertrag über Waffenlieferungen unterzeichnet, wodurch Frankreich plötzlich Einfluss in der Region gewann

Aufgrund dessen scheint der jahrzehntelange Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien nun internationale Verwicklungen auf der fast 14.000 Kilometer entfernten Inselgruppe im Südpazifik zu verursachen. Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin sagte am Donnerstag dem Sender France 2, dass ein Teil der Separatisten eine Vereinbarung mit Aserbaidschan getroffen habe. Eine vor knapp einem Jahr gegründete „Baku Initiative Group“ prangere den französischen Kolonialismus an und unterstütze Unabhängigkeitsbefürworter unter anderem in Neukaledonien.

Eine Lokalpolitikerin aus Neukaledonien soll zudem kürzlich nach Baku eingeladen worden sein und anschließend erklärt haben, dass Aserbaidschan den Weg Neukaledoniens zur Unabhängigkeit unterstützt, so der Sender France Info und das Magazin L’Express. Ein Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes wurde von Politico zitiert, wonach nicht nur Aktivitäten Aserbaidschans, sondern auch der Russischen Föderation in Neukaledonien festgestellt worden sein sollen.

Quellen: ORF / ORF / ORF / Reuters / ZdA

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