Home Blog Page 48

Gewaltschutz-Ambulanz in Innsbruck kämpft gegen zunehmende Gewalt

0

Innsbruck. Die Eröffnung der neuen Gewaltschutz-Ambulanz an der Universitätsklinik Innsbruck im März 2024 markiert einen bedeutenden Schritt im Kampf gegen Gewalt. Doch trotz dieser Fortschritte zeigt sich ein düsteres Bild: Die Zahl der Morde an Frauen in Österreich bleibt erschreckend hoch. Im ersten Halbjahr 2024 wurden bereits 14 Frauen ermordet, nach 26 Morden im Vorjahr.

Thomas Beck, psychologischer Leiter der Gewaltschutz-Ambulanz, betont die dringende Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels. Besonders besorgniserregend ist die abwertende Haltung männlicher Jugendlicher gegenüber Frauen. „Die Grundhaltung muss sich verändern. Es braucht Respekt gegenüber jeder Person“, erklärt Beck. „Wir haben noch viel Aufholbedarf, wenn es darum geht, andere Menschen zu respektieren und Grenzen einzuhalten.“

Seit ihrer Eröffnung haben bereits 100 Opfer die Gewaltschutz-Ambulanz aufgesucht. Gewalt betrifft alle Altersgruppen und sozialen Schichten, wobei die meisten Opfer Frauen sind. Beck hebt hervor, dass Schuldgefühle eine zentrale Rolle bei Gewaltbetroffenen spielen. „Diese Täter-Opfer-Umkehr ist entscheidend. Bis Betroffene dieses System verstehen und verinnerlichen, dauert es eine gewisse Zeit“, so Beck.

Eine Schlüsselrolle spielt die Schulung des Klinikpersonals. Bei Verdachtsfällen bietet die Gewaltschutz-Ambulanz eine direkte Anlaufstelle, was sich bewährt hat. Beck betont: „Gewalt beginnt nicht erst beim Zuschlagen.“ Oft kommen Patientinnen mit unspezifischen Symptomen, was ein sensibles und gut ausgebildetes Personal erfordert.

Die Gesellschaft steht vor der Herausforderung, sowohl präventiv als auch in akuten Notsituationen entschiedener gegen zwischenmenschliche Gewalt vorzugehen. Die Gewaltschutz-Ambulanz in Innsbruck ist ein wichtiger Schritt, aber es bleibt viel zu tun, um das gesellschaftliche Problem der Gewalt nachhaltig zu bekämpfen.

Gewalt entspringt kapitalistischer Gesellschaft

Die Gewalt entspringt letztlich der kapitalistischen Gesellschaft, in der viele Menschen alltäglich Gewalt erfahren. Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, während die Mehrheit für den Lebensunterhalt arbeiten muss, eignet sich eine Minderheit den aus der Arbeit geschaffenen Wert, den Profit, an. Aufrecht erhalten werden kann so ein System nur durch die permanente Ausübung von Gewalt sei es nach außen in Form von Kriegen, wie dem in der Ukraine oder dem Genozid im Gaza, oder nach innen durch das ständig über einem schwebenden Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit oder den Polizeiknüppel gegen die Opposition.

Die zunehmende Verelendung durch Teuerung und Inflation und den Abbau von Sozialleistung befördert die Gewalt auch unter den Ausgebeuteten. Die Gewalt ist nicht nur ein Ergebnis eines vorherrschenden Frauenbilder sondern der elendigen Lebensverhältnisse. Für viele sind Alkohol, Drogen und die Ausübung von Gewalt, um andere unterzuordnen, ein Mittel, um sich selbst besser zu fühlen. Wer die Gewalt abschaffen will, muss die Ausbeutung abschaffen.

Quelle: ORF

Venezuela: Sozialdemokrat Maduro gewinnt Präsidentschaftswahl

0

Offiziellen Angaben zufolge hat der sozialdemokratische Amtsinhaber Nicolas Maduro die Präsidentschaftswahl in Venezuela am Sonntag gewonnen. Der nationale Wahlrat verkündete am Sonntag am Abend nach dem 80 Prozent der Stimmen ausgezählt waren, dass Maduro die Wahl mit 51,2 Prozent gewonnen hat. Der stärkste Oppositionskandidat Edmundo Gonzalez Urrutia kam offiziellen Angaben zu Folge 44,2 Prozent. Oppositionsführerin Maria Corina Machado behauptet hingegen, dass ihr Kandidat über 70 Prozent der Stimmen erhalten habe und es sich um Wahlfälschung handle.

Eine solche Situation hatte sich bereits im Vorfeld abgezeichnet. Bereits die Wahl 2018 war insbesondere von der EU und den USA nicht anerkannt worden. Eben jene meldeten erneut Zweifel am offiziellen Ergebnis an. Auch verschiedene lateinamerikanische Regierungen darunter Chile und Argentinien meldeten Zweifel am Ergebnis an.

Gratulation zur Wahl an Maduro kam unter anderem aus China, Russland und Kuba. Auch Mexiko kündigte an das Wahlergebnis zu akzeptieren.

In Venezuela kommt es unterdessen zu teils gewalttätigen Protesten gegen das Wahlergebnis. Eine linke Gegenkandidatur zur Maduro wurde von der Regierung verhindert. Die KP Venezuela wurde daran gehindert einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Die KP fordert eine Offenlegung der Einzelergebnisse in den Wahllokalen, wie es gesetzlich vorgesehen ist.

Quelle: ORF

Brasilien: Massiver Anstieg der Obdachlosigkeit in São Paulo

0

Brasília. Die Zahl der Obdachlosen in São Paulo hat ein beunruhigendes Niveau erreicht. Eine aktuelle Studie der Bundesuniversität Minas Gerais zeigt, dass im Juni 2024 insgesamt 80.369 Menschen in der größten Stadt Brasiliens auf der Straße lebten. Das entspricht einem Anstieg von 24 Prozent innerhalb von nur sechs Monaten. Im Dezember 2023 waren es noch 64.818 Menschen.

Diese besorgniserregenden Zahlen stammen aus dem Einheitlichen Register (Cadúnico), der Datenbank der Bundesregierung für Sozialleistungen. Die Daten werden von den Gemeinden selbst über die Sozialhilfe-Referenzzentren aktualisiert. Die Zahlen stehen im krassen Gegensatz zu einer Erhebung der Präfektur von São Paulo aus dem Jahr 2021, die damals rund 32.000 Obdachlose verzeichnete.

Im gesamten Bundesstaat São Paulo leben derzeit 126.112 Menschen auf der Straße, verteilt auf 645 Gemeinden. Das entspricht einem Anstieg von 18 Prozent im Vergleich zu den 106.857 Obdachlosen im Dezember 2023. Landesweit sind laut Cadúnico mittlerweile 300.868 Menschen obdachlos, während es Ende letzten Jahres noch 242.756 waren.

Immer mehr Familien errichten Zelte, da sie aufgrund steigender Mieten aus ihren Wohnungen vertrieben wurden und keine andere Unterkunft finden können. André Luiz Freitas Dias, Koordinator der Beobachtungsstelle für öffentliche Obdachlosenpolitik, führt den dramatischen Anstieg der Obdachlosigkeit auf mehrere Faktoren zurück. Einerseits habe sich die Datenbank verbessert, was den Zugang zu sozialen Maßnahmen wie Bolsa Família und dauerhaften Sozialleistungen erleichtere. Andererseits mangele es an ausreichenden staatlichen Strukturprogrammen für Wohnraum, Arbeit und Bildung, die auf besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sind.

Die Stadtverwaltung von São Paulo erklärte, dass zwischen Jänner und Mai 2024 insgesamt 300.955 Eintragungen und Aktualisierungen im Cadúnico vorgenommen wurden. Die Behörden betonen, dass die Obdachlosenpolitik den Zugang zu Beschäftigung, Einkommen sowie zu grundlegenden Rechten wie Ausweispapieren und Bildung verbessern soll. Gleichzeitig müsse auch der Drogenkonsum als Problem der öffentlichen Gesundheit berücksichtigt werden.

Quelle: Amerika21

Fast ein Fünftel der über 16-Jährigen nicht wahlberechtigt

0

Wien. Am 29. September steht in Österreich einmal mehr die Wahl des Nationalrats an. Doch während die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgeben können, bleibt fast jede fünfte Person im Wahlalter ausgeschlossen. Dieser Höchststand an Nichtwahlberechtigten ist das Resultat einer jahrelangen Entwicklung.

Von den rund 6,3 Millionen wahlberechtigten Personen stehen etwa 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner im Wahlalter, die nicht wählen dürfen, gegenüber. Dies entspricht einem Anteil von 19 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren, die aufgrund fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt sind.

Die Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt einen deutlichen Anstieg der Nichtwahlberechtigten. Im Jahr 2002 lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung im Wahlalter, das damals bei 18 Jahren lag, noch bei lediglich neun Prozent. Zum Jahresbeginn 2002 waren von insgesamt 6,4 Millionen Einwohnern im Wahlalter etwa 560.000 nicht wahlberechtigt.

Seither ist die Zahl der nicht wahlberechtigten Personen kontinuierlich und auch schneller gestiegen als die Zahl der Wahlberechtigten. Während Letztere zuletzt sogar rückläufig war, wuchs die Gruppe der Nichtwahlberechtigten stetig an.

Schon vor fünf Jahren, bei der letzten Nationalratswahl, lebten in Österreich 1,19 Millionen Menschen ab 16 Jahren ohne Wahlrecht. Bis zum 1. Jänner dieses Jahres stieg diese Zahl auf 1,49 Millionen an. Rund die Hälfte dieser Personen, etwa 760.000, sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anderer EU-Länder.

Quelle: ORF

Vor 110 Jahren: Beginn des Ersten Weltkrieges

0

Am 28. Juli 1914 begann der Erste Weltkrieg durch de österreichische Kriegserklärung gegenüber Serbien. Er steht für mehrere historische Einschnitte: Der Monopolkapitalismus hatte sich als Weltsystem etabliert und war zu seinem ersten großen Waffengang zwischen den imperialistischen Blöcken bereit – zum militärischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt, einer Gesetzmäßigkeit gemäß der ungleichen kapitalistischen Entwicklung. Dies hatte nicht zuletzt für Österreich weitreichende Konsequenzen. Im Zuge des Krieges brach die imperialistische Kette der Großmächte an ihrer schwächsten Stelle – in Russland führten Lenins Bolschewiki die Arbeiterklasse zur sozialistischen Revolution. In weiterer Folge spaltete sich die bisherige Arbeiterbewegung in einen reformistischen, opportunistischen Teil – die Sozialdemokratie – sowie einen revolutionären Teil – die kommunistische Weltbewegung.

