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Die Heiligen der österreichischen Staatsparteien

Leopold Figl und Karl Renner gelten mit als größte Staatsmänner des 20. Jahrhunderts – zumindest, wenn es nach der ÖVP bzw. SPÖ geht. Unrecht haben beide.

Der Dezember 2020 rückte mit historischen Jahrestagen jeweils eine politische Ikone der ÖVP und eine der SPÖ in den Fokus des Interesses: Leopold Figl (1902–1965) und Karl Renner (1870–1950). Der Sozialdemokrat Renner hat gleich drei Jubiläen vorzuweisen: 150. Geburtstag (14. Dezember), 70. Todestag (31. Dezember) und die Wahl zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik am 20. Dezember 1945. Leopold Figl wurde – eben von Renner – am selben Tag zum Bundeskanzler ernannt und bekleidete dieses Amt bis 1953. Beide Politiker haben eine wichtige Rolle in der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert gespielt, werden von ihren Parteien entsprechend verehrt, weisen aber auch fragwürdige Aspekte auf, um es euphemistisch zu formulieren.

Vom Konzentrationslager ins Schloss Belvedere

Figl blieb weniger als Kanzler im verklärten kollektiven Gedächtnis, sondern als Außenminister (1953–1959), denn in diese Amtszeit fallen die Unterzeichnung des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955, die Erklärung der immerwährenden Neutralität Österreichs am 26. Oktober desselben Jahres sowie der damit verbundene Abzug der vier Besatzungsmächte. „Österreich ist frei!“, triumphierte Figl damals im Wiener Belvedere, doch es waren freilich ÖVP und SPÖ (und natürlich VdU/FPÖ), die den zuerst von der KPÖ und der UdSSR vorgeschlagenen Neutralitätsstatus lange hintertrieben, ja bekämpft hatten. Auch gehört es in den Bereich der seltsamen patriotischen Mythen, dass Figl im Zuge der Verhandlungen Nikita Chruschtschow unter den Tisch gesoffen hätte, trotzdem ist das Resultat natürlich markant für die Überwindung der Nachkriegszeit. Insofern bemüht man sich seitens der ÖVP selbstredend um die maximale Glorifizierung Figls – und nun bekommt man auch noch Unterstützung durch einen alten Verbündeten: die katholische Kirche. Der St. Pöltner Diözesanbischof Alois Schwarz hat knapp vor Weihnachten angekündigt, dass die Einleitung eines Seligsprechungsverfahrens in Vorbereitung sei: Man sammle gerade Fakten und werde diese dem zuständigen Vatikan übermitteln. Nun wird Figl wohl keine Wunder gewirkt haben, die diesen Prozess vereinfachen würden, doch es genügt ja auch ein Martyrium im Gefolge des katholischen Glaubensbekenntnisses. Tatsächlich wurde Figl ab 1938 von den Nazis in verschiedene Konzentrationslager verschleppt und überlebte die schweren Misshandlungen nur mit erheblichen Gesundheitsschäden. Für die österreichische Bischofskonferenz und den Papst wird das reichen, für die ÖVP sowieso. Freilich betraf ein ähnliches Martyrium – bei vielen sogar ein weitaus schlimmeres – hunderttausende Österreicher und insbesondere 200.000 Juden, aber die sind ja weder ÖVP-Mitglieder noch Katholiken.

Karriere im Austrofaschismus

Hinzu kommt: Bevor Leopold Figl am 17. April 1945 im Schottenstift im von der Roten Armee befreiten Wien zu den Mitbegründern der (damals) neuen „Volkspartei“ wurde, hatte er eben schon eine politische Vorgeschichte, nämlich auch vor 1938: als Direktor des niederösterreichischen Bauernbundes der Christlichsozialen Partei (CSP), wo er von Engelbert Dollfuß protegiert wurde, als Führer der paramilitärischen „Niederösterreichischen Sturmscharen“ – einer Fusion der Ostmärkischen Sturmscharen und der Heimwehr –, wo er von Kurt Schuschnigg gefördert wurde und im Februar 1934 an der blutigen Niederschlagung des antifaschistischen Aufstandsversuches beteiligt war. Im faschistischen Ständestaat war Figl Mitglied des „Bundeswirtschaftsrats“ sowie ab 1937 Obmann des Reichsbauernbundes. Figl war also 1933–1938 als hochrangiger austrofaschistischer Funktionär und Amtsträger ein willfähriger Kumpan der beiden Diktatoren Dollfuß und Schuschnigg. Aber immerhin – und dies hält man ihm zugute: Er war ja kein Nazi, sondern deren aufrichtiger Konkurrenzfaschist – das ist der ganz eigene, kleine Opfermythos der ÖVP, ihrer Vorläuferparteien CSP und der faschistischen Vaterländischen Front sowie, selbstredend, der katholischen Kirche, die das klerikalfaschistische Regime 1933/34–1938 nicht unmaßgeblich stützte. So werden in Österreich Helden – und Seligsprechungen – gemacht.

