HomeInternationalesÜber die Inhaftierung von P. Stan Swamy SJ in Indien

Über die Inhaftierung von P. Stan Swamy SJ in Indien

Gastautor: Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck

Indien. Nach seiner oft widersprüchlichen Geschichte hat sich seit Mitte der 1960er Jahre der Jesuitenorden mit seinem 1965 angetretenen Generaloberen Pedro Arrupe SJ (1907–1991) auf den Weg gemacht, den Einsatz für ihren christlichen Glauben mit dem Kampf für die Gerechtigkeit zu verknüpfen. Dieser wahrhaft christliche Einsatz kann in einer Gesellschaft, in der das Privateigentum die Herrschaftsstrukturen auf allen Ebenen der Gesellschaft bestimmt, nicht erfolgen, ohne, wie Arrupe SJ auf der 32. Generalkongregation 1974/1975 seinem Orden mit auf den Weg gab, einen Preis dafür zu zahlen.[1] Einen solchen Preis zahlen seither viele Jesuiten weltweit. Beispielhaft ist Daniel Berrigan SJ (1921–2016), der wegen des Protestes gegen den Völkermord der USA in Vietnam von den US-Behörden als erster katholischer Priester inhaftiert und als Kommunist verfolgt wurde.[2] Diesen Preis zahlten mit ihrem Leben die Jesuitenpatres Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989), Ignacio Martín-Baró SJ (1942–1989), Segundo Montes SJ (1933–1989), Amando López SJ (1936–1989), Juan Ramón Moreno SJ (1933–1989) und Joaquin López y López SJ (1918–1989). Sie wurden zusammen mit der Köchin Elba Julia Ramos (1947–1989) und ihrer Tochter Celina Maricet Ramos (1973–1989) im Auftrag des US-Imperialismus am 16. November 1989 in El Salvador als Kommunisten ermordet.[3] Diesen Preis zahlt auch Papst Franziskus, der zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Gegenwart gehört und der von übler Nachrede selbst aus der sich in den Institutionen des Reichtums wohlfühlenden katholischen Hierarchie verfolgt wird. Sein Name ist Programm, weil Franz von Assissi (1181–1226) ein echter Nachfolger des wegen seines revolutionären Einsatzes gekreuzigten Jesus von Nazareth (+um 30 u. Z.) sein Leben abseits von Preis, Profit und Kapital gestaltet hat. Den Preis des Kampfes um Gerechtigkeit zahlt in der Gegenwart auch der Jesuitenpater Stan Swamy SJ (*1937) in Indien.

In Indien ist „eine große Revolution notwendig“ (Antonio Gramsci)

Indien gilt unter vielen westlichen Intellektuellen, die nach einem Sinn ihres Lebens suchen und nicht in der Lage sind, ihrem Leben einen Sinn zu geben, als Land der Sehnsucht. Sie lassen sich von einem nicht hinterfragten Mystizismus in Indien und von der ihnen fremden Seele des indischen Volkes faszinieren. In den 1970er Jahren hat der indische Philosoph Osho (1931–1990) in der Bundesrepublik Deutschland großen Zulauf gehabt. Die sich mit roter Bekleidung uniformierende Sannyas-Bewegung rekrutierte sich aus eher linksintellektuellen, finanziell meist gut situierten Schichten und wurde von der Bundesrepublik hingenommen, weil der Protestbewegung gegen die deutsche Aufrüstung und revanchistische Politik mögliche Bündnispartner wegfielen. Die Sannyasins wurden deshalb in der Bundesrepublik nicht mit Berufsverbot belegt oder sonst irgendwie diskriminiert, sie waren eben keine Kommunisten.

Die Völker Indiens sind seit Jahrhunderten in den Fesseln der Religion. Das Kastensystem in Indien wurde vom Hinduismus sanktioniert und gefestigt.[4] Die „Unberührbaren“ galten als gottgewollt. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) hat deren Realität tief nachempfunden, wenn er dichtet:[5]

Großer Brahma, Herr der Mächte,
Alles ist von deinem Samen,
Und so bist du der Gerechte!
Hast du denn allein die Brahmen,
Nur die Rajahs und die Reichen,
Hast du sie allein geschaffen?
Oder bist auch du’s, der Affen
Werden ließ und unseresgleichen?

Der vom italienischen Faschismus inhaftierte Marxist Antonio Gramsci (1891–1937) hat zu einem Artikel über die Religiosität Indiens des Orientalisten Giuseppe Tucci (1894–1984) in seine Miszellenhefte um 1930 notiert: „Es ist offensichtlich, daß in Indien angesichts der jahrhundertealten gesellschaftlichen Abgestumpftheit und der verknöcherten Schichtungen der Gesellschaft und, wie es in allen großen Agrarländern der Fall ist, angesichts der großen Menge von mittleren, insbesondere klerikalen Intellektuellen, die Krise sehr lange anhalten und eine große Revolution notwendig sein wird, damit es zum Anfang einer Lösung kommt“.[6] 