Imperialismus und Kolonialismus

In diesen Tagen jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 110. Mal. Das Jahr 1914 zeigt gemäß marxistisch-leninistischer Analyse einen entwickelten Monopolkapitalismus oder Imperialismus, als höchstes Stadium des Kapitalismus, wie Lenin zwei Jahre später herausarbeiten sollte. Wir haben also, wenn wir Lenins fünf Punkte kurz durchgehen, die Herausbuldung der Monopole in den wichtigsten Wirtschaftsbereichen, die dort eine entscheidende Rolle spielen; wir haben die Bedeutungssteigerung der Banken und die Herausbildung des Finanzkapitals und einer Finanzoligarchie auf Basis der Veschränkung der Monopole in Industrie, Finanz, Handel (und auch Agrarwirtschaft). Wir bemerken eine relative Bedeutungssteigerung des Kapitalverkehrs gegenüber dem Warenverkehr; die internationalen Monopolverbände teilen die Welt, d.h. den Weltmarkt unter sich auf; die imperialistischen Großmächte haben die territoriale Aufteilung der Welt abgeschlossen, der Kampf um die Neuaufteilung hat begonnen.

Schauen wir uns v.a. einmal den letzten Punkt an, den Kolonialismus in seiner Hochphase. Die imperialistische Führungsmacht jener Zeit war Großbritannien, mit Kolonien von Amerika, über Afrika, Indien bis Australien – tatsächlich ein Weltreich. Auch Frankreich unterhielt zahlreiche Kolonien, ebenfalls nicht zuletzt in Afrika, aber auch in Südostasien, im Pazifik und darüber hinaus. Demgegenüber hatte das erst 1871 geschaffene Deutsche Reich das Nachsehen, mit weniger afrikanischen Territorien sowie pazifischen Besitzungen. Daneben hatten auch kleinere europäische Staaten Kolonialbesitz, etwa Belgien im Kongo oder die Niederlande in Indonesien. Ältere Kolonialreiche, das spanische und portugiesische, waren bereits weitgehend untergegangen, nämlich v.a. in Lateinamerika, und wiesen nur noch Restbestände auf. Und drei Großmächte unterhielten zwar immense Flächenstaaten, verfügten aber über keine ernsthaften Überseekolonien – dies betraf Russland, Österreich und die Türkei bzw. das Osmanische Reich. Gewissermaßen damals erst in jüngerer Zeit eingestiegen in den imperialistischen Konkurrenzkampf sind Italien mit neuem Nationalstaat, Japan – v.a. im Fernen Osten – sowie die USA: Diese schufen sich im Gefolge des Krieges gegen Spanien 1898 ein erstes Kolonialreich durch die Annexion der Philippinen und kleinerer Inseln wie Guam, durch die indirekte Unterordnung Kubas und Puerto Ricos sowie durch die Annexion Hawaiis. Nur wenige Gebiete der Erde wurden damals von imperialistischen Besitzansprüchen verschont – so z.B. Äthiopien -, andere wie China wurden in einer kollektiv-imperialistischen Anstrengung zur Öffnung für Konzessionen gezwungen.

Machtgefüge und Bündnissystem

Wir haben hier also im Vorfeld des Ersten Weltkrieges ein imperialistisches Machtgefüge, das man gerne mit dem Pyramidenmodell darstellen kann, mit Großbritannien an der Spitze, dahinter auf einer Stufe Frankreich und Deutschland, danach Russland und Österreich – dies ist quasi die klassische Pentarchie der fünf Großmächte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wobei man Preußen eben in Deutschland überführt. Doch wir wissen: Auf Basis der ungleichmäßigen politischen und ökonomischen Entwicklung im Kapitalismus sind die Steine beweglich, das System ist dynamisch. Großbritannien hat seinen Zenith überstiegen, Deutschland strebt nach dem Platz an der Sonne – das ist der Hauptkonflikt. Daneben ist u.a. festzustellen: Österreich und die Türkei kämpfen ums Überleben, und die USA kündigen sich als künftige Weltmacht an.

Es geht absehbar nicht nur um den permanenten Kampf um Rohstoffe, Einflusssphären, Trasportwege, Märkte, Investitionsmöglichkeiten etc., sondern um den zugespitzten Kampf um die Neuaufteilung der Welt und um die Hegemonialposition. Diesbezüglich ist klar: Deutschland will den großen Krieg, Deutschland braucht den großen Krieg. Die “innerdeutsche” Machtfrage hat Preußen schon 1866 gegen Österreich, Bayern und Sachsen entschieden, Frankreich hat man bereits 1870/71 niedergeworfen und dies zur Reichsgründung genützt, nun musste der nächste Schritt erfolgen. Bevorzugter Weise war dieser Krieg nicht unbedingt an allen Fronten gleichzeitig zu führen, aber das kann man sich eben nicht immer aussuchen.

Daher gibt es im Vorfeld des Ersten Weltkrieges ein imperialistisches Bündnissystem. Es gibt den Drei-Mächte-Pakt mit Deutschland, Österreich und Italien, und es gibt die Triple Entente zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland. Daneben existieren kleinere Unterstützungserklärungen, so z.B. Russlands für Serbien oder Großbritanniens für die Neutralität Belgiens. Dass dieser Krieg kommen würde, war indessen fast allen klar: Es gab zwar seit über 40 Jahren keinen Krieg zwischen den mittel- und westeuropäischen Großmächten – was eine lange Zeit ist -, aber andere Kriege, die auf die Zukunft verwiesen, darunter der Russisch-Osmanische Krieg, der Russisch-Japanische Krieg, die Marokko-Krisen, die “kleineren” Balkankriege und natürlich nicht zuletzt die Krise rund um die Annexion Bosniens durch Österreich 1908. – Vor diesem Hintergrund gab es massive Aufrüstungsbemühungen, v.a. in Deutschland, denn der britische Vorsprung war immens. Aber es gab natürlich auch Friedensbemühungen, nicht zuletzt jene der Soziademokratie der II. Internationale, die auf ihren Kongressen vor dem Krieg noch eine ganz andere Linie vertrat als mit Kriegsbeginn: Keinen Mann und keinen Groschen für den Krieg. Kein Burgfrieden. Umwandlung des Krieges in eine revolutionäre Erhebung.

Engels als Prophet, Dynamik der imperialistischen Allianzen

Trotzdem machte man sich keine Illusionen. Friedrich Engels schrieb schon 1887 geradzu prophetisch: “Und endlich ist kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet, Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen, rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebes in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott, Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.“ (MEW, Band 21, S. 350f.)

Die weiteren Ereignisse sind weitgehend bekannt. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo bietet den Vorwand für den Krieg – und Deutschland muss ihn nicht einmal selbst beginnen, das übernimmt Österreich. Nach einem unmöglichen Ultimatum erfolgt die österreichische Kriegserklärung gegenüber Serbien am 28. Juli 1914. Dieser vermeintlich regionale Krieg wird binnen weniger Tage aufgrund des Bündnissystems zu einem europäischen und schließlich tatsächlich zu einem Weltkrieg.

Deutschland hatte Österreich natürlich bedingungslose Unterstützung zugesagt, umgekehrt trat Russland zur Unterstützung Serbiens auf den Plan. Deutsche Truppen drangen über das neutrale Belgien in Frankreich ein, womit auch Großbritannien in den Krieg eintrat. Nur Italien, eigentlich im Dreibund mit Deutschland und Österreich, erklärte sich plötzlich für neutral, um später, 1915, auf der Seite der Entente am Krieg teilzunehmen. Die Mittelmächte verfügten nur über einen bedeutenden Verbündeten, nämlich die Türkei, daneben fand sich auch Bulgarien mehr oder minder zwingend auf dieser Seite. – Man sieht nämlich auch: Imperialistische Bündnisse sind immer nur Zweckbündnisse und niemals Liebesheiraten. Denn es gab z.B. zwischen Österreich und der Türkei natürlich gravierende Interessensunterschiede am Balkan, doch diese wurden zurückgestellt. Die USA schließlich traten im April 1917 in den Krieg ein.

Zweifrontenkrieg, Oktoberrevolution, Waffenstillstand

Wir wollen uns nicht mit Details zum Kriegsverlauf aufhalten – dem sollen sich Militärhistoriker widmen. Trotz zwischenzeitlicher Erfolge am Balkan und im Osten zeigte sich bald, nämlich mit dem Stillstand an der Westfront und den Grabkämpfen in Frankreich (Stichwort Verdun), dass Deutschland und Österreich einen Zweifrontenkrieg nicht gewinnen können, für Österreich war dies sodann insbesondere durch den Kriegseintritt Italiens gegeben. Aber immerhin hatte man den Krieg auch noch nicht verloren. Und vor diesem Hintergrund bemühte man sich darum, die Kriegsgegner, insbesondere Russland, zu destabilisieren – eben, um möglichst einen Separatfrieden schließen und sich vollständig einer Front widmen zu können. Das war mit ein Grund, warum man u.a. Wladimir Ijlitsch Uljanow, genannt: Lenin, aus der Schweiz über Deutschland nach Russland schleuste.

Lenin sorgt dann in Russland allerdings für ein bisschen mehr Unruhe, als auch den Deutschen lieb war: Im November 1917 siegte die Große Sozialistische Oktoberrevolution, mit der Russischen Sowjetrepublik entsteht der erste sozialistische Staat der Welt. Somit gab es mit der bolschewistischen Sowjetregierung tatsächlich plötzlich einen anderen Verhandlungspartner, der zudem seinerseits dem Volk Frieden versprochen hat. Daher kommt es im März 1918 nach zähen Verhandlungen und harten Bedingungen für Sowjetrussland zum Frieden von Brest-Litowsk. Damit endet der Erste Weltkrieg im Osten. Und Deutschland erhält tatsächlich nochmals die Gelegenheit zur Frühjahrsoffensive im Westen, die nicht gänzlich unerfolgreich bleibt. Doch Mitte/Ende Juli 1918, fast genau vier Jahre nach Kriegsbeginn, wandte sich das Blatt letztmalig, zudem gingen den Deutschen die Verbündeten aus: Die Türkei und Bulgarien waren besiegt, Österreich-Ungarn befand sich in Auflösung. Der Weg zur Waffenstillstandsvereinbarung vom 11. November – damit endet der Erste Weltkrieg in aller Form – war unausweichlich.

Noch davor rollten in Berlin und Österreich tatsächlich de Kronen über die Straße, die Monarchien wurden im Oktober 1918 in bürgerlich-demokratische Republiken umgeformt, im Herrschaftsgebiet der Habsburger entstanden mehrere neue Nationalstaaten. Die schließliche Friedensordnung – es war eine Zwischenkriegsordnung, wie wir heute wissen – zu lasten der Verlierer und zugunsten der Sieger markierten die in den folgenden Jahren verhandelten und unterzeichneten Pariser Vororteverträge, für Österreich ist der Vertrag von St. Germain maßgeblich, der übrigens auch den angestrebten Anschluss an Deutschland untersagte. Und so markiert diese Zeit auch die Schaffung eines österreichischen Nationalstaates, wenngleich sich diese Nation erst noch finden musste, wie die folgenden Jahrzehnte zeigen sollten.

