Marchwitza und Scharrer über das Leben der jungen Arbeiter um 1900
Gastautor: Peter Goller, geb. 1961, Univ.-Doz. Dr. und Archivar an der Universität Innsbruck
Unser Gastautor Peter Goller widmet sich in einer fünfteiligen Artikelserie der Arbeiterliteratur. Im Mittelpunkt steht dabei das Leben und Wirken von Adam Scharrer und Hans Marchwitza. Peter Goller hat sich bereits in früheren Beiträgen für die Zeitung der Arbeit mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befasst.
Das Elend der Eltern, das Elend der Jugend
Der junge Antimilitarist des Jahres 1914 Hans Betzold, im Mittelpunkt von Adam Scharrers „Vaterlandslosen Gesellen“ stehend, führt seit Jugendtagen einen „Kampf gegen die Widerwärtigkeiten des proletarischen Lebens“, ums Überleben in Obdachlosenasylen, bedroht von der Einweisung in „Korrektionsanstalten“ und „Arbeitshäuser“. Er versucht dem Schicksal seiner Eltern, in irgendeinem Straßengraben „langsam hinsterben zu müssen“, zu entgehen. Hans Betzolds Vater war ein im Elend lebender, früh verstorbener „königlicher Straßenwärter“. (VG 17f.) [1]
Gleiches gilt für Heinrich Sperber, die Hauptfigur in Adam Scharrers halb autobiographischem Roman „In jungen Jahren“. Heinrich, 1889 in der bayerischen Pfalz als Sohn eines Gemeindehirten geboren, erlebt die Trostlosigkeit der Dorfarmut, die von seiner Mutter als unabwendbares Schicksal hingenommen wird: „Die Mutter war nämlich der Meinung, dass sich jeder Mensch nach seiner Decke zu strecken habe, und wenn kein Fleisch zum Brot da ist, dann wird das Brot trocken gegessen. Und wenn das trockene Bort nicht reicht, dann werden Kartoffeln mit Salz gegessen. Und wollte auch der Nickelgroschen für Salz fehlen, dann isst man eben Kartoffeln ohne Salz.“ Vater und Mutter schuften sich auf seiner Landkeusche ab, zusätzlich „taglöhnerte der Vater den Winter über im Steinbruch“. (IJ 76)[2]
Hans Marchwitza berichtet ähnlich aus dem schlesisch polnischen Scharley, auf der Landstraße zwischen Beuthen und dem Wallfahrtsort Piekar gelegen: „Die Alte Helenengrube und die zwei Erzwäschen atmeten röchelnd wie große, ermüdete und in Schlaf gesunkene Schlammtiere. Scharley schlief.“
Die für Marchwitzas Jugend stehende Figur des Hans Thomek sieht den Weg seines Vaters als den eines verarmten Kleinstbauern und Landarbeiters: „Während die Verwandten der Mutter schon seit mehreren Generationen als Erzbergleute schafften, hatte der Vater erst nach seiner Soldatenzeit die Taglöhnerarbeit im Dorf aufgegeben und die Grubenlampe genommen, anfänglich mit dem Wunsch, das eingeschrumpfte und mit Hypotheken belastete Anwesen der alten Thomeks zu retten.“
Der junge Hans Thomek will höher hinaus, aber die nach unzähligen Schwangerschaften früh verstorbene Mutter weist ihn auf einen scheinbar rechten Weg: „Du wirst, wie wir alle, schön in eine Erzwäsche ziehen.“ Soziale Regeln erscheinen als unabänderliche Naturgesetze. Armut erscheint als gottgegebenes Schicksal.
