Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Übersiedlung aus Przemyśl nach Wien
In den Nationalien für ordentliche Hörer der philosophischen Fakultät der Universität Wien[1] findet sich für das Sommersemester 1923 das zu den gedruckten Rubriken eigenhändig ausgefüllte Formular:
Name des Studierenden: Jaroslav Galan
Staatsbürgerschaft: Ost-Galizien
Heimatszuständigkeit (Ort und Land): Przemyśl in Ost-Galizien
Geburtsort und Land: Dynow in Galizien
Muttersprache, Alter: ukrainische, 21
Religion, welchen Ritus oder Konfession: griech.-katholisch
Wohnungsadresse des Studierenden: XVIII. Semperstr. 43/12
Name, Stand und Wohnort seines Vaters: Alexander, der Staatsbeamter in Przemyśl
Bezeichnung der Lehranstalt, an welcher der Studierende das letzte Semester zugebracht: Gymnasium
Anführung der Grundlage, auf welcher der Studierende die
Immatrikulation oder Inskription anspricht: Reifezeugnis
Eigenhändige Unterschrift: JlGalan.
Die kleine ostgalizische Stadt Przemyśl an der San, in der Jaroslav Galan aufgewachsen ist und das Gymnasium besucht hat, ist österreichischen Alt-Historikern, zumal wenn sie aus Tirol kommen, dem Namen nach bekannt, weil im ersten Weltkrieg im Juni 1915 „die Russen“ diese Stadt, die „sie schon des Namens wegen unbedingt halten wollten“, nach opferreichen Kämpfen aufgeben hatten müssen. Das meint der Tiroler Historiker Franz Huter (1899–1997), der als Jugendlicher als Tiroler Kaiserjäger an der Dolomitenfront gegen die Italiener gekämpft hat und über den Einsatz von Tiroler Kaiserjägerregimentern im Osten als „Avantgarde hinein nach Rußland“ spricht.[2]
Über Jaroslav Oleksandrowytsch Galan / Halan (geb. in Dynów, Österreich-Ungarn, 27. Juli 1902 – getötet in Lwiw, Ukrainische Sowjetrepublik, 24. Oktober 1949)[3] gäbe es in einer umfangreichen Biografie viel zu schreiben. Als Fünfzehnjähriger hat er die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Russland erlebt und wollte sich an diesem am Horizont sich abzeichnenden Aufbruch der Menschheit in eine friedliche, von Unterdrückung und Ausbeutung freien Welt aktiv beteiligen. Vom Sommersemester 1923 an war Jaroslav Galan sechs Semester bis einschließlich Sommersemester 1926 an der Wiener Universität inskribiert. Als erste Wohnadresse nach seiner Ankunft in Wien ist in den amtlichen Meldezetteln für Unterparteien mit 1. Jänner 1923 die Nordbahnstraße 24/12 (II. Bezirk) ausgewiesen, seine letzte vor der definitiven Abreise aus Wien in der Flotowgasse 16 (19. Bezirk). Ab seinem 2. Semester musste Jaroslav Galan im Meldeamt wie an der Universität für seine Staatsbürgerschaft mit Pass die „polnische“ nachweisen.[4] Die Westukraine war im Frieden von Riga (1921) an Polen gefallen.