Gegenrevolutionäre Sozialdemokratie, eigenständige kommunistische Bewegung

Doch wesentlich ist für uns, dass mit Kriegsende nicht nur die Kronen auf den Straßen lagen, sondern auch die Macht: Es waren revolutionäre Situation, in denen die organisierte Arbeiterklasse zur Revolution schreiten konnte. Solche Versuche der Etablierung von Räterepublilken scheiterten in Ungarn und Bayern, in Österreich kam es trotz Jännerstreik nicht so weit: Die Sozialdemokratische Partei entschied sich für rein bürgerliche Bahnen der Revolution und somit für den Kapitalismus. Die SP rettete der österreichischen Bourgeoise die teure Haut – sie selbst bzw. ihre Parteien hätten das nicht mehr geschafft.

Damit beendet die Sozialdemokratie den Krieg, wie sie ihn begann: Mit einem Verrat. Zu Kriegsbeginn scharten sich die meisten Parteien der II. Internationale hinter ihrer jeweiligen Bourgeoisie, ihrem Imperialismus, ihren Herrscherhäusern, nur wenige wie die russischen Bolschewiki blieben auf Kurs. Revisionismus und Opportunismus fanden im Sommer 1914 ihre Entfaltung in sozialimperialistischer Kriegsbefürwortung, vier Jahre später in gegenrevolutionärem Reformismus. Das ist der Grund, warum sich linke, revolutionäre Gruppen in der Arbeiterbewegung bildeten, in Deutschland z.B. um Liebknecht und Luxemburg, woraus schließlich die KPD hervorgehen sollte. In Österreich erfolgte die Gründung der KPÖ im Herbst 1918 leider weniger gut organisiert, der SDAP gelant es, die Arbeiterschaft mit falschen Versprechungen bei der Stange zu halten. Trotzdem war die Gründung der KPÖ 1918 richtig, wichtig und unerlässlich. Denn die Zeit für die Trennung von der Sozialdemokratie sowie die Schaffung der eigenständigen kommunistischen Weltbewegung war längst gekommen. Sie wurde in den einzelnen Ländern vollzogen, in Solidarität und mit Unterstützung der russischen Oktoberrevolution, der Bolschewiki und ab 1919 der Kommunistischen Internationale. Die Sowjetmacht, die Komintern und die kommunistischen Parteien waren und bleiben das wichtigste Ergebnis des Ersten Weltkrieges.

Konsequenzen, Analogien und Aufgaben der Kommunisten

Ansonsten schuf der Weltkrieg die Bedingungen für neue und aufgewärmte Konflikte zwischen den imperialistischen Staaten; für den Faschismus als besondere bürgerliche Bewegung und Herrschaftsform, entstanden aus dem weißgardistischen Terror; und wahrlich nicht zuletzt für den nächsten großen Krieg, den Zweiten Weltkrieg, der eine Neuauflage des Waffengangs um die imperialistische Hegemonialposition bedeuten sollte.

Heute, 110 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges, hat es mitunter den Anschein, als befänden wir uns in einer ganz ähnlichen Situation wie vor 1914. Nun, man soll es sich nicht mit Analogien zu einfach machen, aber natürlich ist manches richtig: Wir haben es 2024 mit einer äußersten Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche zu tun. Wir haben eine Blockbildung mit Allianzen und Bündnissen auf verschiedenen Seiten. Wir haben mit den USA eine Hegemonialmacht im Abstieg, demgegenüber neue aufsteigende Mächte und mit China den größten Herausforderer der USA. Und wir haben regionale Kriege und Konflikte, die längst über sich hinausgewachsen sind und allemal das Zeug haben, um von den Herrschenden als Anlass oder Vorwand für einen neuen, veheerenden Weltkrieg ungeahnten Ausmaßes missbraucht zu werden. Man könnte auch sagen: Gut, Lenins Imperialismustheorie funktioniert noch immer.

So gesehen hat sich tatsächlich “wenig” geändert gegenüber 1914. Somit aber auch nichts an unseren Zielen und Aufgaben: Die beste Friedenspolitik ist der revolutionäre Klassenkampf für den Sozialismus. Wenn man, was leider realistisch erscheint, den drohenden Dritten Weltkrieg nicht verhindern kann, so muss man ihn ehebaldigst mit der nötigen Konsequenz beenden. Er muss sodann der letzte Krieg gewesen sein.

Denn die Herrschenden mögen sich daran erinnern, wie die Sache endet, Bertolt Brecht umschrieb es so: “Das große Karthago führte drei Krieg. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr auffindbar.” – Etwas direkter formuliert: Die Imperialisten führten drei große Kriege, wird man dereinst sagen. Nach dem ersten war nur ein Land an den Sozialismus verloren. Nach dem zweiten bildete sich eine beträchtliche sozialistische Staatengemeinschaft. Aber nach dem dritten Krieg siegte die Revolution weltweit.

Ein Gottesdiener und sein Meth-Labor

0

Niederösterreich. In einem beschaulichen Waldviertler Pfarrhof, wo ansonst nur Gebete und Glockengeläut dominieren dürften, kam es zu einer nicht ganz alltäglichen Enthüllung, die selbst Walter White aus „Breaking Bad“ vor Neid erblassen lassen würde. Ein 38-jähriger Priester wurde dabei ertappt, wie er im Pfarrhof Crystal Meth herstellte. Ja, richtig gelesen. Nicht Hostien, sondern Methamphetamin.

Die Polizei hatte den Pfarrhof durchsucht, nachdem die Staatsanwaltschaft Krems einen entsprechenden Befehl erlassen hatte. Bei der Durchsuchung stießen die Ermittler auf ein regelrechtes Drogenlabor. Polizeisprecher Stefan Loidl berichtete, dass man nicht nur Drogen für den Eigengebrauch fand. Der Gottesdiener hatte wohl Größeres im Sinn und plante, die sündigen Substanzen zu verkaufen.

Neben dem offenkundig chemiebegeisterten Priester soll auch eine zweite Person verhaftet worden sein. Wer dieser Komplize ist, bleibt vorerst ein Geheimnis. Er dürfte jedoch nicht den Kirchenkreisen angehören.

Nach Bekanntwerden der Enthüllung reagierte auch die Diözese St. Pölten: Der Priester wurde umgehend von seinem Dienst entpflichtet und jegliche seelsorgerische Tätigkeit wurde ihm untersagt. 

Der Übeltäter ist Priester der Erzdiözese Warschau und seit 2021 in der Diözese St. Pölten tätig. Der zuständige Erzbischof wurde informiert und dort will man sich nun Gedanken machen, welche weiteren Schritte folgen sollen. Przemyslaw Sliwinski, Sprecher der Erzdiözese Warschau, bestätigte, dass man die Informationen aus Niederösterreich erhalten habe und versprach, dass bald die notwendigen rechtlichen und kanonischen Maßnahmen ergriffen würden.

Ob der Priester, der in „Breaking Bad“-Manier Meth herstellte, ähnlich wie Jesus, der Wasser in Wein verwandelte, in die Annalen eingehen wird, ist natürlich äußerst fraglich. Bis zur nächsten heiligen Sonntagsmesse dürfte die Geschichte aber dennoch Gesprächsthema bleiben. Danach heißt es wieder ganz nach katholischer Lehre: Hände falten, Goschn halten und für bessere Zeiten beten.

Quelle: ORF

Weiterer Streik in Hollywood: Videospieldarsteller fordern KI-Schutz und höhere Gehälter

Videospiel-Synchronsprecher und Motion-Capture-Darsteller streiken wegen gescheiterter Verhandlungen über Arbeitsverträge und fordern besseren Schutz vor künstlicher Intelligenz und höhere Gehälter. Die Gewerkschaft SAG-AFTRA hat zum Streik aufgerufen, da die Arbeitgeber sich weigern, klare Schutzmaßnahmen für die Künstler zu garantieren, obwohl in vielen anderen Punkten Einigungen erzielt wurden.

Los Angeles. Hollywood sieht sich mit einer weiteren Arbeitsniederlegung konfrontiert: Videospiel-Synchronsprecherinnen und ‑sprecher sowie Motion-Capture-Darstellerinnen und ‑Darsteller haben wegen gescheiterter Arbeitsvertragsverhandlungen über den Arbeitsschutz im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz nun auch zum Streik aufgerufen.

Wie die Gewerkschaft SAG-AFTRA am Donnerstag mitteilte, hat sie mit Wirkung vom 26. Juli zum Streik für die Vereinbarung über interaktive Medien aufgerufen, die sich auf Videospielschauspieler bezieht. Die Entscheidung folgt auf monatelange Verhandlungen mit großen Videospielunternehmen wie Activision Productions, Electronic Arts, Epic Games, Take-Two, Character Voices und Warner Bros Discovery’s WB Games.

Löhne unter der Inflation

Das Interactive Media Agreement lief im November 2022 aus und wurde während der Gespräche monatlich verlängert. Abgesehen vom Schutz der künstlichen Intelligenz sind die dringlichsten Anliegen der SAG-AFTRA bei den Vertragsverhandlungen für Videospielkünstler eine höhere Vergütung, medizinische Versorgung und Pausen für Motion-Capture-Darstellerinnen und ‑Darsteller.

Laut SAG-AFTRA hat die Bezahlung von Videospielkünstlern nicht mit der Inflation Schritt gehalten. Sie setzt sich auch für mehr Schutz für die Motion-Capture-Darsteller ein, die Marker oder Sensoren auf der Haut oder in einem Körperanzug tragen, um den Spieleherstellern bei der Erstellung der Charakterbewegungen zu helfen.

„Obwohl in vielen für die SAG-AFTRA-Mitglieder wichtigen Fragen eine Einigung erzielt wurde, weigern sich die Arbeitgeber, in klarer und durchsetzbarer Sprache zu versichern, dass sie alle unter diesen Vertrag fallenden Künstler in ihrer AI-Sprache schützen werden“, so die Gewerkschaft in einer Erklärung.

Ein Domino-Effekt

Die SAG-AFTRA vertritt auch die Film- und Fernsehschauspielerinnen und ‑schauspieler, die im Juli letzten Jahres wegen unzureichender Schutzmaßnahmen gegen künstliche Intelligenz (KI) gestreikt haben, wodurch Hollywood zum ersten Mal seit 63 Jahren zwei gleichzeitige Arbeitsniederlegungen erlebt hat.

Während die Film- und Fernsehstudios aus einer einheitlichen Position heraus verhandelten und die Alliance of Motion Picture and Television Producers (AMPTP) in ihrem Namen verhandelte, gibt es in der Spieleindustrie keine solche analoge Gruppe, so dass es sehr wahrscheinlich ist, dass ein oder mehrere Spieleentwickler die Forderungen der Gewerkschaft akzeptieren werden, sagte Wedbush-Geschäftsführer Michael Pachter.