Der Vater verfällt immer wieder dem Suff: „Der Vater blieb morgens liegen. Es ging wie früher los. Die Mutter schickte mich jeden Tag aus, ihn in den Schenken zu suchen. Und es kostete mich manches Bitten und Zerren, bis ich ihn heraus- und nach Hause schleppen konnte. (…) Wir kamen wieder ganz herunter. Ich begann oft mit Beten, dann brach ich es aber ab, weil ich nicht mehr glaubte, dass es helfen würde.“ (J 5, 9, 58f.)[3]
Peter Kumiak, der Protagonist von Hans Marchwitzas Familienroman „Die Kumiaks“, verlässt 1921 nach langem Frondienst ein westpreußisches Dorf Richtung Ruhrbergbau. Er will nicht mehr unter der Knute einer Gutsherrschaft arbeiten. Vom Leid des „freien“ kapitalistischen Lohnarbeiters ahnt er nichts. Er will nur heraus aus der gutsherrlichen Abhängigkeit und Gebücktheit, weg aus der Welt der despotisch patriarchalischen Gesindeordnungen. Er „hatte Herrn von Schachanowsi in diesen zwanzig Jahren zahllose Morgen Land bepflügt und abgeerntet, und er hatte ihm jedes Jahr zum Platzen voll die Scheunen gefüllt und hatte nicht gejammert, wenn er sich zuweilen auch nur mit einer handvoll abgekochter Kartoffeln zur Mahlzeit begnügen musste. Denn der größte Teil des ihm zugewiesenen Brotgetreides, die Milch, die seine einzige Kuh hergab, und auch ein paar Schweine, die er sich jährlich unter manchen Sorgen aufzog, wurden verkauft, um Geld für andere, zum Leben nicht minder wichtige Dinge flüssig zu machen.“
Peter Kumiak hat sich immer unterwürfig verhalten. Er hat sich „weder an den heimlich noch offenen Zusammenkünften der anderen Taglöhner, die gegen ihre Bauern murrten“, beteiligt, noch ließ er sich „mit jenen ein, die kürzere Arbeitszeit forderten, gar Enteignung der Herrschaften verlangten. Das erschien ihm ebenso unsinnig, wie der Einfall, durch einen Streik die Bauern zu zwingen, tiefer in ihre Säckel zu greifen.“
Sein Vater hatte ihm ein kleines Fleckchen Land hinterlassen. Peter Kumiak konnte nur mit Mühe den Sarg für seinen verstorbenen Vater bezahlen. Er fürchtete, „sich später seinen Sarg ebenso von seinen Kindern ausborgen zu müssen.“ Da muss man weg, sonst verfiele er dem Suff. Da will er lieber sein „Knochen anbieten“, um Kohle aus dem Berg zu holen.
Kumiaks Frau will das Dorf nicht verlassen, allein im still heimlichen Wunsch des Auswanderns sah sie eine unzulässige Auflehnung gegen die Herrschaft: „Als sie dem Drängen ihres Mannes stattgab, das Dorf zu verlassen und anderwärts ihr Brot zu suchen, da war es ihr plötzlich, als wenn man von ihr selbst ein Stück hinweggerissen hätte. Und am Morgen vor der Abreise, da sie nicht mehr auf das Feld hinzugehen brauchte, fuhr sie alleweil erschreckt zusammen, in dem Gefühl ein Unrecht begangen zu haben. Sie erwartete jeden Moment den Aufseher oder Inspektor.“ (K 9–11)[4]
Ähnlich ergeht es den Hauptfiguren in Adam Scharrers Roman „Der große Betrug“. Irgendwann um 1880 hatte es den alten „Dreckschaufler“ Hieronymus Buchner aus dem Niederbayerischen in die Nähe von Posen verschlagen, nach Marianneneck, zwei Stunden Bahnfahrt von Posen entfernt, von einer Welt der Entbehrung in die nächste, in der es außer einem Dorfball, einigen Raufereien, Gesprächen über Ernte und Wetter so gut wie gar nichts Aufmunterndes gibt. Er ist Holzfäller, Landarbeiter bei der Gutsherrschaft der „Herren von Mottermarck“. Vater Buchner hat alle Mühe sich über Wasser zu halten. Die Arbeit in der Ziegelbrennerei hält er nicht mehr aus: „So ein Leben ist eng und arm. (…) Den ganzen Tag Trab, mit der schwerbeladenen Karre voll heißer Steine vom heißen Ofen hinweg durch die zugigen Gänge zu den Kühlhallen. (…) Länger als zehn Jahre hat das noch keiner gemacht.“
