HomeInternationalesIsraels Regierungskoalition verschluckt sich am Matzebrot

Israels Regierungskoalition verschluckt sich am Matzebrot

Die israelische Regierung hat ihre Mehrheit im Parlament verloren. Sie kann zwar im Amt bleiben, aber eigenständig keine Gesetze mehr beschließen. Schuld ist das kommende Pessachfest.

Tel Aviv. Dass die seit Juni 2021 amtierende Regierung Israels nicht gerade die stabilste Koalition sein würde, war vorhersehbar, denn es ist ein reines Zweckbündnis – und der Zweck bestand in der Ablösung des seit 2009 regierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Dies gelang durch das Zusammenwirken einer recht bunten Gruppe: Beteiligt sind die liberale Partei „Jesch Atid“ von Außenminister Jair Lapid, die rechtskonservative „Jamina“ von Ministerpräsident Naftali Bennett, das säkular-nationalistische „Israel Beitenu“ von Finanzminister Lieberman, die Reste des „Blau-Weiß“-Bündnisses von Verteidigungsminister Gantz, die konservative „Neue Hoffnung“, die beiden sozialdemokratischen Parteien „Awoda“ und „Meretz“ sowie die (konservativ-)arabische Liste „Raam“.

Rechte Abgeordnete verlässt Koalition

Inwiefern der Siedlerunterstützer Bennett und eine arabische Gruppierung, aber auch weit rechts angesiedelte Parteien und die Sozialdemokratie an einem Strang ziehen sollen, war fraglich, weswegen „Sollbruchstellen“ auszumachen waren. Diese bezogen sich freilich auf die besetzten Gebiete, die Siedlungspolitik, Annexionen sowie den generellen Umgang mit den Palästinensern. Doch es kam anders. Durch den Austritt der Jamina-Abgeordneten Idit Silman verlor die Regierung nun ihre hauchdünne Mehrheit in der Knesset und verfügt nur noch über 60 der 120 Parlamentssitze. Der Anlass liegt aber eben genau nicht unmittelbar in Fragen von Okkupation, Terrorismus und Frieden, sondern in den jüdischen Speisegesetzen begründet. Am 16. April beginnt das einwöchige Pessachfest, und während dieser Zeit verzichten religiöse Juden auf Brot und verwandte Produkte, die Sauerteig oder Hefe enthalten. Stattdessen gibt es das ungesäuerte Matze- oder Mazzebrot.

Pessachregeln für alle?

Diese Vorschrift erinnert an den – überstürzten – Auszug der Israeliten aus Ägypten, ist dementsprechend im 2. Buch Mose festgehalten und wird von Rabbinern überwacht. So weit, so gut, denn religiöse Traditionen und Bräuche gläubiger Menschen sind zu respektieren. Die nun abtrünnige Abgeordnete Silman ist jedoch der Ansicht, dass dieses Gesetz allgemeingültig sein müsse in Israel, da es sich nach eigenem Selbstverständnis ja um einen „jüdischen Staat“ handelt. Daher forderte sie, dass es zum Pessachfest in israelischen Krankenhäusern verboten sein müsse, Brot aus Sauerteig, Kuchen oder Kekse mitzubringen. Der ohnedies Leid‑, weil Pandemie-geplagte Gesundheitsminister Nitzan Horowitz (Meretz) verweigerte es vor dem Hintergrund einer älteren, ihn unterstützenden höchstgerichtlichen Entscheidung, eine solche Verordnung herauszugeben, weswegen Silman jetzt die Koalition sowie die Jamina-Partei aus Protest verlassen hat.

25 Prozent Nichtjuden im „jüdischen Staat“

Es handelt sich um eine recht eigentümliche und gewiss schwierige Situation, doch haben Höchstgericht und Horowitz zweifellos richtig entschieden: Auch wenn sich Israel als „jüdischer Staat“ definiert, so hat er doch gegenüber der Gesamtbevölkerung objektiv zu sein. Schließlich sind rund 20 Prozent der israelischen Staatsbürger Araber muslimischen Glaubens, zwei Prozent sind Christen und 1,5 Prozent Drusen. Hinzu kommen noch ein paar kleinere religiöse Minderheiten. Und auch unter der jüdischen Bevölkerung, die ca. 74 Prozent ausmacht, versteht sich mehr als die Hälfte als säkular oder nicht religiös, eine wachsende Zahl gar als atheistisch. Vor diesem Hintergrund erscheint es doch als einigermaßen fragwürdig, ja unzulässig, traditionelle jüdische Speisegesetze auch auf nichtreligiöse Juden und sogar den nichtjüdischen Bevölkerungsteil Israels ausdehnen zu wollen. Dass dieses Ansinnen aber überhaupt politisch vertreten wird, zeugt vom großen Einfluss religiöser, orthodoxer und „ultraorthodoxer“ Gruppen, obgleich diese in der Minderheit sind.

Keine Mehrheit für Netanjahu

Netanjahu hat den Ball gerne aufgenommen und Silmans Vorgehen begrüßt. Er wittert nun die Chance, vielleicht doch nochmals als Ministerpräsident zurückkehren zu können. Hierfür ist es freilich nötig, die Regierung per Misstrauensvotum zu stürzen oder in der Knesset eine Mehrheit für Neuwahlen zu erlangen. Doch dies erscheint gegenwärtig (noch) nicht möglich, denn Netanjahu weiß nur 54 Abgeordnete hinter sich, nämlich jene des eigenen Likud sowie der „ultraorthodoxen“ und religiös-rassistischen Listen. Der Rest der Opposition wird aber von der Vereinigten Liste, inklusive der Kommunistischen Partei Israels, gestellt – und diese wird bei aller eigenen Kritik an der Regierung keinesfalls Netanjahu zum Comeback verhelfen. Was der langjährige Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer also braucht, sind weitere Überläufer aus dem Regierungslager, was früher oder später zumindest denkbar erscheint.

Budgetgesetz im März 2023

Trotzdem hat die Regierung nun ein klares Ablaufdatum. Sie kann als Exekutive natürlich auch ohne parlamentarische Mehrheit – es gibt ja ein Patt mit 60:60 – im Amt bleiben, entweder ohne legislative Akzente oder unter punktueller Einbindung von Teilen der Opposition. Spätestens im März 2023 kommt es aber zur Nagelprobe, denn dann muss der neue Staatshaushalt per Gesetz beschlossen werden. Wenn die Regierung dann keine Mehrheit von mindestens 61 Abgeordneten findet, ist sie in jedem Fall Geschichte. Und was bei Neuwahlen herauskäme, ist momentan kaum seriös vorherzusagen. Einstweilen ist auf ein friedliches Pessachfest und einen ebensolchen Ramadan zu hoffen.

Quelle: Der Standard

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