„Sobald ein [Entwickler] es tut, werden es alle tun.“

Quelle: Reuters

Weltmeistertitel für Österreichs Feuerwehrjugend

0

Borgo Valsugana/Wien. 60 Gruppen aus 22 Nationen traten in Italien gegeneinander an, um zu ermitteln, welche Feuerwehrjunge-Staffeln die Besten sind. Österreich war mit drei Gruppen aus Oberösterreich vertreten: Bad Mühllacken, Guggenberg und Mitteregg-Haagen-Sand.

Zuletzt beim internationalen Feuerwehrjugend-Bewerb 2017 in Villach für Österreich am Start, hat sich das harte und intensive Training für Guggenberg aus dem Bezirk Vöcklabruck ausgezahlt: Erster Platz in der gemischten Wertung (Mädchen und Burschen in einer Gruppe) und somit Feuerwehrjugend-Weltmeister! Mit einer fehlerfreien Zeit von 36,34 auf der Hindernisbahn und 61,95 beim Staffellauf ließen die Jugendlichen die Konkurrenz hinter sich. Platz zwei ging an Polen, den dritten Platz holte eine Gruppe aus Tschechien.

Die Mädchen-Gruppe aus Mitteregg-Haagen-Sand erreichte den vierten Platz in der Mädchenwertung, Bad Mühllacken erkämpfte sich in der gemischten Wertung den achten Platz. 

Das Training in Schnelligkeit und Genauigkeit ist für die Freiwillige Feuerwehr sehr wichtig, da im Ernstfall oft jede Sekunde zählt und die Teams gut eingespielt sein müssen, so dass jeder Handgriff sitzt. Jugendbewerbe bieten dabei eine gute Gelegenheit, sich mit anderen Teams zu messen. Unseres Erachtens ist das Mitwirken in der Freiwilligen Feuerwehr auch eine gute Schule dafür, Solidarität und Zusammenhalt zu üben.

Quelle: OTS

Arbeitswelt, Arbeiterkampf, Arbeiterelend im Werk von Adam Scharrer und Hans Marchwitza – Teil 1

0

Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck

Unser Gastautor Peter Goller widmet sich in einer fünfteiligen Artikelserie der Arbeiterliteratur. Im Mittelpunkt steht dabei das Leben und Wirken von Adam Scharrer und Hans Marchwitza. Peter Goller hat sich bereits in früheren Beiträgen für die Zeitung der Arbeit mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befasst.

Adam Scharrer (1889–1948) wurde im mittelfränkischen Dorf Klein-Schwarzenlohe als Sohn eines armen Gemeindehirten geboren: „In Bayern sind die Menschen fromm und grob; tun ihre Pflicht Gott und der Welt gegenüber, wie dies dort so der Brauch seit Generationen. Sie geben ihre ersparten Eier den Kapuzinermönchen und essen selbst trocken Brot, wenn die Sonne fast senkrecht steht. Mütter steigen mit schwangeren Leib auf die Hopfenleiter, und bei schwerer Arbeit von Sonnenauf- bis –untergang bleibt wenig Kraft und Zeit für pädagogische Wissenschaft und Praxis. Ein Pfiff – muss genügen.“

Scharrer erlernte das Schlosserhandwerk: „Von meinem fünften bis zu meinem zwölften Lebensjahre verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Anger. Kühe und Gänse waren meine Gesellschaft.“

Nach eigener Aussage sind als „seine weiteren Universitäten nach Hüteanger und Lehrzeit die Landstraßen, die Werkstätten in Deutschland, Österreich und der Schweiz und die Obdachlosenasyle, die Schützengräben und Munitionsfabriken zu nennen“. Der junge Scharrer bewegt sich lange in der Welt der „lumpenproletarisch“ Deklassierten, in der Welt eines sich selbst helfenden, anarcho-individualistischen Rebellentums. Er solidarisiert sich in individueller Auflehnung mehr mit den obdachlosen Landstreichern „der Walze“ als mit den Proletariern an der Drehbank. Auf Monate des Vagabundierens folgen wieder Wochen der Lohnarbeit in Handwerksbetrieben und knapp vor 1914 in den großen Werften in Hamburg und Bremen, wo Scharrer erstmals an Streikkämpfen teilnimmt.

Enttäuscht darüber, dass große Teile der SPD und der Gewerkschaften 1914 „mit fliegenden Fahnen in das Lager des Imperialismus“ übergelaufen waren, schloss sich Scharrer dem Spartakusbund an. Er nahm im Jänner 1918 am großen politischen Massenstreik der Rüstungsarbeiter teil. Nach Spaltung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) trat Scharrer Ende 1919 als Gründungsmitglied zur „linksradikalen“, jede Arbeit in parlamentarischen oder gewerkschaftlichen Einrichtungen ablehnenden Kommunistischen Arbeiterpartei (KAP) über.

Erst mit 40 Jahren schreibt der lange arbeitslose Scharrer den 1930 erscheinenden proletarischen Antikriegsroman „Vaterlandslose Gesellen“. In selbigem Jahr erscheint die verschlüsselte Autobiographie „Aus der Art geschlagen“ als „Landstraßenbuch“, als „Reisebericht eines Arbeiters“: „Zeit dazu fand ich genügend, weil ich in das Heer der Überflüssigen eingereiht wurde.“

1931 folgt mit dem „Großen Betrug“ die „Geschichte einer proletarischen Familie“ in den Inflationsjahren 1919 bis 1923. Nach der nazistischen „Machtergreifung“ konnte Scharrers Bauernroman „Maulwürfe“ 1933 im tschechoslowakischen Asyl, im Malik-Verlag in Prag erscheinen. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde „Aus der Art geschlagen“ unter dem Titel „In jungen Jahren“ als „Erlebnisroman eines Arbeiters“ 1946 im Berliner Aufbau-Verlag neu veröffentlicht.[1]

Hans Marchwitza (1890–1965), der Vater Bergmann aus einer kleinbäuerlichen Häuslerfamilie, die Mutter Erzschlepperin, kam 1910 aus dem oberschlesischen Scharley bei Beuthen als Bergarbeiter an die Ruhr: „Meine Kindheit und Jugend war Kohlenstaub und Ruß! Ausblick auf Eisentürme und Schächte mit riesigen Rädern im Förderschwung. Arbeit und Entsagung aller, auch der geringsten Kinderwünsche. Hunger.“ Auch geistig wurden die jungen Bergarbeiter – Hans Marchwitza fährt mit 14 Jahren in die Grube ein – niedergehalten: „Unser Lesestoff waren die billigen und abenteuerlichen Hundert-Hefte-Räuberromane, Verherrlichung von Detektiven und Indianerhäuptlingen.“

An der Ruhr wird Marchwitza sozialistisch geprägt und nach dem großen Streik der Ruhrbergarbeiter 1912 erstmals entlassen. Erst noch Kriegsfreiwilliger findet Marchwitza im dritten Kriegsjahr Kontakt zum proletarischen Internationalismus: „Ins Drahtverhau flogen viele Blätter – bedruckte Blätter. Wir griffen gierig danach, und ich las: Proletarier, aller Länder vereinigt euch! Bevor ich aber alles durchlesen konnte, kam unser Leutnant aus seinem Unterstand herausgestürzt und entriss uns die Blätter mit einer solchen Hast und Angst, dass wir erst recht neugierig wurden.“

Bei Kriegsende der linksozialistischen USPD beigetreten kämpfte er im Frühjahr 1920 als Roter Ruhrsoldat gegen die Kapp-Putschisten, gegen den Terror von Freikorps und Reichswehreinheiten. Seit 1920 Mitglied der KPD kam er Mitte der zwanziger Jahre – „1924 fristlos entlassen, im Streik um die Siebenstundenschicht“ und auf „schwarze Listen“ gesetzt – zur Arbeiterkorrespondentenbewegung, einer kommunistischen Literaturbewegung. Als Mitglied des „Bundes Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller“ und als Mitarbeiter der „Linkskurve“ veröffentlichte Marchwitza 1930 die Reportage „Sturm auf Essen“, eine Geschichte der Ruhrkämpfe von 1920. Er eröffnete damit die Reihe der „Roten-Eine-Mark-Romane“. 1933 aus Deutschland geflüchtet kämpfte Marchwitza im Tschapajew-Bataillon auf Seite der Internationalen Brigaden.

Der erste Teil der „Kumiak“-Trilogie, die Chronik einer Taglöhner- und Bergarbeiterfamilie, konnte 1934 im Exil erscheinen. Zwei Jahrzehnte später konnte Marchwitza 1952 in der DDR die Fortsetzung „Die Heimkehr der Kumiaks“ abschließen. 1947 hat Marchwitza seine – wie bei Scharrer verschlüsselten – Erinnerungen „Meine Jugend“ veröffentlicht.[2]

Zur Tradition sozialistischer Arbeiter-Erinnerungen seit den 1880er Jahren

Die (halb) autobiographischen Erinnerungen von Adam Scharrer und Hans Marchwitza stehen in der Linie der Arbeiter- und Arbeiterinnenliteratur seit dem späten 19. Jahrhundert. In den 1880er Jahren bedauerten Marx und Engels etwa, dass Johann Philipp Becker (1809–1886), revolutionärer Freischaroffizier von 1849 und Mitorganisator der Ersten Internationale, die „abgerissenen Blätter aus [s]einem Leben“ nicht mehr zu Erinnerungen ausbauen konnte. Wenige Wochen vor Beckers Tod hat Friedrich Engels am 9. Oktober 1886 an Eduard Bernstein geschrieben, die deutsche Sozialdemokratie möge Becker materiell unterstützen: „Der alte Becker war hier, und wir haben viel über die Notwendigkeit gesprochen, dass er seine Erinnerungen und Erlebnisse aufschreibt. (…) Die Memoiren selbst wären ein höchst wertvoller Verlagsartikel der Volksbuchhandlung, eine neue Quelle für die Vorgeschichte (die revolutionäre Bewegung von 1827–60) und die Geschichte von den 50er Jahren bis jetzt unsrer Partei, ein Dokument, das kein wirklicher Geschichtsscheiber übersehn dürfte.“[3]

Mit dem Fall des Sozialistenverbots setzt nach 1890 vermehrte Produktion von Arbeiterliteratur ein. Arbeiter wie Carl Fischer, Moritz Bromme, Wenzel Holek, Joseph Belli, Julius Bruhns, Alwin Ger(isch) oder unter vielen anderen mehr Franz Rehbein, sowie Schriftsteller/-innen wie Lu Märten oder Otto Krille veröffentlichen im Vierteljahrhundert bis zum Imperialistischen Weltkrieg 1914 Erinnerungen, autobiographische Erzählungen, Arbeiterromane.[4]

Es war ausgerechnet der erst in nationalsozialen Vereinen aktive, 1900 der Sozialdemokratie beitretende evangelische Pastor Paul Göhre, ein dem revisionistischen Flügel der SPD angehörender Gegner der materialistischen Weltanschauung, der ab 1903 als Herausgeber der Erinnerungen von Fischer, Bromme, Holek und Rehbein proletarischer Literatur zum Durchbruch verhelfen sollte. Göhre griff nicht nur redaktionell ein. Er hat wohl auch inhaltlich „leise Verbesserungen“ in nichtsozialistischem Sinn vorgenommen.