Hieronymus‘ Sohn Karl lernt Schlosser in der Eisenbahnwerkstatt in Posen. Karl kommt zum Militär in Berlin. Er sieht keine Zukunft in der heimatlichen Enge. Er lernt Helene kennen, findet Kontakt zu Sozialdemokraten. Er schmuggelt verbotene Broschüren in die Kaserne: „Als er ging fragte er, ob er die Borschüre leihweise mitnehmen könne, wurde aber belehrt, dass es doch nicht nötig sei, einige Wochen dicken Arrest zu riskieren, wenn er verbotene Literatur in die Kaserne schmuggle.“ Die beiden Söhne des Hieronymus Buchner ziehen nach Berlin. Der Vater hat Verständnis für Karls sozialdemokratische Sympathien: „Die Sozialdemokraten ham mir früher schon deswegen gfallen, weil all die Großköpf so sakrisch au sie schimpfen.“ – so im Dialekt seiner bayerischen Heimat. Auch der gelernte Dreher Albert Buchner folgt mit seiner Frau Margot nach Berlin. Aus Tagelöhnern werden Industrieproletarier: „Albert trat bei ‚Hartmann & Fleiß‘ in Arbeit. Er verdiente siebenundzwanzig Mark und die Arbeit war weniger ungesund und weniger schwer als die in der Ziegelbrennerei.“ (GB 12–17)[5]
Der Prolet Ludwig Turek erzählt 1930 die eigene Lebensgeschichte: „Vorliegendes Buch ist nicht das Produkt eines Schriftstellers, sondern die Arbeit eines werktätigen Proleten. Von den wenigen Mußestunden und Energien, die das tägliche Schuften für den Unternehmer im Zeitalter der Rationalisierung dem Arbeiter noch übrigließ, wurde mühevoll Zeit und Kraft gestohlen, um das Vorhaben auszuführen.“ 1898 als Sohn einer Feldarbeiterin in Stendal in Sachsen-Anhalt geboren wächst er in den Proletenvierteln von Hamburg auf. Die Pfandleihe ist Alltag, dabei können sie nicht einmal ihre Betten auslösen. Der junge Ludwig wird zum Kohlenklau, zum Brotdiebstahl angehalten Sein Stiefvater findet vorübergehend Arbeit in einer Eisengießerei nahe Bremen. Über das Alltagselend, den überlangen Arbeitstag hinweg findet dieser zur Gewerkschaft, wird deshalb auch bald entlassen: „Auch ich kam gelegentlich dorthin, überall lag der Stab faustdick. Die Arbeiter schwarz wie Neger. (…) Mein Vater hielt lange Zeit tapfer durch, bis er infolge gewerkschaftlicher Tätigkeit das Missfallen seines Meisters erregte und dafür ‚den Sack einstecken’ musste.“ (Turek 17)
Die Familie kehrt in die „schwarze“ Altmark zurück. Der gerade einmal zehnjährige Ludwig schuftet als Hüterjunge unter üblen Bedingungen, die Schweine des Bauern werden besser ernährt. Am Rande organisiert sich so etwas wie ein Landarbeiterbewusstsein. Rote Wanderprediger hatten es trotzdem schwer: „Bei den sogenannten Sachsengängern, den Polen, ließen sich Spuren von Klassenbewusstsein feststellen. Wurden sie einmal ganz besonders augenfällig bemogelt, so schlossen sie sich zusammen, stellten Forderungen an die Gutsverwaltung und nahmen die Arbeit nicht auf, bevor nicht die Forderungen erfüllt wurden. Überhaupt zeigte sich bei den Polen eine gewisse Erkenntnis, dass nur durch Zusammenschluss und Einigkeit bei den gewissenlosen Junkern etwas auszurichten sei. Bei den deutschen Landarbeitern war diese Weisheit in der Vorkriegszeit ein sehr seltener Artikel. Die Landagitation 1912 zur Reichstagswahl war ein geradezu halsbrecherisches Unternehmen in der schwarzen Altmark. Das Freibier des Gutsherrn war wichtiger als die ganze Wahl. Elemente, die sich dazu hergaben, den Klassengenossen aus der Stadt mit Knüppeln zu verjagen, gab’s gar nicht selten.“ (Turek 26f.)
