Damaskus. In einer Weltordnung, in der Machtpolitik und geopolitische Interessen mehr zählen als Völkerrecht und Menschenrecht, offenbart sich am Beispiel Syriens einmal mehr die perverse Allianz von Imperialismus, Kolonialismus und Islamismus. Israel dringt immer tiefer ins Nachbarland Syrien ein – militärisch, infrastrukturell und politisch. Mit neuen Stützpunkten, zerstörten Verbindungsstraßen und großangelegten Militäroperationen in Regionen wie Yaafour, Saysoun und Kuneitra schreitet die De-facto-Annexion syrischen Territoriums ungehindert voran. Der jüngste israelische Stützpunkt auf dem Al-Ahmar-Hügel ist dabei nur das sichtbarste Zeichen eines schleichenden Prozesses der faktischen Landnahme.
Statt auf diplomatischem Wege Widerstand zu leisten oder internationale Unterstützung zu mobilisieren, zeigt sich die in Damaskus herrschende, demokratisch nicht legitimierte HTS-Regierung unter Abu Mohammed Al-Dscholani gegenüber Tel Aviv erstaunlich kooperationsbereit. Ausgerechnet jener Mann, der einst als Anführer der Al-Qaida-assoziierten Nusra-Front Syriens Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte, verhandelt heute mit Israel über ein „Normalisierungsabkommen“. Laut Aussagen des israelischen Sicherheitsberaters Zachi Hanegbi bestehen sogar tägliche Direktkontakte mit syrischen Beamten – eine ungeheuerliche Offenbarung vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Widerstandsrhetorik gegen die Besatzung der Golanhöhen.
Die Preisgabe genau dieser Golanhöhen, die Israel 1967 militärisch besetzte und später völkerrechtswidrig annektierte, scheint nun auch seitens der HTS-Führung kein Tabu mehr zu sein. Damit zerfällt eine der letzten roten Linien, die noch an die Souveränität eines Landes erinnerten, das seit über einem Jahrzehnt Ziel internationaler Destabilisierungsstrategien ist. Die imperialistische Kriegspolitik des Westens – einst in moralische Phrasen vom „Kampf gegen den Terror“ gehüllt – zeigt nun ihr wahres Gesicht: Unterstützung für dschihadistische Kräfte, Besatzung strategischer Landesteile und eine politische Rekonstruktion Syriens im Interesse fremder Mächte.
Dass dabei genau jene Kräfte wieder salonfähig werden, die einst als „Kopfabschneiderbanden“ gejagt wurden, ist kein Zufall, sondern Ausdruck geopolitischer Nützlichkeit. Die HTS wird heute nicht mehr bekämpft, sondern hofiert – sowohl von den USA, die im Nordosten des Landes Erdöl und Weizen plündern, als auch von Großbritannien, das diplomatische Beziehungen zur neuen Regierung aufnimmt. Auch die Türkei sichert seit Jahren ihre Einflusszone im Nordwesten, unterstützt durch dschihadistische Milizen, die in die regulären Sicherheitskräfte integriert wurden.
Gleichzeitig unterstützt Washington laut Berichten nun die Aufnahme tausender radikaler Söldner in die neue syrische Armee – darunter viele ausländische Kämpfer, insbesondere aus China und Zentralasien. Die Turkistan Islamic Party, eine uigurische Dschihadistengruppe, hat in Idlib bereits christliche und andere Minderheiten vertrieben und sich deren Besitz angeeignet. Ihre Anführer bekleiden heute Spitzenpositionen im neuen syrischen Verteidigungsministerium – ausgestattet mit syrischer Staatsbürgerschaft und internationalem Rückhalt.
Syrien ist damit zum Modellfall eines zerschlagenen, aufgeteilten und kolonial verwalteten Staates geworden, dessen Zukunft nicht mehr von der Bevölkerung selbst, sondern in den Hinterzimmern internationaler Machtzentren entschieden wird. Während die imperiale Ordnung sich ihre neuen Verbündeten unter alten Feinden sucht, wird die territoriale Integrität eines Landes Schritt für Schritt zersetzt.
Diese Entwicklung ist eine Mahnung an alle unterdrückten und ausgeplünderten Völker dieser Welt: Wer auf imperialistische Gnade hofft, wird koloniale Ketten ernten.
Quelle: junge Welt