Carl Fischers „Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters“ wurden 1903 eine „literarische Sensation“, ein großer Verlagserfolg. Carl Fischer (1841–1906), weder politisch noch gewerkschaftlich organisiert, schrieb seine Erinnerungen spät als verarmter sechzigjähriger Halbinvalide. Er zeichnet das Leben eines Taglöhners, Erdarbeiters, Kalklöschers, fast fünfzehn Jahre als Steinformer im drückenden Akkord in einem Stahlwerk in Osnabrück schuftend. In alttestamentarischer Bibelsprache protestiert Fischer gegen Verhältnisse, in denen die in Erdlöchern hausenden Arbeiter trotz aller Anstrengungen kein menschenwürdiges Leben führen können. Bei aller emotionalen Ablehnung von Bürgertum und Junkertum bleibt Fischer aber ein weitgehend auf sich allein gestellter Prolet, auch wenn er sein individuelles Aufbegehren gelegentlich in einen klassensolidarischen Zusammenhang stellt.

Moritz Bromme (1873–1926), der als Sohn eines in den Jahren des Sozialistenverbots in der Arbeiterbewegung aktiven Bahnwärters geboren war, stellt nicht nur einen ärmlichen Alltag und die tägliche Arbeitsqual als Kellner, Knopfmacher, Pantoffelmacher, Ziegeleiarbeiter oder Metallarbeiter, sondern auch seine Agitationsarbeit für die nach 1890 wieder legale Arbeiterpartei dar. Vater Bromme ist Kassierer in einer sozialdemokratischen „Hamburger Tischler-Krankenkasse“. Der junge Bromme liest die „Thüringer Waldpost“, ein sozialistisches Tarnblatt.

Im Mittelpunkt seiner 1905 veröffentlichten „Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters“ steht ein optimistischer Bildungsidealismus, gerade weil Bromme als guter Schüler wegen der Armut seiner Eltern keine höhere Schule besuchen konnte. Er liest Ferdinand Lassalle, August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“. Marx und Engels werden nicht erwähnt, umso mehr die Anschaffung der „billigen“ und trotzdem den Arbeiterhaushalt stark belastenden „Klassikerausgaben der deutschen Verlagsanstalt: Goethe, Schiller, Heine, Uhland, Lessing, Lenau, Shakespeare“: „Zu Grabbes 100jährigem Geburtstage kaufte ich mir auch dessen Werke. Vorher hatte ich nie etwas von diesem unglücklichen Dichter gehört, der durch seine Misserfolge dem Trunke in die Arme getrieben und dadurch dem Tode ausgeliefert wurde. Warum haben mir meine Lehrer nichts von ihm erzählt? Die ‚Hermannschlacht‘ und der ‚Napoleon’ sind doch wirklich grandiose Schöpfungen“. Es folgen Ausgaben von Shelley oder Byron, von Kleists „Prinz von Homburg“, Victor Hugos „Elende“, Ausgaben von Gorki, von Tolstois „Krieg und Frieden“ und vieles andere mehr: „Unsereiner fand wenigstens Trost bei einem Buche, damit träumte man sich aus dem engen Dasein in eine höhere Welt hinein; aber hier war nur grenzenloses Elend, Not, Unwissenheit und Stumpfsinn.“

Franz Rehbein (1867–1909), Sohn eines armen Schneiders und einer im Taglohn arbeitenden Wäscherin, am Ende seines Lebens invalide als Lokalredakteur für den „Vorwärts“ tätig, wird mit kaum zehn Jahren als Dienstjunge in ein Proletenleben gestoßen. Als Hüterjunge auf einem Gutshof, als Knecht und Taglöhner erlebt er auf hinterpommerschen Gütern die feudal patriarchalische Herrschaft über das Gesinde. Rehbein eröffnet sein 1911 zwei Jahre nach seinem Tod veröffentlichtes „Leben eines Landarbeiters“ dementsprechend: „Hinterpommern! Puttkamerun!! – - Schon bei dem bloßen Gedanken an diese etwas verrufene Ecke unseres lieben deutschen Vaterlandes wird’s einem so merkwürdig ‚östlich‘ zumute. Es ist, als wenn heute noch ein Hauch des Mittelalters über die pommerschen Flachfelder weht. Ein Adelssitz am andern, Rittergut an Rittergut; Stammschlösser und Taglöhnerkaten, Herrenmenschen und Heloten.“ Um abschließend zu resümieren: „Übermäßig lange Arbeitszeit, völlig unzureichende Entlohnung, elende Wohnungszustände, vielfach schlechte Kost und noch schlechtere Behandlung, und demzufolge auch ein nicht fortzuleugnender geistiger Tiefstand in der großen Masse des ländlichen Proletariats. Als lähmende Rechtsfesseln umschließen das Ganze: hundertjährige Gesindeordnungen, einseitig im Interesse der Großlandwirte abgefasste Kontrakte und veraltete Koalitionsbeschränkungen.“

Im schleswig-holsteinischen Land erlebt Rehbein die Verwandlung des halbhörigen Knechts in den agrarischen Lohnarbeiter infolge der Einführung der Dampfdreschmaschine, „das System der Lohndrescherei im Umherziehen“ von Hof zu Hof. Nach oft 15stündiger Arbeit an einem solchen „Schinderkasten“ „ist die Nase vom Einatmen der Staubmassen förmlich verstopft, und beim Ausspeien kommen ganze Klumpen schwärzlichen Schleimes vom Halse heraus“. Ein solches Ungetüm reißt Rehbein 1896 einen Arm ab.

Über einen roten Schuster findet der zwanzig Jahre alte Rehbein 1886 zum Sozialismus. Der Schuster zeigt ihm ein illegales Exemplar des „Sozialdemokrat“: „Ganz geheimnisvoll sagte er mir, dass dieses Blatt in Deutschland eigentlich verboten sei, doch ein Verwandter von ihm habe es ihm im Paket aus Hamburg zugeschickt, er habe schon sogar einen ganzen Haufen davon. Ich selbst hatte ja kaum eine Ahnung davon, dass damals das Sozialistengesetz existierte und diese Blätter nach Deutschland eingeschmuggelt wurden. (…) Und wie warm das Blatt für die Arbeiter schrieb.“

Später im Holsteinischen gibt ihm ein Lehrer Lassalles „Reden und Schriften“: „Bald darauf borgte mir ein Taglöhner – wohlgemerkt: ein Taglöhner – aus Norddeich, wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung allgemein der ‚Rote Hannes‘ genannt, das Buch ‚Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft‘ [von Friedrich Engels] und Bebels ‚Frau‘. (…) Das las sich in der Tat anders, wie schöngeistige Schnurren, Grafenromane oder Räubergeschichten. Was gingen mich jetzt noch all die seichten Literaturschmarren an, in denen die Arbeiter nur stets wie das fünfte Rad am Wagen behandelt wurden.“

Joseph Belli (1849–1927), Sohn eines badischen Kleinbauern, kommt nach Wanderjahren als Schuhmachergeselle Ende der 1860er Jahre vom katholisch „bigotten“ Gesellenverein zur Sozialdemokratie. Als Schuhmacher am Bodensee ansässig organisierte er seit 1879 im Auftrag des „Roten Feldpostmeisters“ Julius Motteler den illegalen Transport verbotener sozialistischer Literatur von der Schweiz nach Deutschland mit. Als Angestellter im Dietz-Verlag veröffentlichte Belli 1912 „die rote Feldpost unterm Sozialistengesetz. Mit einer Einleitung: Erinnerung aus meinen Kinder‑, Lehr- und Wanderjahren“: „Ich empfing die Pakete [mit dem „Sozialdemokraten“], und einige Genossen halfen mir, die Schriften unter Kleidern verborgen über die Grenze zu nehmen. Den größeren Teil schmuggelte meine Frau im Kinderwagen. Da waren Kissen, Matratze und Bettchen angefüllt. Die Grenzbeamten achteten anfangs nicht darauf, schon weil sie bei solchen Durchsuchungen ihre Nase ängstlich schonten.“

Otto Krille (1878–1954) wuchs in dörflicher Armut als Sohn einer verwitweten Guts- und Fabrikarbeiterin in der Umgebung von Riesa an der Elbe auf. Der Mutter blieb „nichts übrig als die Gutsarbeit, die schwere und schlecht entlohnte. Zur Wohnung erhielten wir das Armenhaus, mit einer Stube zu ebener Erde und einem nach der Stiege offenen Bodenraum. Es stand ein Stück abseits vom Dorf, gleichsam um damit anzudeuten, dass die Insassen nicht gesellschaftlich gleichberechtigt mit den übrigen Dorfbewohnern waren.“ 1914 schildert Krille in einer autobiographischen Erzählung „Unter dem Joch“, wie die Mutter um ihr zustehende Gemeindeunterstützungen kämpft, was ihr den Ruf einer „Sozialdemokratin“ einträgt: „‚Sie sind ja der reinste Sozialdemokrat.‘ Natürlich kannte die Mutter diese Menschengattung gar nicht.“

Der junge Krille bildet sich abseits der miserablen Volksschule über Zufallsfunde weiter: „Einmal kam mir ein kleines Heft mit gelbem, zerrissenem Umschlag zu Gesicht. Darauf stand ‚Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand‘. Es war ein Heft der Reclamschen Universalbibliothek, das ich mit Interesse durchlas, meine erste Bekanntschaft mit der deutschen Literatur. Später fiel mir noch ein größeres Buch mit Biographien ‚berühmter Männer‘ in die Hände. Da erfuhr ich zuerst etwas von Schiller und dass er ein großer Dichter gewesen. Ich erinnere mich auch an eine Abhandlung über Christian Friedrich Daniel Schubart und Theodor Körner. (…) Die Flucht Schillers aus der Karlsschule und Körners Teilnahme am Lützowschen Freikorps entfesselten meine Begeisterung und Phantasie.“ Mit etwa vierzehn Jahren zieht Krille „in Schillers ideales Reich ein“. Er liest schwärmerisch den „Don Carlos“ und die „Räuber“.

Über einen älteren Bruder kommt Otto Krille zur Sozialdemokratie. Von ihm erhält er den „Wahren Jakob“, den „Süddeutschen Postillon“ und andere Parteiliteratur. Krille liest die „Sächsische Arbeiterzeitung“. Gelegentlich erhält Krille ein Exemplar der „Neuen Zeit“, dem Theorieorgan der Sozialdemokratie. Der junge Krille ist beeindruckt von Gerhart Hauptmanns Sozialdrama „Weber“.