Turek beginnt 1912 mit der Lehre zum Schriftsetzer. Er tritt in die sozialistische Arbeiterjugend ein, auch wenn er sie mit ihrem „freien Turnen“, Biertrinken und den vielen Wanderungen eher unpolitisch erlebt. Sein Jugendleiter will im August 1914 nicht, dass die Jungen die Internationale singen. Turek und seine Jugendgenossen hassen den „Burgfrieden“. Er stellt illegal Flugblätter her. Eine erste kleine Hoffnung auf Wiederherstellung des Arbeiterinternationalismus, keimt auf, als 1915 Flugblätter (der Zimmerwalder Internationale) zirkulieren: „Nach der anfänglichen großen Enttäuschung, die uns Jugendliche, die wir Karl Marx gelesen hatten, ob er allgemeinen Kriegsbegeisterung der werktätigen Massen beschlich, tauchte im Sommer 1915 eine leise Hoffnung auf, als aus der Schweiz Flugblätter, mit der Schreibmaschine geschrieben, in unsere Hände gelangte. In diesen stand in flammenden Worten, dass jeder ehrliche Arbeiter ein Gegner des Krieges sein müsste!“ (Turek 47f.)[6]
Der ein knappes Jahrzehnt ältere, 1889 geborene Max Hoelz wuchs in Dörfern in der Umgebung von Riesa an der Elbe auf. Seine Eltern rackerten als Ackerknechte bei Großbauern, auf Rittergütern: „Obwohl meine Eltern fleißig arbeiteten und sehr sparsam lebten – mein Vater ist nie arbeitslos gewesen – und obwohl auch wir Kinder mitverdienen mussten, langte es dennoch manchmal nicht zum Nötigsten. Oft fehlte sogar das trockene Brot im Hause. Wir, die wir die Erde düngten, pflügten, säten und dann die Früchte für den Arbeitgeber ernteten, hatten nicht das Allernotwendigste zum Leben. Es kam oft vor, dass meine Mutter, um uns nicht tagelang hungern zu lassen, auf folgenden Ausweg verfiel: Mit zwei Pfennigen musste ich zu dem einzigen Dorfbäcker gehen und ihm vorschwindeln, ein Bettler schicke mich, ich solle ihm für diesen Zweier hartgewordenes Brot holen. Wir schämten uns, zu sagen, dass wir das Brot für uns selbst haben wollten.“ Ein gutes Pfund Brot für 14, 15 Pfennige war nicht leistbar.
An eine politische Organisierung war nicht zu denken. Die Landproletarier und ihre Kinder halten sich am Beten, einer fast natürlichen Frömmigkeit fest: „Als Kind kam mir das Widersinnige eines solchen Zustandes natürlich nicht zum Bewusstsein. Auch waren die Eltern selbst viel zu wenig klassenbewusst, um die Ursachen dieses Vegetierens richtig zu erkennen und dagegen aufzubegehren.“
Der junge Hoelz flieht aus diesem sich unablässig täglich reproduzierenden Mühsal. Seine Wanderungen verschlagen ihn nach England. Als technischer Zeichner ausgebildet arbeitet er eine Zeitlang für eine Berliner Eisenbahnbaubüro. Er wird Mitglied bei einem christlichen Verein Junger Männer, bei dem evangelischen Sittlichkeitsverein „Weißes Kreuz“. Seit 1912 bei einem Landvermesser in Falkenstein im Vogtland angestellt meldet er sich 1914 freiwillig. Eingesetzt bei einem Offiziersstab in Frankreich sieht er Korruption, Ausbeutung, die Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, die als Franktireure ermordeten. Max Hoelz beginnt den Krieg von einem christlichen Gerechtigkeitssinn aus abzulehnen. Nach längerem Trommelfeuer verfliegen die religiösen Illusionen.