Zu Beginn seines Universitätsstudiums in Wien konzentrierte sich Jaroslav Galan auf russische Geschichte und Musikwissenschaft, welche er mit Vorlesungen aus österreichischer Geschichte und Philosophie ergänzte. Ein möglichst rascher Studienabschluss scheint nicht im Vordergrund gestanden zu sein. Für Hans Uebersberger (1877–1962), bei dem Jaroslav Galan viel über Staat, Geschichte und Kirchen („Staatskirche und Sekten“) von Russland hörte, war dieses wegen seiner Unterstützung von Serbien schuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges. Uebersberger galt als einflussreicher Berater des k. u k. österreichisch-ungarischen Außenministeriums und betätigte sich an der Universität aktiv als Antisemit und früher Parteigänger von Adolf Hitler (1889–1945).[5] 1935 wurde er wie sein Wiener Nazikamerad Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944), der einer der führenden nationalsozialistischen Strafrechtstheoretiker war, an die Universität der Reichshauptstadt Berlin berufen.[6] Beim Slawisten Nikolaj S. Trubetzkoy (1890–1938) besuchte Jaroslav Galan ein Seminar über russische Volksdichtung. Nach der Machtergreifung des Hitlerfaschismus wurde Trubetzkoy wegen seiner antirassistischen Position verfolgt. Beim jüdischen Historiker der Habsburgerdynastie Alfred Francis Přibram (1859–1942) besuchte Jaroslav Galan eine Vorlesung über das „Zeitalter der französischen Revolution und des Napoleonischen Kaiserreichs“, bei Moritz Schlick (1882–1936) und Richard Meister (1881–1964) ergänzende Lehrveranstaltungen. Aus Passion wird er im ersten Semester die Einführungen in die Harmonielehre und die Musik des 20. Jahrhunderts der jüdischen Vortragenden Hans Gál (1890–1987) und Egon Joseph Wellesz (1885–1974) besucht haben. Die Spannungen zwischen den Lehrenden und Studierenden an der Wiener Universität waren für das intellektuelle Wachstum von Jaroslav Galan förderlich.
Als Kommunist aktiv
Mit Wintersemester 1926/27 soll Jaroslav Galan an die Jagiellonen-Universität Krakau übersiedelt sein, in den dortigen Registern kommt sein Name laut Auskunft des Archivs allerdings nicht vor.[7] Er hat sich für die sein ganzes weiteres Leben bestimmende revolutionäre Tätigkeit innert der Kommunistischen Partei der Ukraine entschieden. Diesen Weg hat sich ihm in Wien geöffnet, wo er in der ukrainischen Sektion der Kommunistischen Partei Österreichs erste Erfahrungen als Internationalist gesammelt hat. Am 31. März 1923 hat diese Sektion eine von der Polizei aufgelöste Protestversammlung gegen die Auslieferung von Ostgalizien (Westukraine) an Polen abgehalten.[8] Nach seinem Fortgang aus Wien stellte die Partei Jaroslav Galan ein „Führungszeugnis“ aus: „… 23 Jahre alt, ukrainischer Student, ehemaliges Mitglied der Sektion der Kommunistischen Partei Österreichs, seit Anfang 1925 Sekretär der Abteilung für die Parteiarbeit auf dem Lande und einer Zelle der akademischen Jugend. Ehrlich und treu …“.[9]
Jaroslav Galan hat in seiner Wiener Studentenzeit den deutschen und österreichischen antirussischen und antisemitischen Rassismus unmittelbar erlebt. Der Name seines 1924 zum Doktor der Rechte an der Universität Wien promovierten Kommilitonen Otto Wächter (1901–1949) wird ihm erst später begegnet sein, als dieser eine aus antirussischen ukrainischen Freiwilligen rekrutierte Einheit der SS in der Ukraine als Gouverneur des Distrikts Krakau (1941–1944) bei ihren mörderischen Verbrechen befehligte.[10] Dessen in Wien und an deren Universität verankertes, vom Großbürgertum unterstütztes Umfeld hat Jaroslav Galan als Student kennengelernt, wie er in seinen Erinnerungen als Berichterstatter der Zeitung „Sowjetische Ukraine“ über die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg schreibt. Diese Erinnerungen sind 1975 unter dem Titel „Nürnberg 1945. Pamphlete“ im Verlag Dnipro in Kiew 1975 in deutscher Sprache veröffentlicht. Gleich zu Beginn ist zu lesen:
