Am 6. Dezember sprach die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas im Rahmen eines öffentlichen Vortrages mit dem Titel „Israels Krieg: Genozid als koloniale Auslöschung?“ in der Universität Wien.
Wien. Insgesamt waren mehr als 1.000 Personen bei dem Vortrag, der den öffentlichen Teil der Lehrveranstaltungsreihe „Palästina: Besatzung, Krieg und Entwicklungspolitik“ von Helmut Krieger vom Institut für Internationale Entwicklung darstellte. Die Vortragende, die italienische Rechtswissenschaftlerin Francesca Albanese, wurde am 1. Mai 2022 für eine dreijährige Amtsperiode zur ehrenamtlichen UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete ernannt. Am 18. Oktober 2022 forderte Albanese in ihrem ersten Bericht die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen dazu auf, einen Plan zu entwickeln, um weitere Landnahmen durch die israelische Siedlungsbewegung und das israelische Regierungssystem zu verhindern. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass die beschriebenen Rechtsverletzungen die Natur der israelischen Besatzung deutlich machen. Diese sei durch ein absichtlich auf Aneignung, Segregation und Unterdrückung ausgelegtes System geprägt, das darauf abziele, das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung zu untergraben.
Seit dem Beginn des Vernichtungskrieges Israels gegen den Gazastreifen im Oktober 2023 gewannen ihr Amt und Francesca Albanese selbst an weiterer Bekanntheit, da Albanese wiederholt festhielt, dass Israel hier einen Völkermord betreibt. So präsentierte Albanese während der 55. Sitzung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen am 26. März 2024 in Genf einen Bericht mit dem Titel „Anatomie eines Völkermords“. In diesem Bericht stellte sie überzeugende juristische Argumente dafür bereit, dass Israel im Umgang mit den Palästinenserinnen und Palästinensern im Gazastreifen mindestens drei der in der Völkermordkonvention definierten Tatbestände erfüllt habe.
Versuche der Sabotage und zionistischer Protest
Nachdem die Organisatoren bereits in den ersten Tagen nach der Ankündigung des Vortrages hunderte Anmeldungen trafen, wurde versucht, den Vortrag vom Hörsaal C1, der nur Platz für 450 Personen bietet, in den weitaus größeren Audimax-Hörsaal (750 Personen) zu verlegen. Das wurde jedoch vom Rektorat der Universität Wien untersagt. Dem Organisationsteam war es jedoch möglich, zwei weitere Hörsäle sowie einen Livestream zu organisieren, sodass mehr Interessierten dem Vortrag der UN-Sonderberichterstatterin folgen konnten.
Abgesehen vom Referat sah sich das Organisationsteam mit Versuchen der Sabotage auch von anderer Seite konfrontiert. So forderte der Botschafter Israels in Österreich, David Roet, eine Absage der Veranstaltung und beschuldigte Albanese eines „antisemitischen Narratives voller unwahrer Anschuldigungen“. Die Jüdischen Österreichischen HochschülerI:innen (JöH) kritisierten die Veranstaltung ebenso und bezeichneten Albanese als „ignorant gegenüber israelischem und jüdischem Leid“.
„Die Beweislage ist erdrückend“
Doch trotz alledem fand der Vortrag statt. In ihrem 45-minütigem Referat ging Francesca Albanese, die mit Standing Ovations begrüßt wurde, vor allem auf den Vorwurf des Genozids ein. Dieser ist im internationalen Recht klar definiert, es gibt fünf Handlungen, die einen solchen charakterisieren, insofern sie mit dem klaren Ziel betrieben werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Wenn zumindest eine dieser Handlungen stattfindet, so ist von Völkermord zu sprechen. Diese Handlungen sind:
- Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
- Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
- vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
- Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
- gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Die ersten drei Handlungen werden eindeutig und ohne Zweifel von Israel begangen, und das mit der Intention zu zerstören. Denn ein Krieg, so Albanese, werde mit dem Ziel geführt, den Gegner zu besiegen. Ein Völkermord wird betrieben, um zu zerstören. Diese Intention zu zerstören liegt bei Israel eindeutig vor, die offiziellen Vertreter Israels verschweigen das nicht, sondern reden offen darüber.
Auch die Realität beweist klar, welchen Charakter dieser Krieg tatsächlich hat: In Gaza wurden 320 Schulen zerstört sowie 11 Universitäten, 80 Prozent aller Häuser sind unbewohnbar, der Boden ist zu großen Teilen nicht mehr kultivierbar, die Lebensgrundlage für zukünftige Generationen zerbombt. Gleichzeitig wird auch die Vergangenheit, nämlich Kirchen, Moscheen, Archive und historische Stätten, zerstört. Und auch die grauenvollen Videos, die israelische Soldatinnen und Soldaten stolz auf TikTok und anderen sozialen Medien veröffentlichen, um ihre Verbrechen zu dokumentieren, sind zusätzliche Beweisstücke. Es geht um die Vernichtung der Palästinenserinnen und Palästinenser und nicht um den Sieg über irgendeinen Gegner und ebenso wenig um die Befreiung der Geiseln. Es handelt sich um Genozid.
Rückendeckung durch die USA und die EU
Im Juli 2024 entschied der Internationale Gerichtshof (IGH), dass die Präsenz Israels im gesamten Gazastreifen und im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, illegal ist und so schnell wie möglich beendet werden muss. Die UN-Generalversammlung legte daraufhin fest, dass dies bis zum 17. September 2025 geschehen muss.
Die Völkermord-Klage Südafrikas gegen Israel, sowie die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Bruch des Völkerrechts wurden vom IGH nicht abgewiesen, sondern werden weiter behandelt. Erstere resultierte auch in Sofortmaßnahmen, die von Israel zu ergreifen sind. Israel ignoriere diese provisorischen Auflagen des IGH unterdessen gänzlich, so Albanese.
Trotzdem wird in der öffentlichen Diskussion noch immer mehr über den Begriff „Genozid“ diskutiert, anstatt über Wege, diesen zu stoppen. Das liegt vor allem an der Rückendeckung Israels durch die USA und die EU, sowie auch anderer Staaten. Der Handel mit der Europäischen Union etwa sei von höchster ökonomischer Bedeutung für den zionistischen Besatzerstaat.
„Gerechtigkeit beginnt zuhause“
Die UN-Sonderberichterstatterin betonte im Zusammenhang mit der Frage ‚Was tun‘: „Gerechtigkeit beginnt zuhause“. Dementsprechend ist es laut Francesca Albanese auch wichtig, die Politikerinnen und Politiker sowie die Medien zuhause verantwortlich für ihre Unterstützung des Genozids zu machen. So müssen wir etwa in Österreich die österreichischen Kollaborateure mit dem israelischen Völkermord anschuldigen. Die Rolle von Konzernen und Banken und ihre Zusammenarbeit mit Israel sei ebenso aufzudecken.
Es gehe derzeit, so Albanese, vorrangig darum, sich für ein Ende des Genozids einzusetzen, für ein Ende der Besatzung und für ein Ende der Apartheid in Israel.