Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
1965 haben sich sieben katholischen Theologen aus Europa zusammengefunden, um gemeinsam eine internationale Zeitschrift für Theologie herauszugeben. Mit ihrem Namen „Concilium“ will diese Zeitschrift den vom II. Vatikanische Konzil (1962–1965) inspirierten Aufbruch der Katholischen Kirche zu den Wurzeln des Christentums wissenschaftlich begleiten und begründen. Seit Anbeginn ist das Concilium immer wieder bemüht, die christliche Botschaft von dem gesellschaftlichen Ort der beherrschten Klasse aus zu vermitteln.[1] Heft 3 dieses Jahres von Concilium[2] hat als Schwerpunkt: „Gefängnis. Soziale und theologische Aspekte“ und mit seinen Artikeln weit über das hinaus, was der im intellektuellen Milieu öfters zitierte französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) in seinem Buch zu den Strafstrukturen seit Mitte des 19. Jahrhunderts „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ erörtert hat.
Für den katholischen, als Antirassisten unmittelbar an der US-Front kämpfenden Sozialethiker Alex Mikulich (*1960) aus Norfolk (Virginia) ist in seinem Artikel „Gefängnisse als Krieg. Auf dem Weg zu einer politischen Theologie der revolutionären Abschaffung“[3] das Geschehen um einen am 9. September 1971 im Staatsgefängnis Attica ausgebrochenen Streik gegen unmenschliche Haftbedingungen auch ein Aufschrei für die Selbstbestimmung des schwarzen Volkes und für die Befreiung von Unterdrückung durch die von Weißen dominierte Klassenherrschaft. Inhaltlich entsprechen die Forderung der schwarzen Gefängnisinsassen in Attica dem Programm der Black-Panther Partei vom Oktober 1966, dessen erster Punkt lautet: „Wir fordern Freiheit. Wir fordern die Macht, das Schicksal unseres Volkes selbst zu bestimmen. Wir denken, dass das schwarze Volk erst frei sein wird, wenn wir unsere Zukunft selbst bestimmen können“.[4] Auf Anordnung des New Yorker Gouverneurs und Milliardärs Nelson Rockefeller (1908–1979) wurde dieser Weckruf im Gefängnis Attica im Einvernehmen mit Präsident Richard M. Nixon (1913–1994) nach vier Tagen am 13. September von den eingesetzten Nationalgardisten mit einem Massaker an den Widerstand leistenden Gefängnisinsassen beendet.[5] Die westlichen Medien haben diese Vorkommnisse als isolierte Sensation verkauft und von den Hintergründen bewusst weggeschaut. Nicht so der journalistische tätige Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik Klaus Steiniger (1932–2016)[6], der Attica als „Schande und Fluch über ein System moderner Barbarei“ kommentierte und den Konnex mit dem gegen die 26jährige schwarze revolutionäre Angela Davis (*1944) mobilisierten Lynchklima herstellte.[7] Über diese mutige kommunistische Befreiungskämpferin, die in der Gaskammer von St. Quentin in dem von Ronald Reagan (1911–2004) als Gouverneur befehligten Bundesstaat Kalifornien ermordet werden sollte, hat Klaus Steiniger ein von Angela Davis selbst als „wertvollen Beitrag zur Humanität und Solidarität“ einbegleitetes Buch veröffentlicht.[8] Hinrichtungen von zum Tode Verurteilten in Gaskammern hat das US-Justizsystem seit den 1920er Jahren bis 1999 (!) praktiziert.[9] Giftgas zur massenhaften Tötung von Menschen hat erstmals die deutsche Kriegsführung im ersten Weltkrieg 1915 eingesetzt.
