Bei Demos gegen die Coronakrise in Paraguay brennt ein Lokal der Regierungspartei. Die kommunistische PCP unterstützt die Proteste und die Studentin Vivian Genes, der man das Feuer zur Last legt.
Asunción. „Wir haben immer noch keine freien Patente, immer noch keine Impfstoffe. Was wir täglich in unseren Spitälern sehen, ist ein Mord auf Raten, ein Mord an unserem Volk durch die Herrschenden“, erzählt die Architekturstudentin Vivian Genes aus Asunción, der Hauptstadt Paraguays.
Es ist ein ungewöhnliches Interview, das die Genossin Anfang April der Adelante! gibt, der Zeitung der Paraguayischen Kommunistischen Partei (Partido Comunista Paraguayo, PCP). Das liegt nicht nur am düsteren Bild, welches sie von ihrer Heimat in Zeiten des Virus zeichnet. Es liegt auch am Gesprächsort: Schließlich befindet sie sich in Untersuchungshaft im Kommissariat Nr. 12 der Stadt.
Vivi, wie GenossInnen sie nennen, meint: Wäre nicht sie verhaftet worden, dann eben ein Kamerad. Sie klagt nicht, zumindest nicht über ihr Los. Die Aktivistin spricht ruhig, zupft nur etwas nervös am Mund-Nasen-Schutz. Ihre persönliche Situation setzt die 25-jährige in Kontext zur Politik, zur Gesundheitskrise in Paraguay.
Diese Abgeklärtheit ist bewundernswert, denn die Polizei wirft Vivi Genes Brandstiftung, die Störung des öffentlichen Friedens und die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sowie Sachbeschädigung vor. Sie soll ein Lokal der konservativen Regierungspartei abgefackelt haben. – Wie kam es dazu?
„Für ihre Sache“
Die mächtige Asociación Nacional Republicana (ANR), besser bekannt als Colorados, gilt als korrupt. Kontakte zu Drogenkartellen werden ihr nachgesagt. Doch das schreckt immer weniger Leute ab. Auch Vivi nicht; sie kämpfte mit ihrer Studi-Fraktion 2020 erfolgreich auf der Straße und an der Uni gegen Studiengebühren. Sie erklärt: „Ich bin Studi-Vertreterin – eine, die für ihre Sache eintritt.“ Solche Menschen sind dem Staat ein Dorn im Auge, zumal sie nicht allein sind.
Blockierte Autobahnen, brennende Streifen, Bauernaufmärsche im ganzen Land: Der südamerikanische Binnenstaat Paraguay erlebt im März die größten und radikalsten Sozialproteste seit Jahren. Sie richten sich gegen Austerität, Ausgangssperren und die Regierung. Anders als die Mehrheit der Demonstrierenden bei uns gehen da aber keine Esoteriker und militanten Reaktionäre auf die Straße, sondern Unterdrückte und fortschrittliche Menschen.
Keine Impfgegner
Sie protestieren nicht gegen, sondern für Impfungen und solidarisieren sich mit den Beschäftigten im maroden Gesundheitswesen: „In den Spitälern gibt‘s keine freien Betten, keine Sessel“, sagt Vivian Genes der Adelante!. Das alles werde nicht von der Colorado-nahen Justiz untersucht, wie so viele Affären der letzten Jahre. Vivi nennt etwa den spektakulär vergeigten „Metrobús“ und baufällige Schulen.
Bei den Demos in Paraguay marschieren Arbeiterinnen, die keine Sozialhilfe erhalten, obwohl ihre Werke zusperrten, oder solche, die nicht mit verstärktem Arbeitsschutz rechnen können. Es sind Campesinos, die immer schon zu den Verlierern im Land zählten. Es sind Kleinstunternehmer, die im Unterschied zu Konzernen vergeblich auf Umsatzersatz warten. Und es sind Jugendliche und junge Menschen wie Vivi. So wie Hunderttausende andere im März.
Leere Versprechen
Dabei hatte das Parlament in Asunción viel Geld für die Bekämpfung der Corona-Pandemie locker gemacht. Doch knapp ein Jahr später waren keine substanziellen Veränderungen zu spüren: „Die berühmten 1.6 Mrd. Dollar flossen ja nicht ins Gesundheitssystem, sondern in die Taschen mächtiger Familien“, meint Genes. Die Adelante! weiß auch von der Tilgung von Auslandsschulden und ähnlichen Adressen. In den Spitälern, Ambulanzen, Labors kam kein Cent an.
Paraguay nutzte den Ausnahmezustand 2020 also noch unproduktiver als Österreich. Zuletzt gingen dort auch immer mehr Medikamente in den staatlichen Spitälern aus. Und trotz Sputnik-V-Ampullen liefen die Impfungen in Paraguay kaum an. Kurzum: Die Politik kam ihren Versprechen und Pflichten nicht nach. Dagegen regt sich nun Unmut.
„Alarmstufe Rot“
Um zu kalmieren, tritt der Gesundheitsminister am 5. März zurück, just als die Proteste an Fahrt aufnehmen. Tags darauf feuert der konservative Präsident Mario Abdo Benítez drei weitere Regierungsmitglieder. Es hilft weder politisch noch gesundheitlich: In der zweiten Märzwoche vermelden die Behörden einen Rekord von 2.125 Neuinfektionen. Es kommt zu Triagen bei Not-OPs. In den öffentlichen Krankenhäusern sind die insgesamt 304 Intensivbetten (bei einer Bevölkerung von 7 Millionen) fast komplett belegt. Wie die Tageszeitung junge Welt berichtet, stehen diesen Betten 202 Intensivbetten in Privatkliniken gegenüber – für 5.000 US-Dollar am Tag.
