Die Krawalle in Serbien zeigen das Versagen des politischen Systems im Land auf. Statt beim Gegner oder im Ausland Rädelsführer zu suchen, muss sich die bürgerliche Elite selbst bei der Nase nehmen, meint unser Autor.
Gastkommentar von Aleksandar Đenić, erster Sekretär des Kommunistischen Jugendverbands Jugoslawiens (SKOJ). Đenić ist Diplom-Anthropologe, Politologe und Doktorand der Zeitgenössischen Kunst an der Uni Belgrad. Er wäre der Zweitplatzierte auf der Wahlliste „Einziger Ausgang: Sozialismus“ gewesen.
Der Kommentar wurde erstmals in serbokroatischer Sprache als Facebook-Post publiziert. Übersetzung, Links und Schlussbemerkungen erfolgen durch die Redaktion der Zeitung der Arbeit.
Ich sehe regimetreue Medien und Politiker, die sich geschockt geben, weil sie nicht verstehen, was gerade passiert. Diese Leute sind so tief drin in ihren Parallelwelten und in ihrem Irrsinn; sie glauben wirklich, sie hätten großen Rückhalt und dass ihnen das Volk in ihrem Wahn folgt. Es ist offensichtlich, dass sie vergessen haben, wie das politische System Serbiens funktioniert und wie sie an die Macht kommen und woher ihr Rückhalt wirklich rührt. Jede ihrer Aussagen kommt wie ein Bumerang zurück. Da können sie noch so oft Đilas, Nogo, Tadić und Jeremić* als Rädelsführer bemühen – sie checken einfach nicht, dass diese Typen bloß austauschbare, inhaltsleere Figuren sind, ohne Rückhalt im Volk.
Als Antwort auf diese Unruhen suchen sie jetzt verzweifelt nach fremden Mächten, die hier irgendwie ihre Finger im Spiel hätten. Und man kann keine echten Rädelsführer ausmachen – jetzt mal von Nogo und seinen 100 Gefolgsleuten abgesehen –, weil es nicht eine Kraft gibt, die die Wut und den Volkszorn in Bahnen lenken, geschweige denn kontrollieren kann. Und auch Nogo kann das nicht, da 90 Prozent der Leute dort auch ihn nicht kennen. Wenn du also keine Nestbeschmutzer ausmachen kannst, musst du dir natürlich wen suchen, der angeblich von außen die Fäden zieht. Mal sind die Russen schuld, dann irgendwelche Westmächte… In diesem Wirrwarr von Protesten gibt‘s natürlich alles und jeden und jeder versucht sich hier zu positionieren und irgendwie seine Interessen durchzusetzen.
Nur sind jene, die gerade auf die Straße gehen, Kids und Menschen, die in diesem Land leben. Sie haben genug von all der Heuchelei. Auf der Straße herrscht die blanke Wut. Diese Wut hat sich in Chaos und Wahnsinn verwandelt. Da dringt kein rationales Wort mehr durch; da kann niemand von außen irgendwelche Fäden ziehen, weil sich hier gerade niemand ziehen lässt.
Tja, und jetzt, meine Herren, wundern Sie sich, weil diese jungen Leute alles kaputt machen, destruktiv sind, Ihre politischen Modelle und Ihr System ablehnen. Sie können es einfach nicht verstehen, dass das Ihre Kinder** sind, Ihre Nachbarn, Freunde, Kollegen. Sie können es einfach nicht verstehen, weil Sie sich selbst eingeredet haben, dass das, was Sie machen, gut ist. In Wahrheit haben wir das undemokratischste Wahlsystem Europas (und wenn Sie den Leuten nicht erlauben, sich politisch zu organisieren und eigene Forderungen zu artikulieren, was wundert Sie die Straße?), das Gesundheitssystem zerfällt, die Wirtschaft stürzt ins Chaos (der Durchschnittslohn liegt bei 40.000 RSD***), die Pensionen sind karg (sie betragen im Schnitt 45 Prozent des Durchschnittslohns, wobei mehr als 50 Prozent eine Pension von gut 22.000 RSD beziehen, was unter dem Mindestlohn liegt). Aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage verlässt die Jugend das Land. Sie schmeißen die Leute aus ihren Häusern raus, legalisieren Rechtsbruch durch Tycoons und andere finanzstarke Privatiers, und Sie gefallen sich in Ihrer Abgehobenheit und in dieser Abgehobenheit wollen Sie den Leuten eintrichtern, dass all die Jutkas* „no-na-ned part of the game“ sind, dass das normal ist. Gegenüber der NATO und der EU fahren Sie einen unterwürfigen Kurs und erklären den Leuten, dass es zu ihren Gunsten ist, zu darben. Auch das Bildungssystem haben Sie auf allen Ebenen demoliert. Da wird von der Krippe bis zum Doktorat einfach alles kaputtgemacht; es ist völlig normal, sich ein Diplom zu kaufen wie ein Laib Brot im Supermarkt. Sie setzen den Bologna-Prozess um, welcher Wissen zur Ware macht, wodurch die Schulgelder und Studiengebühren in Serbien zu den höchsten Europas gehören.
