Der Libanon steht derzeit an einem politischen und institutionellen Scheideweg. In wenigen Monaten haben Entscheidungen der Regierung, Aufrufe religiöser und politischer Akteure sowie offen formulierte Drohungen aus dem Ausland die fragile Balance des Staates weiter unter Druck gesetzt. Im Zentrum stehen ein geschwächtes, klientelistisch und konfessionell geprägtes Staatswesen, die ungelöste Frage der Bewaffnung nichtstaatlicher Akteure sowie die anhaltende, teils unverhohlene Einmischung anderer Staaten, die das innenpolitische Klima zusätzlich vergiften.
Der Zusammenbruch des staatlichen Leistungsvermögens, der im Bewusstsein vieler Libanesinnen und Libanesen seit der Hafenexplosion vom 4. August 2020 tief verwurzelt ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die aktuellen Debatten. Im Zentrum der Kritik steht das über Jahrzehnte gewachsene Systeme von Klientelismus und konfessioneller Patronage. Dieses wird für den Zerfall öffentlicher Dienste, den wirtschaftlichen Kollaps und die Unfähigkeit zu effektiver Krisenbewältigung verantwortlich gemacht.
Gleichzeitig stellt die Exekutive Forderungen nach dem staatlichen Gewaltmonopol. Die Regierung hat beschlossen, das Waffenmonopol des Staates durchzusetzen und die Armee mit einem Plan zur Entwaffnung der Hisbollah zu beauftragen. Justizminister Adel Nassar betonte öffentlich, keine Partei dürfe dem Staat Bedingungen diktieren, und die Entscheidung zur Kontrolle der Waffenverbreitung sei endgültig. Doch der Beschluss allein trifft auf tiefe institutionelle Hürden: fehlende Umsetzungstermine, das Fehlen eines breiten politischen Konsenses und das Misstrauen zwischen Parlament, Regierung und bewaffneten Akteuren.
Die Bewaffnung der Hisbollah und ihre Bedingungen
Faktisch sind heute neben der Armee nur zwei Kräfte bewaffnet: die Hisbollah und palästinensische Flüchtlinge in den Lagern, die nach dem Massaker von Sabra und Schatila Waffen ausschließlich zur Selbstverteidigung behalten durften. Die Hisbollah hingegen verfügt über ein weit schwereres Arsenal als das libanesische Militär. Zugleich ist die Armee von schiitischen Offizieren und Soldaten dominiert, was Zweifel aufwirft, ob sie überhaupt gegen die Hisbollah vorgehen würde. Während die Regierung das staatliche Gewaltmonopol einfordert, lehnt die Hisbollah eine Entwaffnung nicht grundsätzlich ab. Sie macht jedoch unmissverständlich klar, dass dies nur dann geschehen könne, wenn die israelischen Angriffe beendet und die israelischen Truppen vollständig aus dem Süden des Libanon abgezogen sind. Religiöse Stimmen wie Mufti Ahmad Qabalan fordern in diesem Zusammenhang eine nationale, schützende Regierung und sehen Israel als existenzielle Bedrohung, die den Staat zu verteidigen habe.
Geht es nach dem Willen von Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde ohne jede demokratische Legitimität, sollen auch die palästinensischen Flüchtlinge ihre Waffen abgeben. Das hatte Abbas bei einem Treffen mit dem libanesischen Präsidenten Joseph Aoun vereinbart. Medienwirksam ist das Militär schon mehrmals vor den Flüchtlingslagern vorgefahren und Waffen wurden angeblich übergeben. Verschiedene Berichte aus dem Flüchtlingslagern besagen allerdings, dass bisher nur Abbas nahestehende Teile der Fatah Waffen abgegeben hätten. Alle anderen Gruppen von der Palästinensischen Volkbefreiungsfront (PFLP) bis hin zur Hamas würden dem allerdings nicht Folge leisten. Auch die Bewohner in den Flüchtlingslagern lehnen die Entwaffnung überwiegend ab.
Externe Einmischung als permanenter Störfaktor
Die innenpolitische Lage wird zusätzlich durch die Einmischung externer Akteure verschärft. Ein prominentes Beispiel sind Aussagen eines US-Senators, der die Entwaffnung der Hisbollah als nicht verhandelbar bezeichnete und ankündigte, Washington könne Israel ein „grünes Licht“ zum Eingreifen geben, falls die Bewegung ihre schweren Waffen nicht freiwillig abgebe. Solche Äußerungen erhöhen das Risiko einer militärischen Eskalation, zumal es seit dem Waffenstillstand vom 27. November 2024 nach Angaben der libanesischen Armee bereits mehrere tausend israelische Verstöße gegeben hat. In den letzten Tagen kam es zudem zu erneuten Luftangriffen mit Todesopfern im Süden. Viele libanesische Stimmen sehen genau diese Art der Einmischung als Teil des Problems. Sie fordern, internationale Unterstützung auf humanitäre und logistische Hilfe zu beschränken und jede Instrumentalisierung innerer Konflikte durch außenstehende Mächte zu unterbinden.
Auch die Reform des Wahlrechts ist ein umstrittener Punkt. Die Debatte, ob libanesische Auslandsbürgerinnen und Auslandsbürger künftig für alle 128 Sitze des Parlaments stimmen dürfen oder weiterhin nur für sechs, zeigt, wie stark das politische System von Machtkonkurrenzen geprägt ist. Kritikerinnen und Kritiker werfen Amal und Hisbollah vor, eine Erweiterung aus Angst zu blockieren, ihre Vorherrschaft in bestimmten Wahlkreisen könne geschwächt werden. Hisbollah und Amal ihrerseits äußern größere Reformvorschläge. Hassan Fadlallah, Abgeordneter der Hisbollah, hat am Sonntag vorgeschlagen, die konfessionellen Quoten für das Parlament abzuschaffen und die einen Senat einzurichten, doch deren Umsetzung würde eine tiefgreifende Neuordnung des politischen Systems erfordern. Parallel dazu laufen juristische Verfahren wie die Aufarbeitung der Hafenexplosion oder die Diskussion um syrische Gefangene, die zwar ein Bedürfnis nach Rechtsstaatlichkeit spiegeln, zugleich aber die Politisierung der Justiz offenlegen.
Die institutionelle Schwäche des Staates, die Existenz bewaffneter Akteure und die ständige externe Einflussnahme verknüpfen sich zu einem Teufelskreis. Jahrzehntelange konfessionelle Machtverteilung hat das Vertrauen in staatliche Institutionen erodieren lassen. Solange Teile der politischen Gesellschaft die Bewaffnung der Hisbollah als unverzichtbaren Schutz gegen äußere Angriffe betrachten, bleibt das Gewaltmonopol fragmentiert. Und solange ausländische Mächte offen mit Drohungen auftreten oder parteiische Unterstützung leisten, verschieben sie die innenpolitische Balance und erschweren innerstaatliche Lösungen.
Quelle: L’Orient today/L’Orient today/L’Orient today/L’Orient today