Der Kontakt zum Sozialismus entsteht über einen Zufall. Hoelz ist 1917 als Soldat zur Bewachung des ehemaligen Redakteurs der sozialdemokratischen „Leipziger Volkszeitung“ Georg Schuhmann (1889–1945) eingeteilt. Mit Schuhmann, dem Kampfgefährten von Karl Liebknecht, sieht er erstmals einen Sozialisten, zudem leuchtet von der Ostfront her das Licht der Russischen Revolution. Schuhmann ist wegen politischer „Zersetzung“ angeklagt. Als sich Hoelz erstmals mit sozialistischer Theorie an sich beschäftigen wird, ist er schon der gefürchtete Kommandeur proletarischer Hundertschaften.[7]
Herrschaft über die Köpfe, die Gedanken
Heinrich Sperber wächst in einer Welt ländlicher Untertänigkeit heran. Die bayerischen Dorfarmen, und selbst da gibt es noch eine strenge Hackordnung „nach unten“, belauern sich gegenseitig. Sie fürchten sich vor den Landautoritäten, dem Pfarrer, dem Vikar. Schon die Kinder finden sich in den Fängen religiöser Skrupel. Sie liefern den „täglichen Rechenschaftsbericht an den lieben Gott“, mit der „inbrünstigen Bitte“ um Sündenvergebung. Der junge Heinrich Sperber, mehr Ziegenhirte als Volksschüler, wird abgestraft, da er mehrmals der Kirche ferngeblieben ist: „Die übertriebene Frömmigkeit derartiger Leute hatte mir in letzter Zeit viel zu denken gegeben.“ Es entwickelt sich ein kleinbäuerlich ängstliches Bewusstsein. Dies führt zu Vereinzelung, zur Unfähigkeit, sich auch nur irgendwie solidarisch zu verhalten. (IJ 141)
In den Wohnkasernen Scharleys – „abgelumpte“ Proletenfamilien ringsum – erlebt Hans Thomek ganz ähnlich eine Welt eines ärmlichen Katholizismus: Heiligenbilder an den Wänden der kleinen Wohnbude, die Heilige Maria, Barbara. Der Vater schwankt zwischen katholischer Bigotterie, Aberglauben und Trunksucht: „Seine Wandlungen vom streng frommen, peinlich ordentlichen und eifersüchtig auf Ansehen bedachten Menschen zu einem alles erschreckenden und widerwärtigen Trunkenbold kamen so jäh, dass es jedenfalls einen klaffenden Riss durch unser Leben gab – ganz gewiss durch der Mutter Leben.“ Immer wieder muss der Junge den betrunken in einer Schenke liegenden Vater nach Hause holen, dann ging er „wieder jeden Morgen zur Schicht und kam gebeugt und ergeben. Schuldbeladen wich er den anderen Leuten aus, betete viel und grübelte“, ging immer und immer wieder zur Beichte. (J 11, J24)
Das Verhalten des Vaters ist das der autoritären Unterwürfigkeit, so verhärtet, dass sich so etwas wie Arbeitersolidarität nicht einmal im Ansatz entwickeln kann: „Vor den Oberen der Helenengrube zeigte er ganz und gar eine Scheu und Furcht, wie vor Gendarmen, mit denen er sich gutstellen musste. Begegneten wir zum Beispiel auf dem Weg nach der Kirche einem der höheren Grubentiere, dann erschrak der Vater fast und riss seinen Hut herab. Wenn er von diesen Leuten mit einem ‚Mor’n‘ wieder gegrüßt wurde, dann sah ihnen der Vater noch einmal erleichtert nach. ‚Bei denen kann sich ein Mensch sehr schnell in Ungnade setzen‘, sagte er. (…) ‚Der arme Mensch muss überall den Kopf beugen, es war noch nie anders.‘“
In dieser Enge bieten allenfalls Wallfahrten, Heiligenkulte, Bittprozessionen, Kriegervereinsfeste, Jahrmärkte oder die von den Arbeiterkindern nachgespielten deutschen „Heldenschlachten“, wie jene von Sedan 1870, Abwechslung. Im Juli wallfahrt auch die Familie Thomek alljährlich zum Marienheiligtum in Piekar: „Weiß gekleidete Mädchen mit Lilienkränzen und ‑zweigen und barfüßige alte Frauen schleppen an den verschiedenen Marienfiguren und Schutzpatronen und unter Baldachinen schritten in silber- und goldbestickten Gewändern die Priester mit Monstranz. (…) Nach den Festlichkeiten grölten, sangen und tanzten die Betrunkenen noch bis über Mitternacht auf der Straße. Morgens um fünf bellten aber wieder unbarmherzig die Heulpfeifen und Grubenglocken. (…) Es war, als hätte unser Scharley zweierlei Seelen, eine fröhlich lärmende, fromme, verträumte und tausend Geschichten erzählende Seele, und eine zweite wütende, rasende, heulende, besoffene, blutgierige Seele.“
