Kommentar von Tibor Zenker, Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)
Die SPÖ hat sich mit ihrer Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz in ein originelles Schlamassel manövriert. Hans Peter Doskozil wollte das finale Duell gegen Pamela Rendi-Wagner ausrufen – und bekommt jetzt ein „Stimmungsbild“ mit dutzenden Kandidaten und wenigen Kandidatinnen. Man kann der Bundesgeschäftsstelle nun freilich Pfusch unterstellen, weil eine nicht zu Ende gedachte Vorgehensweise, doch es kann auch das Gegenteil zutreffen: Ein etwaiger Doskozil-Sieg mit relativer Mehrheit wäre unter diesen Bedingungen nämlich recht wenig wert.
Bemerkenswert ist unterdessen das vorhandene Misstrauen zwischen den Parteifreunden. Doskozil weiß sehr genau, dass die Delegierten eines Parteitages z.T. handverlesen sein können, wenn es die Zentrale richtig organisiert. Er weiß aber auch – so tragisch diese Wahrheit persönlich auch ist –, dass er auf einem Parteitag nicht mit einer flammenden Wahlrede reüssieren könnte, wenngleich Rendi-Wagners Reden oft wie mühsam erlernte Muttertagsgedichte klingen. Daher der strategisch nicht unlogische Wunsch nach einer Urabstimmung unter den SPÖ-Mitgliedern, die nun ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist und unerwartete Formen angenommen hat.
Was auf den ersten Blick nach einer Demokratisierung der Vorsitzwahl aussieht, bedeutet in Wirklichkeit eine Amerikanisierung der Verhältnisse. Die SPÖ sucht nicht vorrangig eine Person für den Parteivorsitz, sondern einen Kanzlerkandidaten/eine Kanzlerkandidatin – also eine Person, die Wahlen gewinnen kann. Das erinnert an das US-Vorwahlsystem, wozu auch passt, dass 9.000 Menschen als kurzfristige Neubeitritte akzeptiert werden, die aktiv (und einzelne womöglich passiv) an der Wahl-Befragung teilnehmen können. Diese vermeintliche Offenheit markiert tatsächlich eine erschütternde Beliebigkeit. Und in aller Naivität freut man sich in der SPÖ, dass in den vergangenen Tagen und Wochen so viele Menschen Mitglieder geworden sind. Dass diese aber nicht beigetreten sind, weil sie die SPÖ so großartig finden, sondern nur, um die Befragung zu beeinflussen, ignoriert man. Diejenigen Neumitglieder, deren Kandidatin/Kandidat unterliegt, werden dementsprechend rasch wieder verloren gehen.
Trotz wiederholter Beteuerungen wird es nun nicht um die Diskussion von Inhalten gehen – hier sind die Unterschiede zwischen Rendi-Wagner und Doskozil auch gar nicht mal so groß –, sondern um die Personen. Es geht auch nicht um von den Medien herbeiphantasierte „linke“ und „rechte“ Flügel der SPÖ: Wenn Rendi-Wagner tatsächlich das „linke“ Lager der SPÖ repräsentiert, dann sagt das mehr über die SPÖ als über Rendi-Wagner aus – und es wäre die treffende Widerspiegelung der ganzen Tragödie der österreichischen Sozialdemokratie. Daher ist es auch ein Irrglaube, das Problem der SPÖ wäre einfach nur an der Frontperson festzumachen. Das stimmt lediglich dann, wenn es um eine reine oberflächliche Wahlorientierung geht, also darum, eine Mehrheit für die SPÖ zu gewinnen. Dies allerdings wäre das endgültige Bekenntnis, dass es um nichts anderes als um die Erringung von Machtpositionen als Selbstzweck ginge.
Das Problem der Sozialdemokratie ist ein anderes: Sie ist seit 1945 als Partner der ÖVP fixer Bestandteil des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems in Österreich. Ihre Verankerung in der Arbeiterklasse ist stetig reduziert worden, wenngleich man über den Funktionärsapparat den ÖGB und die AK dominiert – aber eben als Bestandteile der klassenharmonischen „Sozialpartnerschaft“. In nackten Zahlen hat die SPÖ heute weniger Mitglieder, als die KPÖ nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Und das ist nicht unverdient: Die antisozialistische Ausrichtung im Westblock, die Entfernung der Linksopposition um Erwin Scharf oder die Niederschlagung des Oktoberstreiks waren erste Anzeichen. Ironischer Weise markierte sogar die Wahl Bruno Kreiskys, der heute vielen SPÖ-„Linken“ als Säulenheiliger gilt, zum SPÖ-Vorsitzenden einen ideologischen Rechtsruck, wenngleich seine Alleinregierungen positive soziale Reformen, aber eben zur Stabilisierung des Kapitalismus durchführten. Der Antikommunismus wurde verstärkt, der Sozialismus sollte nicht mehr lange auf dem ohnedies geduldigen Papier des Parteiprogramms stehen. In den 1980er und 90er Jahren brachen alle Dämme: Unter SPÖ-Kanzlerschaft kam es zur neoliberalen Wende, das Volkseigentum der Verstaatlichten Industrie wurde privatisiert, das Sozial‑, Bildungs- und Gesundheitssystem in Komplizenschaft mit dem Juniorpartner ÖVP zurückgefahren. Bis 2000 waren SPÖ und ÖGB sturmreif, die ÖVP übernahm gemeinsam mit der FPÖ selbst die Macht – die SPÖ hatte ihre Schuldigkeit bei der arbeiter- und volksfeindlichen Politik des Konterreformismus getan.