Als Weber in einer Dresdner Strohhutfabrik erschöpft die Monotonie an der Spulmaschine den jungen Krille in jeder Hinsicht: „Die Arbeiter und Arbeiterinnen waren nur zu einem kleinen Teil organisiert. Meine Begierde, von Sozialismus und Sozialdemokratie etwas zu erfahren, wurde dort nicht befriedigt. (…) Erschreckend deutlich stand bald das Schicksal einer ganzen Klasse vor mir. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr immer dieses einförmige Leben ohne Kurven; wie die Fäden auf meiner Maschine, so spulten sich die Tausende von Leben ab, jahrhundertelang.“ Bei der „ewigen Fabrikschufterei geht man so bald kaputt“. Das „Akkordsystem“ macht die Arbeiter zu Konkurrenten: „Die Hutarbeiter waren schlecht organisiert, das heißt, es war ein großer Teil ‚wild‘. Ein verloren gegangener Streik hatte stark desorganisierend gewirkt.“[5]

Besonders wirksam waren die zwischen 1910 und 1914 erscheinenden Erinnerungen von August Bebel „Aus meinem Leben“. Auch wenn Bebel als Sohn eines gedrückten Unteroffiziers eine Kindheit in rheinisch-preußischen Kasematten und ein Schicksal als wandernder Drechslergeselle darlegt, steht die politische Entwicklung im Mittelpunkt, seine Begegnung mit den Lassalle’schen Arbeitervereinen in den 1860er Jahren, die Begegnung mit Wilhelm Liebknecht.

Im ersten knapp vor dem Parteitag von Eisenach 1869 endenden Band beschreibt Bebel den Weg zum Sozialismus, vor allem den Weg zu Karl Marx als einen Umweg über Ferdinand Lassalle. Erst relativ spät hat Bebel kleinere Schriften von Marx und Engels gelesen: „Ich bin vielmehr, wie fast alle, die damals Sozialisten wurden, über Lassalle zu Marx gekommen. Lassalles Schriften waren in unseren Händen, noch ehe wir eine Schrift von Marx und Engels kannten. (…) Das Kommunistische Manifest und die anderen Schriften von Marx und Engels wurden aber der Partei erst gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre bekannt. Die erste Schrift, die mir von Marx in die Hände kam und die ich mit Genuss las, war seine Inauguraladresse für die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Diese Schrift lernte ich Anfang 1865 kennen. Ende 1866 trat ich der Internationale bei.“

Für den zweiten Band, von den Jahren vom Hochverratsprozess 1871 über den Gothaer Vereinigungsparteitag bis hin zum Sozialistenverbot 1878 reichend, benützt Bebel die Korrespondenz mit den „Klassikern“, wie er im September 1911 im Vorwort festhält: „Außerdem gelangten, da ich als Miterbe des Friedrich Engelsschen literarischen Nachlasses testamentarisch eingesetzt worden war, die meisten meiner Briefe wieder in meinen Besitz, die ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte mit Friedrich Engels und Karl Marx gewechselt hatte. Den Hauptinhalt dieser Briefe, die wesentlich in die Zeit des Sozialistengesetzes fielen, werde ich im dritten Bande benutzen.“ Unter einem kündigt Bebel auch noch den dritten unvollendet mit dem Jahr 1883 endenden Band an: „Dieser letztere, wird, vorausgesetzt, dass mir überhaupt das Leben und die nötigen Kräfte verbleiben, erst nach längerer Zeit erscheinen. Die Vorarbeiten befinden sich noch in den Anfängen. Möglicherweise muss ich diesen dritten Band in zwei Teile zerlegen. Sein Inhalt wird die zwölf Jahre Sozialistengesetz, die ‚Heroenzeit‘ der Partei, wie diese Periode genannt wird, umfassen.“[6]

Ab der Jahrhundertwende 1900 erscheinen in Österreich zahlreiche sozialistische Erinnerungen in monographischer Form, in skizzenhafter Essayform, manche der Form des bürgerlichen Erziehungsromans nahekommend, andere im strengen „proletarischen Realismus“ gehalten, das individuelle Arbeitsleben mehr oder weniger geschickt mit der allgemeinen sozialistischen Bewegung verbindend, manche sich an die politische Geschichte haltend, manche gestaltend im Sinn einer fiktionalen Erzähllogik.[7]

In der seit dem Hainfelder Parteitag ab 1889 zahlreichen sozialdemokratischen Presse werden unzählige Feuilleton-Skizzen, Berichte, Reportagen, Milieuschilderungen veröffentlicht.[8]

Max Winters alltagsgeschichtliche Reportagen zur Arbeitswelt um 1900 verbanden den Sozialbericht mit statistischen Erhebungen etwa zum Preis‑, Lohnniveau, zu betrieblichen Größenverhältnissen oder zu elenden Wohnverhältnissen. Max Winter (1870–1937) hat als Redakteur der Wiener „Arbeiterzeitung“ Vereinschroniken, Konsumvereinsprotokolle, Essensverzeichnisse, Zeitverwendungsbogen, Katasterblätter oder Haushaltungsregister erhoben. Winter skizziert im Jahrzehnt nach 1900 das Leben „Alpine-Sklaven“, der „Wiener Heimarbeiterinnen“ (1905), der Waldarbeiter unter dem Ausbeutungsregime des Schwarzenbergschen „Blutsaugers“ im Böhmerwald, über Eisen- und Bergarbeiter.[9]

Josef („Seff“) Schiller (1846–1897), „radikaler“ Mitorganisator des Neudörfler Parteitags 1874, beschreibt 1890 in bis in das Jahr 1876 reichenden „Blättern und Blüten aus dem Kranze meiner Erinnerungen“ den Weg aus dem „alltäglichen dumpfen Dahinjammern“, aus Aberglauben und Vorurteilen in einen sozialistischen Arbeiterbildungsverein. Er erinnert an den böhmischen Arbeiterorganisator Josef Krosch, der den jungen Genossen die Schriften von Lassalle nahebringt, an sein eigenes Schicksal als gelernter Weber, als Chemielohnarbeiter, als Anstreicher, als fahrender Händler, als Kohlenschlepper: „Durch dieses öffentliche [sozialistische] Auftreten wurde man selbstverständlich bald aufmerksam auf mich und die Hetzjagd ums tägliche Brot begann. Die Fabrikanten und Arbeitgeber mochten nichts mehr wissen von mir.“ In „Bildern aus der Gefangenschaft“ beschreibt Schiller seine Haftzeit 1882/83, wie Hochrufe in Erinnerung an die Pariser Kommune mit verschärftem Arrest geahndet wurden.

Wenzel Holek (1864–1935), Wanderarbeiter in Ziegeleien, Zucker‑, Glasfabriken, beschreibt 1909 den „Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters“, wie er als Sohn von Analphabeten auch selbst das Lesen und Schreiben kaum erlernt hatte: „Die Sprachlehre, Biegungen, waren mir fremd, ganz unbekannt geworden, deshalb auch das Rechtschreiben. Mir war es nun schon ganz gleich, wenn ich das ‚y‘ dorthin setzte, wo das ‚i‘ gehörte.“ Schonungslos naturalistisch zeichnet Holek die Erdarbeiter, die „Abraumaken“, die „Karrenleute“ im Duxer Kohlentagebau, erinnernd an düstere degradierte Sklavengestalten in Zolas „Germinal“, an erledigte, trunksüchtige Proleten in Maxim Gorkis Erzählungen. Mit „Befreiung“ überschreibt Holek den Weg zur Sozialdemokratie Mitte der 1880er Jahre. Über ein illegales Flugblatt hört er erstmals vom Arbeiterrecht. Holek erzählt, wie der Duxer Bergarbeiterstreik und der Brünner Weberstreik 1885 seine Sympathie für den Sozialismus geweckt haben. Ein Schumacher und ein Maurer verschaffen Holek in Aussig Zugang zur tschechischen sozialistischen Zeitung „Duch Casu (Geist der Zeit)“. Sie warnen ihn, allein die Zusendung der Zeitung könnte zu Hausdurchsuchung und Polizeiverhör führen: „Allmählich wurde ich nun auch bei den übrigen Anhängern, erprobten Genossen und Sozialisten, eingeführt.“

Robert Köhler, 1841 in Böhmen geboren, nach einer Lehre als Blattbinder jahrelang mit dem Bettelsack auf der Walz durch Westböhmen, Sachsen, Bayern oder Tirol Arbeit in einer Wiener Webkammfabrik, dann bis zu seiner Verwundung bei Königgrätz 1866 zahlreiche Soldatenmisshandlungen miterlebend, gelangt in den 1870er Jahren als Agitator zur sozialistischen Bewegung in der Umgebung von Prag. Köhler notiert in seinen „Erinnerungen aus dem Leben eines Proletariers“ (1913 in Reichenberg erschienen): „1873 wurde ich gemaßregelt, ich musste fort, der böse Störenfried bekam nirgends Arbeit und so ging ich nach Deutschland. Dort hatte ich mir etwas erworben. Doch ich war in der Partei tätig, war ab und zu in Versammlungen gewesen, wurde unter dem Sozialistengesetz acht Wochen eingesperrt und dann ausgewiesen. (…) Zu Hause kam ich vom Regen unter die Traufe. Mit dem Kainsmal des Ausgewiesenen gekennzeichnet, hieß es Arbeit suchen. Doch nichts konnte mich abhalten, immer wieder einzutreten. Hausdurchsuchungen und Einvernahmen waren an der Tagesordnung. (…) Das Wort Sozialdemokrat war gleichbedeutend mit Räuberhauptmann.“

Ferdinand Hanusch (1866–1923), der spätere erste Sozialminister der österreichischen Republik, stellt die oft apathisch deklassierte Verelendung von Proletariern in den Mittelpunkt seiner nach 1900 veröffentlichten Prosatexte über „Erinnerungen eines Walzbruders“, „über ernste und heitere Episoden aus dem Leben unserer Agitatoren“, über die „Namenlosen. Geschichten aus dem Leben der Arbeiter und Armen“.