In der Schule wird Hans auf preußischen Kadavergehorsam und Drill, Chauvinismus und rassistischen Kolonialismus abgerichtet. Außerdem werden „Gottesfurcht“ und „christliche Sittenlehre“ eingetrichtert. Anfang September rücken Hans und seine Mitschüler in „abgewaschen zerrissenem Zeug“ zum Sedantag aus: „Lange Reihen Kriegervereine und Knappen (…) standen überall, und die Grubenkapelle von Buchatz spielte Märsche. Die Lehrer liefen auf und ab und ordneten und richteten an den Reihen. Wir hatten mehrere Tage lang Kaiserlieder eingeübt.“ Die nackten Füße waren blau vor Kälte, das Warten auf den angeblich durchreisenden Kaiser vergeblich, er habe einen anderen Weg gewählt. (J 32–37)
In stumpfem Geschichtsunterricht werden die Jugendlichen von einem rohen Oberlehrer, dessen einziger Stolz seine preußische Unteroffiziers-Ehre ist, mit „Klopfpeitsche“ auf den deutschen Militarismus und Imperialismus abgerichtet: „Wir kannten bereits alle Ruhmestage der deutschen siegreichen Armeen wie am Schnürchen hersagen.“ – und zwar vom siebenjährigen Krieg bis 1871: „Roßbach – Leuthen – Zorndorf – (…) die Völkerschlacht bei Leipzig – Vierundsechzig die Erstürmung der Düppler Schanzen. Siebzig die Schlacht bei Gravelotte, Metz … Sedan“! Triviale Abenteuerliteratur lenkt vom trostlosen Alltag ab: „Wir lasen wieder sehr viel, besonders ich. Ich lieh mir Abenteuerbücher aus, die nur zu erreichen waren. (..) Ich vertiefte mich wieder in meinen ‚Ali Baba und die vierzig Räuber‘.“ (J 51, 83f.)
Selbst die Härte des preußischen Militärs erscheint den Jugendlichen geeignetes Fluchtziel, um aus der Welt der Arbeitsschikanen zu entkommen: „Dem Kaiser dienen, natürlich. Wir Jungen hofften, einmal ganz sicher in passende Stiefel und Röcke zu kommen. Die alle paar Tage durch Scharley ziehenden Beuthener Infanteriekolonnen weckten unseren Neid. Der Marschgesang: ‚Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt mir auf mein Grab …‘ war jetzt öfters unser Gesang an den Abenden auf der Treppe. Es war bei uns fest beschlossen, uns freiwillig zu melden, wenn wir größer wären …“
Von einer Gewerkschaft hingegen haben die jungen Scharleyer Bergarbeiter keine Vorstellung. Sie wissen nicht einmal, dass es so etwas gibt. Sie werden von einem jungen arroganten Bergingenieur vielmehr in einen deutschnationalen Turnverein gelockt: „Wir werden Mitglieder des Turnvereins ‚Deutsche Eiche‘. (…) Gauwarte hielten feurige Ansprachen: ‚Deutsche Treue… Eiserne Einmütigkeit … Blüte des Abendlandes … Anhänglichkeit an das geliebte Herrscherhaus … Ergebenheit und Opferbereitschaft übers Grab … Im Heimatboden festgewurzelte Eichen …‘ – Gesang: ‚Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt‘.“ (J 114)[8]
Zwischen Vagabundendasein und proletarischem Arbeitsleben. Adam Scharrers „Heinrich Sperber-Figur“
Von der Elementarschule geht es für Heinrich Sperber direkt in die „Lehrlingsschinderei“ zu einem prügelnden Meister: „Doch auch die Lehrzeit ging vorüber. Dem Meister rutschte die Hand noch recht oft aus, aber ich biss die Zähne zusammen, um auszuhalten, und zählte die Tage bis zur Beendigung der Lehrzeit.“