Dieser Niedergang spiegelte sich auch anhand der Vorsitzenden wider: Der Banker Vranitzky, der Manager Klima, die „Krone“-Marionette Faymann, der Manager Kern und die parteifremde Rendi-Wagner markieren eine Partei, die sich substanziell aufgegeben hat – dann nämlich auch als sozialreformistische Partei, die die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus abmildern möchte. Als sozialistische Partei im Wortsinn, gar als marxistische Partei, hat die Sozialdemokratie bereits 1914 oder, bestenfalls, 1918 zu existieren aufgehört. Die Realsozialdemokratie ist längst eine Partei der Kapitalismusverwaltung, der Profitorientierung und des Antisozialismus, eine Partei, die sich nicht an der Arbeiterklasse orientiert, sondern an monopolkapitalistischen Bedürfnissen. Die SPÖ ist eine bürgerliche Partei.
Das bedeutet nicht, dass es unter der SPÖ-Mitgliedschaft nicht auch aufrichtige Sozialdemokraten oder in der Jugendorganisation SJ sogar gutmeinende Sozialisten gibt. Einer davon ist der Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler, der als dritter halbwegs aussichtsreicher Kandidat an der Vorsitzwahl bzw. Befragung teilnimmt. Er gilt nun als Kandidat der „Linken“ in der SPÖ (und unter den Neumitgliedern) – und das durchaus berechtigt. Ehrliche sozialreformistische Positionen, Klassenstandpunkt und einen gewissen Traditionalismus kann man Babler nicht absprechen. Er ist eben ein echter Sozialdemokrat – ironischer Weise macht einen das in der heutigen SPÖ schon wieder zu einem „Linksaußen“-Kandidaten. In Teilen der Basis sowie in den Jugendorganisationen kommt dies gut an. Insgesamt ist Babler aufgrund der fortgesetzten Selbstbeschädigung von Rendi-Wagner und Doskozil vermutlich nicht gänzlich chancenlos, auch wenn ihn die beiden Lager der Parteieliten mehr fürchten als den jeweiligen Hauptgegner und somit unbedingt verhindern wollen. Insofern kann man sich – auch als interessierter Außenstehender – nur wünschen, dass Babler auf Platz eins der Mitgliederbefragung landet. Sollte es tatsächlich so kommen, würden jedoch einige Illusionen rasch zerbröseln.
Wie schon gesagt: Das Problem der SPÖ ist nicht der/die Vorsitzende, sondern ihr substanzieller Charakter. Und den wird Babler nicht ändern können, ebenso wenig wie Generationen von in jungen Jahren „radikalisierten“ SJ-Mitgliedern zuvor: Nicht sie verändern die Partei, sondern die Partei verändert sie – oder spuckt sie aus. Würde und Stolz sind Haltungen, aber keine Programmatik. Manch einer mag in Babler einen neuen linken Hoffnungsträger sehen, ihn für einen neuen Adler, Bauer oder wenigstens Kreisky halten, einzelne vielleicht sogar für eine österreichische Ausgabe von Salvador Allende – doch die Wahrheit ist, dass Bablers Schicksal als Parteivorsitzender vorprogrammiert wäre: Es läge bestenfalls irgendwo zwischen Lionel Jospin und Oskar Lafontaine (als SPD-Vorsitzendem), vermutlich aber nur in einer Duplizität zu Jeremy Corbyn. Der in den Kapitalismus integrierte SPÖ-Apparat duldet keinen Linksruck. Wenn es nach ihm geht, kommt Babler nie über die Bedeutung Bernie Sanders‘ hinaus – und falls doch, wird man Gegenmaßnahmen ergreifen.
Bablers Unterstützer hängen einer inzwischen längst utopischen Variante der Sozialdemokratie an, die sich nicht verwirklichen lässt. Zu stark sind die Fundamente der Realsozialdemokratie. Für die SPÖ gibt es keine Rettung mehr, sie hat ihre historischen Chancen schon vor 100 Jahren verwirkt und in den letzten Jahrzehnten ihre Entbehrlichkeit bewiesen. Wer eine „soziale“ Kapitalismusverwaltung möchte, ist bei der KPÖ Graz besser aufgehoben.
Es sind falsche Konzepte, die den Illusionen der „Linken“ in der SPÖ (und der SJ) zugrunde liegen. Die nötige Kampfpartei der österreichischen Arbeiterklasse wird nicht durch sie entstehen, sondern nur gegen die SPÖ, die hierfür geradezu ein Hindernis darstellt. Diese große Aufgabe mag gegenwärtig ebenfalls als Utopie erscheinen, doch kraft des wissenschaftlichen Sozialismus ist sie es nicht. Auf dieser Grundlage wird man auch nicht auf dem halben Wege des Reformismus und der Kapitalismusverwaltung stehen bleiben, sondern den Klassenkampf für den Sozialismus forcieren. Das ist das Einzige, was richtig ist, und das muss man den Menschen auch offen sagen und näherbringen. Alles andere schützt und bewahrt den Kapitalismus.
Insofern ist es auch egal, ob Rendi-Wagner oder Doskozil die SPÖ in die nächste Nationalratswahl und gegebenenfalls in eine Koalitionsregierung führt. Und für Babler kann man nur hoffen, dass er aus dem ganzen Theater unbeschadet hervorgeht, denn in Traiskirchen leistet er gute und ehrenwerte Kommunalarbeit. Mit Fortschritten in Richtung Sozialismus werden aber alle drei nichts zu tun haben – wie die gesamte Sozialdemokratie.