Für Angela Davis und Klaus Steiniger war das US-Gefängnis Attica eines von vielen US-Gefängnissen, gegen deren Insassen die herrschende Klasse einen mörderischen Krieg führte. Alex Mikulich spricht von den Todeswelten des US-kapitalistischen und kolonialen Rassismus, der in den Bundesstaaten statt in die soziale Wohlfahrt in die mit Sturmgewehren ausgerüsteten Nationalgarden, Polizei und Gefängnisse investiert. „Die Abhängigkeit der kapitalistischen US-Gesellschaft zeigt“, so Mikulich, „dass das System weder der Rehabilitation dient noch die Gesellschaft sicherer macht“.[10] Ihm sind die im Heute nicht nur in den USA praktizierten Strategien der Gefangennahme und des Einsperrens die absichtliche Praktizierung von Todeswelten: „Unsere Arrest-Gesellschaft opfert das Leben von Schwarzen, Working Poor, indigenen und muslimischen Menschen auf dem Altar des US-Imperialismus, der Kolonialität und der Kapitalakkumulation“. Die Fetischisierung des Weißseins, der Kapitalakkumulation und der polizeilichen und militärischen Vorherrschaft sind ihm „die götzendienerische Heiligung unserer gesamten Lebensweise“.[11] Alex Mikulich erinnert „im Geiste der langen Attica-Revolte“ an den historischen, von den Pharisäern der römischen Herrschaft zur Hinrichtung ausgelieferten von Jesus von Nazareth (+30/31 n. u. Z.), der dazu aufgerufen hat, Gefangene freizulassen[12] und die Tische der Geldwechsler umzustoßen.[13]
Im selben Juli-Heft von Concilium finden sich einige Artikel, die mit Blick auf die Vergangenheit Grundsätzliches zur Gegenwart aussagen. Der salvadorianische Jesuit Rodolfo Cardenal SJ (*1950) analysiert das von den USA gestützte System von Nayib Bukele (*1981) in El Salvador, wo „Masseneinkerkerungen“ die dort sich infolge der terroristischen Ausbeutung des Volkes zusammengefundenen Banden bekämpfen sollen. Das dafür verwendete „Modell Bukele“ ist mit dem „Modell des deutschen Hitlerfaschismus“ ident. Es gibt Gefängnisse mit akzeptablen Bedingungen, welche der Öffentlichkeit und freundlichen ausländischen Besuchern vorgeführt werden. „In den anderen Gefängnissen“, so Cardenal SJ, „in denen meist ‚normale‘ Gefangene inhaftiert sind, sind sie systematischen Verletzungen ihrer Rechte ausgesetzt. Das ‚Notstandsregime‘ verweigert ihnen Nahrung, Wasser, die notendige medizinische Versorgung und den Kontakt zu ihren Familien. […] Die Behandlung ist grausam und unmenschlich und umfasst Überbelegung, lange Einzelhaft, Schläge, Elektroschocks, Vergewaltigung und verschiedene Formen von Folge. […] Minderjährige werden ab dem Alter von zwölf Jahren inhaftiert und mit Erwachsenenstrafen belegt“. Für Rodolfo Cardenal SJ ist das System des Präsidenten von El Salvador Nayib Bukele „eine neue Inkarnation des Bösen. Ein Böses, das sich wie üblich, im Gewand des Guten präsentiert. Das Modell vernichtet gnadenlos und unbarmherzig das Leben derer, die es als Kriminelle abstempelt, ob sie nun kriminell sind oder nicht“. Der Artikel von Rodolfo Cardenal SJ ist ein Aufschrei um globale Solidarität mit dem Volk in El Salvador. Dennoch, der Artikel versäumt leider, jene materialistischen Analysen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, mit denen die in El Salvador tätig gewesenen und im Auftrag der USA am 16. November 1989 ermordeten, an der Universidad Centroamerica (UCA) wirkenden Befreiungstheologen Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989), Segundo Montes SJ (1933–1989), Ignacio Martín Baró SJ (1942–1989), Amando López y López SJ (1918–1989) für die Praxis des möglichen Widerstandes des „gekreuzigten Volkes“ aktiv tätig gewesen sind.[14]
Dieses Concilium-Heft vom Juli d. J. ist reichhaltig und gibt Christen und Marxisten zum Nach-Denken über die Gegenwart der globalen Gefängniswelten Anstoß. Der afrikanische Beiträger Wilfried Okambawa SJ (*1961) resümiert in seiner Exegese über die Gefängnisse im Neuen Testament: „Denn eine Gesellschaft mit vielen Gefängnissen ist eine Gesellschaft im Gefängnis“.[15]
[1] Ignacio Ellacuría: Eine Kirche der Armen. Für ein prophetisches Christentum. Herder Verlag Freiburg / Basel / Wien 2011, S. 220.
[2] 61. Jahrgang, Heft 3, Juli 2025.
[3] Wie A. 2, 255–261
[4] Hermann Klenner: Marxismus und Menschenrechte. Studien zur Rechtsphilosophie. Anhang: Menschenrechtskataloge aus Vergangenheit und Gegenwart. Akademie Verlag Berlin 1982, USA. Programm der Black-Panther Partei vom Oktober 1966, S. 224–226, S. 224.
[5] Attica Correctional Facility – Wikipedia
[6] Zum Tod von Klaus Steiniger
[7] Neues Deutschland vom 17. September 1971 (Artikel Was geschah in Attica?).
[8] Klaus Steiniger: Angela Davis. Eine Frau schreibt Geschichte. Verlag Neues Leben, Berlin 2010; derselbe: Angela Davis wird 70. RotFuchs 192 vom Januar 2014.
[9] Jonathan J. Moore: Die Geschichte der Hinrichtung. Gehängt – Geköpft – Gevierteilt. Librero 2025, S. 194–213.
[10] Wie A. 2, S. 256 f.
[11] Wie A. 2, S. 257.
[12] Lukas 4 / 18: „Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH Stuttgart, 12. A. 2015, S. 1148.
[13] Matthäus 21 / 12: „Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und sagte: In der Schrift steht: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein. Ihr aber macht daraus eine Räuberhöhle“. Die Bibel, S. 1102.
[14] Vgl. z. B. Jon Sobrino SJ: Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador: Fakten und Überlegungen. Mit einem Hintergrundbericht von Roger Peltzer. Edition Exodus. Fribourg / Brig 1990. Mit den sechs Jesuiten wurden auch die beiden im Kollegium anwesenden Frauen Elba Julia Ramos (1947–1989) und Celina Marisela Ramos (1974–1989) getötet
[15] Wie A. 2, S. 279–284.