Von einem freireligiös idealistischen Ideal, vom Bemühen, die Arbeiter an eine humanistisch bürgerliche Kultur heranzuführen, ausgehend stellt Alfons Petzold (1882–1923) den kaum klassenbewussten, leidenden, um ein wenig Zufriedenheit ringenden Proletarier in Bettgeherspelunken, in stickigen, lärmenden Fabrikhallen dar. Petzolds Sympathie gilt den subproletarischen Schichten, Obdachlosen, Vagabunden, Dirnen. In seiner Selbstbiographie „Das rauhe Leben“ beschreibt Petzoldt seine von Krankheit, Not und fehlender Schulbildung überschattete Kindheit, seine marginalisierte Existenz am Taglöhnerstrich als Laufbursche, Fensterputzer. Gegen den Willen des Vaters, der Bücher als „dämliche Schwarten“ abtut, las der junge Petzold Schiller, Heine, Uhland, Brentano oder Tieck. Obwohl er 1901 in die Sozialistische Arbeiterjugend eintritt, wird aus Alfons Petzold nie ein kämpferischer Arbeiter.[10]

Nicht nur die Lebenswelt, sondern auch die politischen Kämpfe, die parteiinternen Rivalitäten zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“ im Vorfeld des Hainfelder „Einigungsparteitages“ (1888/89) werden in den Mittelpunkt der Arbeiterliteratur gestellt. Andreas Scheu (1844–1927) beschreibt im hohen Alter 1923 nicht nur seine Lehrzeit als Vergolder in den Jahren um 1860, sondern auch den Weg in die sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereine ab 1867, seine Teilnahme an den Wiener Massendemonstrationen für das Streikrecht 1869, seine Verurteilung zu fünf Jahren Haft im Hochverratsprozess 1870, seine Rolle in den Fraktionskämpfen im Vorfeld des Neudörfler Parteitages 1874 und seine Auswanderung nach England. Schon 1912 hatte sein Bruder Heinrich die Frühgeschichte des österreichischen Sozialismus im Vorfeld des „Hochverratsprozesses“ von 1870 dargelegt.[11]

Vom Standpunkt der Viktor Adler zugeschriebenen Parteieinigung von 1889 berichteten Anton Weiguny und Josef Hannich. Josef Hannich (1843–1934), ursprünglich Weber, dann Reichenberger und Brünner Arbeiterzeitungsredakteur, später sozialdemokratischer Abgeordneter, gestaltet seinen Rückblick als allgemeine sozialistische Bewegungsgeschichte in den nordböhmischen Industriegebieten. Hannich, beteiligt an ersten Lohnkämpfen der Tuchweber, Weggefährte von sozialistischen Pionieren des Reichenberger Bezirks wie dem 1870 in Prager Untersuchungshaft umgekommenen Josef Krosch, orientiert seine Memoiren gegen die „Radikalen“, die er nur unter dem Titel einer erfolglosen „Anarchisterei“ sehen will: „Dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht, sowie der Arbeiterschutz bei den Anarchisten keinen Schuss Pulver wert waren, mag heute vielen unglaublich erscheinen, damals aber war es so.“[12]

Ähnlich, wenn auch mehr vom Standpunkt der individuellen Lebenswelt schildert Anton Weiguny (1851–1914), der „Bebel von Linz“, wie er Mitte der 1860er Jahre als Schneidergeselle erstmals von Lassalle gehört, die Differenzen zwischen „Selbsthilflern“ und „Staatshilflern“ gesehen, wie er 1869 in Linz Johann Most gehört hat, wie er 1870 den ersten Linzer Schneiderstreik mitorganisiert hat. Weiguny beschreibt auf der Linie des „Hainfelder Programms“ stehend, wie er noch in den 1890er Jahren „einige Scharmützel mit frei herumlaufenden Sozialrevolutionären“ aus dem Umfeld der „beiden bekannten Anarchisten Schneider Rißmann und Bäcker Krcal“, aus dem Umfeld von Josef Peukert oder Johann Most zu bestehen gehabt hat.[13]

Gustav Haberman (1864–1932), seit 1907 sozialdemokratischer Reichsratsabgeordneter, nach 1918 Minister in der tschechoslowakischen Regierung, vermittelt in seinen Erinnerungen zwischen dem Erbe der beiden Parteiflügel: „’Schreib’s auf!’ sagten sie mir. Sie würden mir einen Stenographen besorgen, der das gesprochene Wort einfängt. (…) Bis ich in Pension geh’, schreib’ ich meine Erinnerungen irgendwo in der Hütte eines verfallenen tschechischen Dorfes. Früher nicht.“ Schlussendlich gelang es jedoch, Haberman zur Abfassung seiner an die „bizarr romantische Phantasie Mark Twains“ anstreifenden Erinnerungen zu bewegen: „Die mörderischen Kerkerwände, das Exil, Obdachlosigkeit, Hunger und Arbeit bis zur Erschöpfung – all dies hat diesen Mann nicht kleinbekommen (…).“[14]

Der Arbeiterradikale Johann Most (1846–1906) veröffentlicht 1903 in New York seine „Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes“. Sie nehmen auch Bezug auf sein Wirken in der österreichischen Arbeiterbewegung, vor allem auf seine Rolle als Angeklagter im Hochverratsprozess 1870.

Mit Josef Peukert (1855–1910) war in den 1880er Jahren ein weiterer Sozialrevolutionär aus der österreichischen Arbeiterbewegung verdrängt worden. Gustav Landauer gibt Peukerts „Erinnerungen eines Revolutionärs“ heraus, nicht zuletzt um den ins Abseits gedrängten (österreichischen) Arbeiterradikalismus zu rehabilitieren. Für Landauer macht gerade ein gewisser „Proletarierdilettantismus“ den Wert von Peukerts Buch aus: „Dieses Memoirenbuch, das in so mannigfacher Hinsicht lehrreich ist, ist auch aufschließend über einen gewissen, oft rührenden, manchmal ärgerlichen Proletarierdilettantismus, durch den der Schiffbruch mancher begeisterten Bewegung, viele Verworrenheit und arges gegenseitiges Unrecht erklärt wird. Ein Dilettantismus des Schreibens, Agitierens, Organisierens viel weniger noch als vor allem ein Dilettantismus des Lebens, der sie einander in ihrer Verschiedenheit nicht verstehen und dulden lässt.“[15]

Zwanzig Jahre zuvor hatte der radikal syndikalistische Bäckergeselle August Krcal (1862–1894) der parlamentarisch reformistischen Linie der Adler’schern Sozialdemokratie widersprochen. Krcal schrieb Anfang der 1890er Jahre die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung – „kaum älter als ein Viertel Jahrhundert“ – als eine des verräterischen Kompromisses, wofür er die am Wahlrecht, am Stimmzettel hängende „wissenschaftliche Sozialdemokratie“ angeführt vom Typus August Bebel, Karl Liebknecht und vor allem von Viktor Adler verantwortlich macht: Diese „sind längst reif, von den herrschenden Staatsautoritäten für ihre wunderbaren Staatsdogmen dekoriert zu werden“.[16]

Mit der Gründung des austromarxistischen Theorieorgans „Der Kampf“ konnten ab 1907 in regelmäßiger Folge proletarische Erinnerungen, teils von Arbeitern, teils von sozialistischen Parteiintellektuellen veröffentlicht werden. In den sieben vor 1914 erscheinenden Jahrgängen des „Kampf“ sind gut ein Dutzend derartige historische Beiträge veröffentlicht worden, wobei neben Autoren aus dem Wiener Raum vor allem vom sozialistischen „Reichenberger Gift“, vom „Neisse-Manchester“ geprägte, in militärisch niedergeschlagenen Streikkämpfen geschulte, in der „Prager Universität“, dem Prager Gefangenenhaus, radikalisierte Sozialdemokraten arbeiterhistorische Berichte vorstellten.[17]

Adelheid Popp (1869–1939) legte 1909 anonym die „Jugend einer Arbeiterin“ vor. Innerhalb eines Jahres erfolgten drei weitere Auflagen. Auf Wunsch von August Bebel veröffentlichte Popp das Buch unter ihrem Namen. Bebel verfasste auch ein Vorwort. Adelheid Popp beschreibt das Elend einer proletarischen Kindheit, ihre Betteltouren, eine analphabetische Mutter, die wenig von einem Schulbesuch hält, dann den Weg zur Sozialdemokratie, zum Kampf für die Rechte der Arbeiterinnen, die Agitation für den Zehnstundentag, die Bewegung für den 1. Mai 1890, die Lektüre der Schriften von Engels, Lassalle, Liebknecht.

Seit 1912 lag auch ein von Adelheid Popp aus Anlass „20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung“ herausgegebenes Erinnerungsbändchen mit Beiträgen von Arbeiterinnen und auch von Sozialistinnen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund: „Wir sind aber gewohnt, die Entstehung der Arbeiterinnenbewegung mit der Herausgabe der ‚Arbeiterinnen-Zeitung’ zu verbinden, was ja auch richtig ist, da erst durch die ‚Arbeiterinnen-Zeitung’ die Bewegung in die Provinz getragen wurde. Zuerst war es nur eine Wiener Bewegung. Die ‚Arbeiterinnen-Zeitung’ erschien aber zum erstenmal im Jänner 1892, also vor 20 Jahren.“

Nicht nur die proletarische Leidensgeschichte, sondern auch die kämpfende sozialistische Entwicklung von Frauen unter schwierigen Bedingungen wird dargelegt. In diesem Sinn eröffnet Anna Altmann die Reihe der autobiographischen Artikel. Von Popp wird Altmann in der Einleitung als die Pionierin der österreichischen Sozialistinnen gewürdigt: „Damals (um 1890 – Anm.) gab es in Wien noch keine Rednerin. Die Genossin Anna Altmann, eine in Nordböhmen schon bekannte Kämpferin, wurde nach Wien berufen, um hier über den Zweck des Arbeiterinnen-Bildungsvereines zu referieren.“

Nicht nur das Arbeiterinnen-Elend, sondern auch deren Kampf wird geschildert, so die Mühen der sozialistischen Wanderagitatorinnen in den 1890er Jahren, etwa von Sophie Jobst und von Anna Boschek, so der erste Textilarbeiterinnenstreik 1893, den Amalie Seidl mitorganisierte, so der erste Weg der späteren „Kriegslinken“ Gabriele Proft in eine sozialdemokratische Parteiversammlung mit dem Redner Franz Schuhmeier 1896.

Auch das Zögern, die eigene Geschichte darzustellen, leuchtet durch, etwa bei der das Elend in den Wienerberger Ziegelwerken miterlebenden Weißnäherin Amalie Pölzer: „Es ist ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, über sich selbst etwas zu schreiben. Nicht dass ich etwas zu verbergen hätte oder dass ich mich schämen würde, einzugestehen, wie indifferent ich war und dass es längere Zeit dauerte, bis ich den Sozialismus verstand. Fehlten mir doch alle Vorbedingungen, die mich befähigt hätten, die sozialistischen Lehren rasch aufzunehmen. Als ich noch die 3. Bürgerschulklasse besuchte, machte ich mir schon einen Plan, was ich anfangen würde nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres. Mein Ideal war, Köchin zu werden.“[18]


[1] Vgl. Walter Fähnders und Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik. Band 2, Reinbek 1974, 243–263.

[2] Vgl. Alfred Klein: Die Arbeiterklasse im Frühwerk Hans Marchwitzas, in derselbe: Im Auftrag der Klasse. Weg und Leistung der deutschen Arbeiterschriftsteller, Berlin-Weimar 1972, 544–610 und 774–800.

[3] Karl Marx – Friedrich Engels: Werke (MEW) 36, Berlin 1979, 544–547.

[4] Vollständige Liste der Autoren und Autorinnen in Wolfgang Emmerich (Hrg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, Reinbek 1974, 384–392. [Vgl. auch Band 2. 1914 bis 1945, Reinbek 1975]. Vgl. auch Gerald Stieg – Bernd Witte: Abriss einer Geschichte der deutschen Arbeiterliteratur, Stuttgart 1973, 58–64.