„Bereits vor vierundzwanzig Jahren machte ich mit dem Faschismus ‚Bekanntschaft‘, und zwar in der Wiener Universitätsbibliothek. Die feierliche Ruhe, die gewöhnlich in dieser Bibliothek herrscht, wurde plötzlich durch ein Getöse gestört, das dem Hufschlag einer Herde gut gefütterter bayerischer Hengste glich. Ohne die Mützen abzunehmen, stürmte eine Rotte junger Burschen mit dicken Knüppeln in den Lesesaal. Diese Knüppel sprachen eine unmissverständliche Sprache; sie waren das Symbol, waren Emblem, Farbe und die Waffe der ersten österreichischen Hitlerjünger – der Studenten vom Institut für Agronomie, die zum größten Teil aus Gutsbesitzerfamilien stammten. Der Anführer der Rotte, ein rothaariger langer Schlaks mit einem Kneifer auf der Stupsnase, rief mit hoher, sich überschlagender Fistelstimme: ‚Alle Juden ‚raus!‘ Binnen kurzem leerte sich der Lesesaal – fast alle Anwesenden verließen aus Protest gegen diese unflätige Entweihung der ‚Alma mater‘ den Saal. Dies wunderte jedoch die künftigen SS-Leute nicht im geringsten. Bleich vor blindwütigem Hass standen sie zu beiden Seiten des Ausgangs. ‚Schlagt zu!‘ rief jemand, und mehrere Dutzend Knüppel sausten durch die Luft. Die wütenden Burschen verschonten niemanden. Die Köpfe blutüberströmt, hasteten die Männer und Frauen unter wieherndem Gelächter, Gepfeif und Geheul der zweibeinigen Bestien die Marmortreppe hinab. Als das letzte Opfer mit dem Kopf auf das Treppengeländer aufschlug, traten die Bestien in Viererreihen an und marschierten wie Soldaten zur Universität. Der Schlaks mit der Fistelstimme stimmte ‚Die Wacht am Rhein‘ an, und die Rotte fiel brüllend ein. Diese ‚Wacht am Rhein‘ werde ich nie vergessen“.[11]
Umschreibung der ukrainischen Geschichte
Die Ukraine sollte für die Profiteure des deutschen Imperialismus künftiger Lebensraum werden. Der polnische Journalist Kazimierz Moczarski (1907–1975), Offizier der Armia Krajowa (Heimatarmee) im Widerstand gegen die Besatzung der Hitlerwehrmacht, hat Gespräche mit dem inhaftierten SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Jürgen Stroop (1895–1952), der die Auslöschung des Warschauer Ghettos befehligt hat, vor dessen Hinrichtung geführt. „Sie wissen ja gar nicht wie wunderbar es dort in der Ukraine ist!“, so spricht der Häftling Stroop zu seinem Besucher Moczarski und fährt fort: „Eine Humusschicht von ein Meter achtzig, fruchtbar ohnegleichen. Ein reiches Land. Stellen Sie sich vor, wie das ausgesehen hätte, wenn der Krieg für uns siegreich ausgegangen wäre: ein heiterer Sommerabend, mein Hof im Lichterglanz …“.[12]
Während des Krieges von 1941 bis 1945 hat Jaroslav Galan über den nach dem revolutionären ukrainischen Demokraten Taras Ševtčenko (1814–1861) benannten Rundfunksender seine Stimme für die Sowjetukraine erhoben und zum Sieg der Sowjetarmee über die deutsche Wehrmacht mit beigetragen. Für Ševtčenko (Schewtschenko) waren im 19. Jahrhundert über die Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie hinaus durch die mit Übersetzungen und Nachdichtungen begleiteten biografischen Erzählungen über ihn durch den einige Jahre (1869–1873) als Lehrer in der damaligen Hauptstadt der habsburgischen Bukowina Czernowitz tätigen, aus Tirol stammenden Lyriker Johann Georg Obrist (1843–1901) in fortschrittlichen intellektuellen Kreisen Sympathie und Interesse geweckt worden.[13]
Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik war eines der Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen und war dort für die Festigung des Weltfriedens tätig. Der aus Österreich kommende Generalsekretär Kurt Waldheim (1918–2007) hat zu ihrem sechzigsten Jahrestag seine Glückwünsche ausgesprochen und versichert, „dass die Organisation der Vereinten Nationen ihrerseits auch weiterhin nach Weltfrieden und internationaler Zusammenarbeit streben wird“.[14]
Am 24. Oktober 1949 wurde Jaroslav Galan wegen seiner internationalistischen Gesinnung in seinem Büro in Lwiw (Lemberg) von ukrainischen Nationalisten ermordet. Für seinen Kampf um Gerechtigkeit für alle Menschen hat Jaroslav Galan wie so viele seiner Genossinnen und Genossen einen hohen Preis gezahlt. In der Sprache der christlichen Tradition kann er als Märtyrer bezeichnet werden. Das für ihn 1972 errichtete Denkmal in Lwiw wurde nach dem Zusammenbruch der friedliebenden Sowjetukraine von den zur Herrschaft gelangten ukrainischen Nationalisten zerstört.[15] Das Gedenken an den ukrainischen revolutionären Schriftsteller und Märtyrer Jaroslav Galan wird in die Vergessenheit gedrängt. In dem in Wiener Buchhandlungen als Standardwerk für die Geschichte der Ukraine angebotenen Werk des römisch-katholischen Theologen an der ukrainisch-katholischen Universität in Lwiw Yaroslav Hrytsak (*1960) kommt der Name von Jaroslav Galan nicht vor, wogegen der faschistische Kriegsherr der Ukraine Wolodymyr Selenskyj (*1978) gehuldigt wird.[16] Der zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählte Hrytsak bestätigt mit seiner Haltung die von Jaroslav Galan treffende Kennzeichnung der reaktionären Geistlichkeit der bürgerlichen ukrainischen Nationalisten „als Söldlinge der internationalen Reaktion und des Faschismus“.[17]
[1] Für frdl. Bereitstellung dem Team des Universitätsarchiv Wien herzlichen Dank!