Kanzler der historischen Knotenpunkte

Karl Renner hat eine ganz andere Geschichte. Selbst zwar kein Säulenheiliger, so bemüht(e) sich die SPÖ, ihren vermeintlichen Vorzeigestaatsmann auf ein heroisches Podest zu stellen. Renner bekleidete zweimal das Amt des Staatskanzlers an Knotenpunkten der österreichischen Geschichte, 1918 bis 1920, nach dem Ende der Monarchie und der Schaffung der demokratischen Republik, sowie 1945 als Führer der Provisorischen Regierung am Ende des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Das darf man schon würdigen, wenn man ein Freund der bürgerlichen Ordnung ist, denn eines war Renner nun mal nicht, nämlich ein Sozialist im Wortsinn, wie man es Otto Bauer und anderen trotz theoretischer und strategischer Defizite schon attestieren kann. Renner hat somit zweimal in Komplizenschaft mit der CSP/ÖVP das österreichische Kapital vor einer revolutionären Umwälzung gerettet, zunächst gegen das durch und durch revolutionierte Proletariat und die Rätebewegung, die 1918 eine sozialistische Republik forderten, später im Gefolge der Niederschlagung des Faschismus und des völligen Bankrotts des Kapitalismus, als sich die SPÖ lieber bedingungslos an Herrn Figl und die anderen ehemaligen Austrofaschisten band, anstatt gemeinsam mit der KPÖ einen volksdemokratischen Weg zu suchen. Der sozialdemokratischen Führung waren der gegenrevolutionäre Antisozialismus und Antimarxismus eben spätestens seit der Jahrhundertwende 1900 – Renner war schon dabei – de facto immer wichtiger als die ernsthafte Befreiung der Arbeiterklasse. Und so ist die Geschichte der SDAP eben jene eines gescheiterten Reformismus und jene der SPÖ schlussendlich die eines bürgerlich-kapitalistischen Konterreformismus. Allerdings war Renner auch dazwischen nicht untätig.

Verkörperung des Opportunismus

Neben dem Wiener Bürgermeister Seitz war Renner in der Ersten Republik sicherlich eine der markantesten Figuren der in weiterer Folge oppositionellen Sozialdemokratie, in der er sich wohl am rechten Rand befand, der jedoch die eigentliche Hegemonie ausübte. Der „Austromarxismus“, ohnedies ein Irrweg, war hauptsächlich phraseologische Staffage. In diese Zeit fallen heftige Auseinandersetzungen mit den Christlichsozialen und der Heimwehrbewegung, in denen auch Renner nicht zimperlich war. Manche ÖVP-nahe Historiker bemühen sich sogar, Renner als Antisemiten darzustellen und als sozialdemokratisches Gegenstück zu Lueger zu inszenieren. Aber das ist freilich ein Ablenkungsmanöver und beruht auf einem aus jedem Zusammenhang gerissenen Zitatesteinbruch. Das weiterführende Problem an Renners politischer Position ist vielmehr jenes, dass er vor allem eines war: ein Opportunist. Er konnte (oder wollte) sich mit allen arrangieren, wenn er nur selbst in Amt und Würden käme, mit dem Kaiser, mit den Kriegstreibern, mit der Bourgeoisie, aber auch mit einer zurechtgestutzten Rätebewegung sowie schlussendlich mit Stalin. 1938 ließ er sich sogar von den Nazis instrumentalisieren: Ganz im Sinne der deutschnationalen Ausrichtung, die allerdings weder bei der Sozialdemokratie noch bei den Christlichsozialen oder den Austrofaschisten ungewöhnlich war, rief er damals bei der „Abstimmung“ über den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich öffentlich zu einem „Ja“ auf – nicht, weil er mit den Nazis sympathisierte, sondern weil er die Österreicher eben als Teil des deutschen Volkes ansah. Zu diesem Zeitpunkt hatte lediglich die KPÖ eine andere Position, doch Renner hat zweifellos eine gute Gelegenheit verpasst, die Schnauze zu halten. Doch immerhin durfte Renner sodann die Zeit bis 1945 unbeschadet in seinem Haus in Gloggnitz verbringen und auf die Befreiung durch die Rote Armee warten, um sich dann der UdSSR anzudienen – zumindest zum Schein, denn auch da blieb Renner ein Verfechter der bürgerlichen und antisozialistischen Ordnung an der Seite der Westmächte, im Rahmen des österreichischen Opfermythos und der Aussöhnung mit den ehemaligen Nazis: Der Feind stand weiterhin, trotz manch skurril anmutender prosowjetischer Bonmots, im Osten.

Und so erhält unterm Strich jede politische Partei diejenigen historischen Galionsfiguren, die sie verdient: Die ÖVP einen („minderbelasteten“) Austrofaschisten, den man bald katholisch verbürgt anbeten kann; die SPÖ einen hemmungslosen Opportunisten und Antisozialisten, der die Sozialdemokratie bewusst dorthin gebracht hat, wo sie steht – auf der falschen Seite der revolutionären Barrikaden. Passt schon.

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