Die indische Unabhängigkeitsbewegung wurde mit seinem Führer der nationalen Bourgeoisie Mahatma Gandhi (1869–1948) und dessen Mitstreiter Jawaharlal Nehru (1889–1964) weltweit beachtet. Die Befreiung Indiens 1947 aus der britischen Kolonialherrschaft bedeutete für die weit überwiegende Mehrheit der heute 1,3 Milliarden Menschen aber nicht eine Befreiung aus Armut und der damit verbundenen Unterdrückung. Die durch den Gandhismus verklärte Gewaltlosigkeit wurde für die Durchsetzung gesellschaftlicher Perspektiven zu einem Hemmnis. Den englischen Imperialismus hatte die Industrialisierung von Indien nicht interessiert, er zerstörte vielmehr die nichtlandwirtschaftliche Produktion. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Millionen von Indern aus ihren Gewerben in die Landwirtschaft vertrieben.[7] Nach der Befreiung vom Kolonialismus erfolgte nach kapitalistischen Vorgaben die industrielle Entwicklung. Nehru hat in jungen Jahren die revolutionären Errungenschaften der Sowjetunion aufmerksam beobachtet. 1928 hat er über die Befreiung der Frauen in der Sowjetunion in einer indischen Zeitschrift einen eigenen Artikel geschrieben, dass „die neue Ordnung den alten Boden tief aufgebrochen [hat], und in Turkestan, Jakutien und Aserbaidschan, wo die Frauen bis vor kurzem noch abgeschlossen hinter einem Vorhang saßen, sitzen diese heute gleichberechtigt mit den Männern in den Räteversammlungen der Republiken“.[8] Aber Nehrus Blick auf die Sowjetunion hatte für das indische Volk keine konkreten Ergebnisse gebracht. Der Schweizer Sonderberichterstatter der UNO Jean Ziegler (*1934) stellt in seinem auch dem Andenken des Menschenrechtsaktivisten aus dem Jesuitenorden Michel Riquet SJ (1898–1993) gewidmeten Buch >Wir lassen sie verhungern< fest: „Ein Drittel aller in Indien geborenen Kinder sind untergewichtig, was darauf schließen lässt, dass auch ihre Mütter stark unterernährt sind. Jedes Jahr erleiden dort Millionen Säuglinge infolge von Unterernährung irreparable Hirnschäden, und weitere Millionen Kinder unter zwei Jahren verhungern“.[9] Dazu gibt es gigantischen Reichtum wie im fruchtbaren Distrikt Shivpur, der von einer Kaste besonders mitleidloser Großgrundbesitzer beherrscht wird.[10] Weil die Völker Indiens versuchen, aus dieser Dialektik von einem wahrhaft teuflischen Reichtum Weniger verursachten Armut zu gelangen, nehmen in der Gegenwart die Tendenzen nicht zuletzt vom Hindu-Extremismus zum offenen Faschismus zu. Morde sind an der Tagesordnung, Moscheen werden zerstört, die Welt schaut zu.

Inhaftierung von Pater Stan Swamy SJ

Der indische, von der Befreiungstheologie inspirierte Jesuit Stan Swamy SJ (*1938) hat sich an der Seite der Armen und Unterdrückten ein- und ausgesetzt. Er ist seit 8. Oktober 2020 schon mehr als hundert Tagen mit anderen indischen Menschenrechtsaktivisten in Haft. Es wird ihm vorgeworfen, er habe kommunistische bzw. maoistische Bewegungen unterstützt und sei deshalb ein gefährlicher Aufrührer. Pater Stan Swamy SJ hat sich vier Jahrzehnte vor allem für die Rechte der indigenen Völker in Jharkhand, Chattisgarh und Madhya Pradesh mit Mut und Herz eingesetzt. Die Solidaritätsbewegung für diesen Zeugen der Gerechtigkeit muss über die Gesellschaft Jesu hinaus gehen und zu einer Priorität werden.[11] Es wäre das auch ein Signal zur Änderung der globalen gesellschaftlichen Verhältnisse.


[1] Vgl. Martin Maier: Pedro Arrupe – Zeuge und Prophet. Ignatianische Impulse. Echter Verlag Würzburg 2007.

[2] Gerhard Oberkofler: Friedensbewegung und Befreiungstheologie. Marxistische Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (1921–2016).

[3] Jon Sobrino SJ: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund. Ignatianische Impulse. Echter Verlag Würzburg 2007.

[4] Vgl. Sergej Alexandrovitsch Tokarew: Die Religionen in der Geschichte der Völker. Dietz Verlag Berlin 1976, S. 365–400; dazu Martin Maier SJ: Die Unberührbaren und das Christentum in Indien. Stimmen der Zeit 214 (1996), S. 99–110.

[5] Goethe, Poetische Werke, Band 1, Berlin 1960, S. 490–491 (Des Paria Gebet).

[6] Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 2 hg. von Wolfgang Fritz Haug. Heft 2–3. Argument Verlag Berlin, S. 296.

[7] Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. Band 27a. Akademie Verlag Berlin 1965, S. 157.

[8] Jawaharlal Nehru: Sowjetrussland. Herausgegeben und mit einem Nachwort sowie mit Anmerkungen versehen von Bianca Schorr. Aus dem Englischen übertragen von Christa Schuenke. Akademie-Verlag Berlin 1989, S.183. 

[9] Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt. C. Bertelsmann Verlag München 4. A. 2012, S. 147.

[10] Ziegler ebd., S. 148. 

[11] https://​www​.jesuitenmission​.de/​n​e​w​s​/​w​e​l​l​e​-​d​e​r​-​s​o​l​i​d​a​r​i​t​a​e​t​-​f​u​e​r​-​p​a​t​e​r​-​s​w​a​m​y​.​html; International-Statement-Fr-Swamy-8-Dec-2020.pdf (sjesjesuits​.global)

BILDQUELLEjesuiten.ch
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