[2] Franz Huter: Ein Kaiserjägerbuch. I. Teil. Die Kaiserjäger und ihre Waffentaten 1816–1918. Mit 8 Kartenskizzen, 8 Farb- und 64 Schwarz-Weiß-Bildern. Im Selbstverlag des Bergisel Museums. Erster Neudruck, 1988, S.39 f. (Kapitel „Bei der Befreiung Galiziens“ und „As Avantgarde hinein nach Rußland“). Vgl. Gerhard Oberkofler: Franz Huter. Soldat und Historiker Tirols. Im Gedenken an Arnold Reisberg (1904–1980). StudienVerlag Innsbruck 1999.
[3] Jaroslav Halan – Wikipedia; Halan, Yaroslav
[4] Landesarchiv Wien, Historisches Meldeamt
[5] Vgl. Klaus Taschwer: Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Czernin Verlag Wien 2015; Andreas Huber, Linda Erker und Klaus Taschwer: Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg. Czernin Verlag Wien 2020.
[6] Zu diesen Nazikarrieren vgl. Eduard Rabofsky / Gerhard Oberkofler: Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege. Europaverlag Wien / München / Zürich 1985.
[7] Wie A. 2; Paweł Gaszyński, Starszy kustosz archiwalny, Archiwum UJ.
[8] Archivnotizen von Arnold Reisberg (1904–1980). Privatarchiv
[9] Zitiert von Roman Ljubkiwski in: Jaroslav Galan. Was man nicht vergessen darf. APN Verlag Moskau 1975, S. 6.
[11] Jaroslav Halan: Nürnberg 1945. Pamphlete. Verlag Dnipro Kiew 1975, S. 4 f.
[12] Kazimierz Moczarski: Gespräche mit dem Henker. Verlag der Nation Berlin 1981, S. 146.
[13] Vgl. Eduard Winter und Günther Jarosch (Hg.): Der revolutionäre Demokrat Taras Ševčenko 1814–1861. Beiträge zum Wirken des ukrainischen Dichters und Denkers sowie zur Rezeption seines Werkes im deutschen und im westslawischen Sprachgebiet. Akademie Verlag Berlin 1976. Zu Obrist dort bes. M. Zymomrja: Die Rezeption Taras Ševčenkos im deutschen Sprachgebiet bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, S. 115–167; über Obrist Artikel in ÖBL 7 (1978), S. 200 (G. Weiß).
[14] Die Ukraine auf dem Wege des Oktober. Materialien der Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Ausrufung der Sowjetmacht in der Ukraine und der Gründung der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Kiew. Verlag für Politische Literatur der Ukraine 1978
[15] Pl. Petruschewitscha – Denkmal für Jaroslav Halan (existiert nicht) | Lwiw Interaktiv
[16] Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation. C. H. Beck München 2024. Z. B. S. 449: „In Selenskyis Wahl kann man eine Fortsetzung der Jugendrevolution sehen“; mit schweizerischem Blick, also lesbar geschrieben ist die „Kleine Geschichte der Ukraine“ von Andreas Kappeler. C. H. Beck< München 9. A. 2024 (auch hier kommt der Name von Jaroslav Galan nicht vor).
[17] Wie A. 9, S. 7.