Sie sehen, meine Herren: An all dem sind allein Sie schuld, für all das sind allein Sie verantwortlich. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das Fass überläuft. Diesen Kids ist alles wurscht, es ist ihnen wurscht, was mit ihnen, geschweige denn mit Serbien passiert. Denn Sie, meine Herren, haben diese Kids mit Ihrer Politik ihrer Zukunft und ihres Lebenssinns beraubt. Diese Kids, die jetzt zündeln und demolieren, die haben Sie dazu erzogen. Sie haben diese Kids ihrer Zukunft beraubt!
Natürlich wird auch das hier vorübergehen und nichts wird sich substanziell ändern. Denn abgesehen von der Wut gibt es keine politische Kraft, die diese Wut jetzt artikulieren könnte; es gibt keine politischen Forderungen. Aber die Wut und der Zorn werden bleiben, denn Ihre Masken sind gefallen, meine Herren, und Sie haben Ihre wahren Fratzen entblößt. Hiernach wird nichts mehr so sein wie vorher! Denn wer zockt, verzockt sich aller Wahrscheinlichkeit nach!
* Infos zu den erwähnten Politikern:
Dragan Đilas (*1967) ist der ehemalige Kabinettschef von Boris Tadić (*1958), war ressortfreier Minister und schließlich Bürgermeister von Belgrad. Er war Vorsitzender der sozialdemokratischen Demokratischen Partei (DS) und ist seit 2019 Chef der davon abgespaltenen Partei der Freiheit und Gerechtigkeit (SSP). Die SSP boykottierte die letzten serbischen Wahlen. Đilas wird – wie das Gros der Genannten – von Präsident Aleksandar Vučić immer wieder zum Feind hoch stilisiert.
Srđan Nogo (*1981) ist ein serbischer Abgeordneter und Klerikalfaschist. Bis zu seinem Parteiausschluss 2019 – den er nicht anerkennt – war er ein Kader der rechtsextremen Sekte „Dveri“. 2016 schaffte diese es auf einer Wahlliste mit der konservativen DSS ins serbische Parlament. Nogo schürt Hass auf Geflüchtete, ethnische und sexuelle Minderheiten und ist ein 5G-Gegner. Er soll jenen Mob geführt haben, der vergangene Woche das serbische Parlament stürmte.
Boris Tadić war erst Minister, dann 2004–2012 prowestlicher Präsident Serbiens und lange Vorsitzender der DS. Er galt als Nachfolger des 2003 ermordeten Zoran Đinđić (*1952). Tadić trieb Ausverkauf und Privatisierung der Wirtschaft und die EU-Annäherung massiv voran. Er spaltete sich 2014 mit Getreuen von der DS ab und gründete die Sozialdemokratische Partei (SDS). Schon vor dem Wahlboykott 2020 schrumpfte diese auf bedeutungslose 5.02 Prozent der Wählerstimmen.
Vuk Jeremić (*1975)ist ein ehemaliger DS-Politiker und Diplomat. Er war Außenminister Serbiens und 2012–2013 Präsident der UN-Vollversammlung. In seiner New Yorker Zeit schmiss ihn ein Parteigericht aufgrund von „Verstößen gegen die Parteidisziplin“ aus der DS raus. Nach einer erfolglosen Kandidatur als UN-Generalsekretär 2016 und dem vierten Platz bei der serbischen Präsidentschaftswahl 2017 gründete er die protektionistische Volkspartei (NS).
Die DS, die SSP, die Dveri und NS waren alle Teil der „Allianz für Serbien“ (SzS), einem kurzlebigen, extrem heterogenen Oppositionsbündnis, das die letzten großen Proteste (1 od 5 miliona, Einer von fünf Millionen) gegen Präsident Vučić und seine Fortschrittspartei (SNS) erfolglos vereinnahmen wollte.
Milutin Jeličić „Jutka“ (*1962) war Vorsteher des Luftkurorts Brus. Der SNSler wurde 2018 wegen sexueller Nötigung von seiner Ex-Mitarbeiterin Marija Lukić (*1988) angezeigt. Sieben weitere Frauen schlossen sich der Klage an, dutzende sagten aus, ebenfalls belästigt worden zu sein. Am 10. Juli 2020 fiel das Urteil in erster Instanz: drei Monate Haft. Lukić ist die erste Frau in Serbien, die einen Amtsträger wegen Sexismus erfolgreich vor Gericht brachte. Jeličić stellte sich als Opfer einer Kampagne dar, da sich Lukić nach ihrer Kündigung bei 1 od 5 miliona engagierte.
** Genosse Đenić spielt hier auf das Wahlbündnis von Vučićs SNS zur heurigen Wahl an; es hieß „Za našu decu“, übersetzt „Für unsere Kinder“.
*** Das sind etwa 340 €, Anm. d. Red.