Das Gesundheitsministerium ruft folglich die „Alarmstufe Rot“ aus, mahnt Besonnenheit ein und warnt vor Menschenansammlungen – angeblich aus Hygienegründen. Doch alle Aufrufe der Herrschenden verhallen. Von Asunción aus verbreiten sich in ganz Paraguay Demonstrationen. Die Menschen tragen im Gros Schutzmasken, lassen sich aber nicht den Mund verbieten. Es folgen Ausschreitungen mit der Polizei, die einen Toten und viele Verletzte fordern.
„Wie im Stronismo“
Am Abend des 17. März passiert dann der Vorfall, wegen dem Vivi im Häfen sitzt. Ein Demo-Zug junger Oppositioneller kommt bei einem geschlossenen Parteilokal der Colorados vorbei. Ein Sicherheitsmann der Konservativen verliert die Nerven und schießt mit einer Flinte in die Menge.
Glücklicherweise wird niemand getötet oder verletzt. Die jungen Leute reagieren mit einem Gegenangriff. Es gelingt, den Security zu vertreiben. Das Lokal wird gestürmt, eine vermummte Frau trägt ein brennendes ANR-Plakat hinein. Kurz darauf zerstreut die Polizei die Ansammlung, Schüsse sind zu hören.
Bis heute haben weder die ANR noch Polizei oder Justiz Beweise dafür vorgelegt, dass Vivi die Meute zum Feuer anstachelte oder es selber entfachte. Selbiges gilt für die vier Männer, die mit ihr verhaftet wurden.
Unterdessen drehte die ANR die Propagandamaschine auf und warf dem Linksbündnis „Frente Guasú“ (FG) und Gewerkschaften vor, hinter den Protesten und dem Brand zu stehen. Die FG wies das zurück. Die Colorados würden wieder denunzieren und diffamieren „wie im Stronismo“. Damit meinen sie die faschistische Ära Paraguays (1954–1989) unter dem deutschstämmigen General Alfredo Stroessner (1912–2006). Der ANR-Mann putschte sich gegen einen Parteifreund an die Macht. Sein Regime packelte mit den USA und der BRD und war Vorbild für die Juntas in Brasilien, Chile, Argentinien und anderer lateinamerikanischer Länder. Und da die ANR nach dieser Ära nicht verboten wurde, ist der Sohn von Stroessners Privatsekretär Mario Abdo heute Präsident Mario Abdo Benítez.
Kontinuität
Die personelle Kontinuität setzt sich laut Genossen Alberto Federico Ovejero überall fort: In den juridischen Fakultäten und auf allen Ebenen der Justiz Paraguays saßen nach 1989 – nachdem Stroessner selbst von einem Parteifreund weg geputscht wurde – immer noch viele Günstlinge der Militärdiktatur. Sie mussten für ihre Rolle im Regime nicht büßen, schreibt der Anwalt Ovejero auf der Website der Adelante!. Die Antwort der PCP auf all das war, immer wieder Sozialproteste, Klassenkämpfe aktiv zu unterstützen.
Das politische System der Republik Paraguay unterlief seit jeher einfachste bürgerliche Grundsätze wie die Gewaltenteilung. Während der postkoloniale Diktator Dr. José Gaspar Rodríguez de Francia (1766–1840) noch die Aufklärung in die Verfassung schrieb, setzten seine Nachfolger auf die vorrevolutionäre Ordnung der Adligen und Großgrundbesitzer. Die Colorados wirkten trotz Verfassungsreformen und modernen Anstrichs immer in dieser Tradition; schließlich wurde die ANR von latifundistas und Militärs gegründet. Auch die letzte Novelle von 1992 brachte keine wirkliche Veränderung, schreibt Alberto Federico Ovejero.
„Müssen uns weiter organisieren“
Die PCP appelliert nun an bürgerlich wählende Arbeiterinnen und Arbeiter. Es sei Zeit für den endgültigen Bruch mit den Colorados und der großen liberalen Oppositionspartei PLRA. Die PCP vertritt die Losung „Que se vayan todos“, alle sollen aus dem Parlament verschwinden – also auch die reformistische FG.
Damit nicht genug: Die PCP hofft auf dauerhafte Gegenwehr von unten, „in den Gewerkschaften, in der Bauern- und Landlosenbewegung, an den Schulen und Unis“. Das unterstreicht auch Vivi im Knast: „Wir müssen uns weiter organisieren, weiter Druck machen.“ So lange die Colorados in Paraguay das Sagen haben, so lange werde man ihnen widerstehen und Alternativen aufzeigen. Genossin Genes glaubt, es spiele keine Rolle, „ob ich jetzt zwei oder zwanzig Jahre im Frauenknast verbringe, denn es wird immer mehr Menschen geben, die wissen, dass es so nicht weitergeht und die reagieren.“
Es wird weder zwei noch zwanzig Jahre dauern: Die junge Kämpferin steigt wohl bald wieder gegen Triagen und Korruption auf die Barrikaden. Denn ein Protestcamp vor dem Kommissariat Nr. 12 und ein breites Medienecho bewirkten, dass Vivi und zwei Männer aus der Haft entlassen wurden. Stattdessen verhängte ein Berufungsgericht Hausarrest.
Quellen: Adelante!/junge Welt/abc/SWI