[5] Otto Krille: Unter dem Joch. Geschichte einer Jugend (1914), herausgegeben und eingeleitet von Ursula Münchow, Berlin 1975, 4, 7, 11f., 92f.

[6] Vgl. Ursula Münchow: Frühe deutsche Arbeiterautobiographien, Berlin 1973, 18–41.

[7] In Auszügen veröffentlicht in Stefan Riesenfellner (Hrg.): Arbeiterleben. Autobiographien zur Alltags- und Sozialgeschichte Österreichs 1867–1914, Graz 1989.

[8] Vgl. Textsammlungen von Friedrich G. Kürbisch, wie „Wir lebten nie wie Kinder. Ein Lesebuch (Bonn 1983)“ oder „Der Arbeitsmann, er stirbt, verdirbt, wann steht er auf? Sozialreportagen 1880 bis 1918 (Bonn 1982).

[9] Vgl. Stefan Riesenfellner (Hrg.): Arbeitswelt um 1900. Texte zur Alltagsgeschichte von Max Winter, Wien 1988.

[10] Zur literaturgeschichtlichen Einschätzung von Josef Schiller, Andreas Scheu, Ferdinand Hanusch, Alfons Petzold und Adelheid Popp vgl. Wolfgang Quatember: Erzählprosa im Umfeld der österreichischen Arbeiterbewegung. Von der Arbeiterlebenserinnerung zum tendenziösen Unterhaltungsroman (1867–1914). (=Materialien zur Arbeiterbewegung 51), Wien 1988. Vgl. Alfons Petzold: Ich mit müden Füßen. Textsammlung, hrg. von Ludwig Roman Fleischer, Wien 2002.

[11] Vgl. Andreas Scheu: Umsturzkeime. Erlebnisse eines Kämpfers, 3 Bände, Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1923 und Heinrich Scheu: Erinnerungen. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1912.

[12] Vgl. Josef Hannich: Erinnerungen. Ein Beitrag zu der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Verlag „Nordböhmische Volksstimme“, Warnsdorf 1910.

[13] Vgl. Anton Weiguny: Erinnerungen eines Alten aus den Anfängen der oberösterreichischen Arbeiterbewegung, Linz 1911.

[14] Vgl. Gustav Haberman: Aus meinem Leben. Erinnerungen, Prag 1919.

[15] Vgl. Josef Peukert: Erinnerungen eines Revolutionärs. Aus der revolutionären Arbeiterbewegung, hrg. und eingeleitet von Gustav Landauer, Verlag des sozialistischen Bundes, Berlin 1913.

Vgl. zur Dominanz sozialdemokratischer Geschichtsinterpretation Anna Staudacher: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld. Die Radikale Arbeiter-Partei Österreichs (1880–1884), Wien 1988, 1f. und Karl Heinz Roth: Die „andere“ Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart, zweite Auflage, München 1976.

[16] Vgl. August Krcal: Zur Geschichte der Arbeiter-Bewegung Oesterreichs 1867–1894. Eine kritische Darlegung [1893/94 – nach Krcals Tod wiederholt ergänzt herausgegeben], Verlag Monte Verita, Wien 1985.

[17] Vgl. u.a.m. L.A.Bretschneider: Vor Hainfeld, in: Der Kampf 1 (1907/08), 211–216; Jakob Reumann: Propaganda der Tat, in: Der Kampf 2 (1908/09), 277–282; Jakob Reumann: Unser erster Mai, in: Der Kampf 2 (1908/09), 349–353; Eduard Rieger: Nordböhmische Reminiszenzen, in: Der Kampf 2 (1908/09), 158–164; Anton Schäfer: Aus der Geschichte der nordböhmischen Arbeiterbewegung, in: Der Kampf 3 (1909/10), 84–87; Robert Preussler: Erinnerungen aus der Arbeiterbewegung, in: Der Kampf 3 (1909/10), 469–475; Franz Uhlik (Graupen): Rückblicke. Einem alten Genossen Nacherzähltes und Selbsterlebtes, in: Der Kampf 5 (1911/12), 30–37 oder Adolf Reitzner (Bodenbach): Wie es einst war, in: Der Kampf 5 (1911/12), 176–182.

[18] Vgl. Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung, im Auftrag des Frauenreichskomitees herausgegeben von Adelheid Popp, Kommissionsverlag der Wiener Volksbuchhandlung „Vorwärts“ (Wien V), Wien 1912 mit Beiträgen von Adelheid Popp, Anna Altmann, Emma Adler, Aurelia Roth, Rosalie Schnitzinger, Amalie Seidl, Marie Beutelmeyer, Lotte Pohl, Sofie Jobst, Anna Boschek, Amalie Pölzer, Anna Maier, Betti Huber, Anna Perthen, Marie Koch, Therese Schlesinger, Marie Sponer, Emmy Freundlich und Gabriele Proft.

Ungeklärter „Angriff“ auf Golan

0

Bei einem ungeklärten „Angriff“ auf den von Israel besetzten Golanhöhen sind am gestrigen Samstag 12 Menschen gestorben. Israel macht dafür die libanesische Hisbollah verantwortlich. Diese bestreit die Verantwortung und sagt, dass der Angriff nicht von ihnen gekommen ist. Erneut droht die Situation im Nahen Osten zu eskalieren. Seit dem 8. Oktober gibt es beinahe täglich Gefechte zwischen der libanesischen Hisbollah und der israelischen Armee.

Am gestrigen Samstag sind in der Ortschaft Majdal Shams auf den von Israel besetzten Golanhöhen 12 Menschen gestorben und 29 Menschen verletzt worden, wie die israelische Zeitung Haaretz berichtet. Eine Rakete hatte einen Fußballplatz getroffen. Haaretz berichtet auch unter Berufung auf einen Arzt, dass die Toten allesamt Kinder im Alter von acht bis vierzehn Jahre sind. Majdal Shams ist eine drusische Gemeinde.

Israel beschuldigt Hisbollah

Bereits eine halbe Stunde nach dem Angriff machte Israel die libanesische Hisbollah für den „Angriff“ verantwortlich. Israel spricht davon, dass es die höchste Zahl an getöteten Zivilistinnen und Zivilisten bei einem Angriff seit dem Ausbrauch palästinensischer Gruppen aus dem Gazastreifen sei. In Wahrheit ist damit lediglich gemeint, die höchste Zahl von israelischen Zivilistinnen und Zivilisten, den die israelischen Streitkräfte (IDF) töten im Gazastreifen täglich bei Angriffen ein Vielfaches an palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten darunter tausende von Kindern.

Daniel Hagari, Sprecher der IDF, behauptet, dass es sich bei der Rakete, die den Fußballplatz getroffen hat, um eine iranische Rakete des Typs Falaq 1 handelt. Falaq 1 ist mit einem Sprengkopf von 50 Kilogramm ausgestattet. Die Hisbollah hatte in der Vergangenheit bereits solche Raketen bei Angriffen auf das israelische Militär verwendet. Hagari erklärte außerdem, dass die Raketen vom libanesischen Dorf Chebaa aus abgefeuert wurde.

Verteidigungsminister Yoav Gallant traf sich mit dem Generalstabschef Herzl Halevi und hochrangigen Mitgliedern des Verteidigungsestablishments um eine Reaktion Israels zu beraten. Der israelische Außenminister Israel Katz kündigte unterdessen an, dass Israel sich „einem totalen Krieg gegen die Hisbollah“ nähere. Die israelische Luftwaffe hat unterdessen bereits am Sonntag morgen mehrere Ziele im Libanon angegriffen und ist dabei tiefer in den Libanon eingedrungen als bisher.

Hisbollah weist Verantwortung zurück

Die Hisbollah bestreitet die Verantwortung dafür und betont, dass es keine eigene Rakete war, die den Fußballplatz getroffen habe. Der letzte Angriff der Hisbollah scheint kurz vor dem Raketeneinschlag auf dem Fußballplatz erfolgt zu sein. Die letzte Meldung der Organisation über einen Angriff auf Israel wurde um 19:30 veröffentlich, wie L’Orient Today berichtet. Zu dieser Zeit wurde in den israelischen Nachrichten bereits über den tödlichen Vorfall berichtet.

L’Orient Today berichtet außerdem, dass in den sozialen Medien eine Diskussion darüber ausgebrochen ist, ob der Fußballplatz von einer Rakete des Iron Domes getroffen wurde, die ihr Ziel verfehlt und dort abstürzte. Iron Dome ist die israelische Luftabwehr gegen Beschuss mit Raketen. Unbestätigten Informationen zu Folge solle eine Nachricht, die Ghaleb Seif, einem drusischen Führer auf den Golan zugeschrieben wird, darüber berichten, dass immer wieder israelische Abfangraketen am Golan und in Galiläa abstürzen und große Schäden anrichten.

Angriff wird verurteilt

International wurde der Angriff verurteilt. Der scheidende liabensische Premierministers Najib Mikati verurteilte in einer Stellungnahme Angriffe auf Zivilistinnen und Zivilisten. „Die Angriffe auf Zivilisten“ stellen „eine eklatante Verletzung des Völkerrechts“ dar und sind „mit humanitären Prinzipien unvereinbar,“ wie er klarstellte. Zugleich forderte er „eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten an allen Fronten“ inklusive des Gazastreifens und forderte die israelische Armee zum Rückzug auf.

Walid Joumblatt, Sprecher der Drusen im Libanon, sprach allen Opfern sein Beileid aus. Er betonte das Dementi der Hisbollah nicht für den tödlichen Vorfall verantwortlich zu sein. Joumblatt hielt zudem fest, dass Israel „seit langem versucht, Konflikte zu entfachen und die Region zu zersplittern“. Er forderte außerdem alle Seiten zur Deeskalation auf.

Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (UNIFIL), die im Grenzgebiet zwischen dem Libanon und den von Israel besetzten Shebaa-Farmen im Einsatz ist, erklärte, dass sie mit den israelischen und den libanesischen Behörden im Kontakt und Austausch ist um eine Eskalation zu vermeiden.

Die USA verkündeten unterdessen, dass sie uneingeschränkt hinter Israel stehen und den Kampf Israels gegen alle vom Iran unterstützten Terrorgruppen unterstützen. Blinken erklärte außerdem auf einer Pressekonferenz in Tokio: „Nichts rechtfertigt Terrorismus, und alles deutet darauf hin, dass die Raketen von der Hisbollah kamen.“

Sowohl die Hisbollah als auch die israelische Armee befinden sich nach dem gestrigen Raketeneinschlag auf den Golanhöhen in höchster Alarmbereitschaft. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet unter Berufung auf Sicherheitsquellen, dass die Hisbollah im Falle eines möglichen israelischen Angriffs einige wichtige Orte sowohl im Süden des Libanon als auch im Osten der Bekaa-Ebene präventiv geräumt habe.

Quelle: L’Orient Today/L’Orient Today/Haaretz/ORF