Heinrich begibt sich auf Wanderschaft, findet in einer kleinen Nürnberger Maschinenfabrik Arbeit als Dreher. Die miese Beschäftigungslage – überall Schilder: „Arbeiter werden nicht eingestellt!“ – erleichtert die Lohndrückerei: „Von meinem Lohn war mir trotz aller Einschränkungen fast nichts übriggeblieben, und meine Eltern rechneten mit unumstößlicher Sicherheit damit, dass ich nach beendeter Lehrzeit ein ‚schönes Stück Geld‘ verdienen und ihnen das Lehrgeld zurückzahlen würde. Eine trügerische Rechnung.“
Bald entlassen wandert Heinrich durch den Spessartwald nahe Würzburg. Heinrich ist somit in „das Heer der armen Reisenden“ aufgenommen, ein Zustand, dessen Elend der junge Sperber noch nicht zu erkennen vermag: „Aber ich war ja noch jung und voller Hoffnung, und ein klarer Himmel manchmal ein Groschen bei einem Meister, bei dem ich vergebens um Arbeit vorsprach, die Freihotels während der Heu- und Getreideernte, reifendes Obst an den Bäumen und ein Stück Bettelbrot oder Suppe genügen für einen Menschen, dessen Wappenspruch sich in dem Satz erschöpft: ‚Auf Regen folgt Sonnenschein.‘“
In Pirmasens, „einer schön gelegenen Stadt in der Rheinpfalz“, einem Zentrum der Schuhindustrie, findet er für einige Monate Arbeit: „Mit zwanzig Pfennig in der Tasche begann ich zu arbeiten. Ich kaufte mir jeden Tag für zehn Pfennig Brot; abends stahl ich Kirschen, bevor ich – in einen Strohschober – schlafen ging. Eines Tages fragte mich der Kollege Müller, der Altgeselle, wo ich wohne. ‚Im Gewerkschaftshaus.‘ ‚Sind die Betten im Gewerkschaftshaus mit Stroh gestopft?‘ fragte Müller weiter. Er zog einen langen Halm aus meiner Bluse und fuhr fort: ‚Auf die Art gehst du ja kaputt, Kerlchen!‘ Und als ich Einwendungen versuchte: ‚Dir guckt ja der Hunger aus den Augen! Bist du gewerkschaftlich organisiert?‘ Ich war wohl Mitglied der Gewerkschaft, aber noch nicht unterstützungsberechtigt.“ Sperber fühlt sich der zum Schein freien Welt der Vagabunden verpflichtet, und dies, obwohl es eine Welt des Elends ist: „Viele dieser ewigen Wanderer waren verwahrlost und verloren, ihr einziger Trost der Schnaps.“ (IJ 163, 172–180)
Der „Schuhmarkt“ kracht wieder einmal zusammen, sodass Heinrich entlassen auf die Straße geworfen ist. Er wandert nach Kaiserslautern und Ludwigshafen. Überall „weigerten sich die Beamten, meinen Namen in die Listen der Arbeitssuchenden aufzunehmen, weil dies in Anbetracht der Tausenden von einheimischen Arbeitslosen zwecklos sei. Mannheim, Karlsruhe, Rastatt, Offenburg. Die Schuhsohlen durchgelaufen, der Anzug gefährlich ramponiert. Die Geschäftsstellen der Gewerkschaften waren zu weit voneinander entfernt, um sie täglich zu erreichen und die kleine Unterstützung abheben zu können. Die Strecke war von Handwerksburschen überlaufen, man bekam kaum ein Stück Brot.“
Das gewerkschaftliche Unterstützungsnetzwerk war in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit rasch überlastet, wurde bald brüchig. Im Schwarzwald gerät Heinrich in die Fänge der Gendarmerie, die „Papiere“ werden kontrolliert. Man droht ihm mit „dem Arbeitshaus“, dem Schrecken aller Landstreicher. Heinrichs „Wanderschein“ legt offen, dass er schon länger ohne Arbeit und damit der Vagabondage verdächtig ist: „‚Und nun leben Sie von Bettelei … oder etwa von der Luft?‘ In solch kritischen Situationen war das Gewerkschaftsbuch stets ein leidlich zuverlässiger Rettungsanker. ‚Ich lebe von meiner Reiseunterstützung‘, antwortete ich und hielt dem Gendarmen mein Gewerkschaftsbuch hin.“ (IJ 192–199)
Nach Bayern zurückgeschoben landet er in einem Obdachlosenasyl: „München. Weihnachten. Hunderte warten vor dem Asyl für Obdachlose. Das zusammengeballte Elend greift mit zitternden Händen nach dem Napf voll Suppe und dem Stück Brot. Zum Fest der Liebe gab es außerdem einige Nüsse, Äpfel, Zuckerplätzchen und ein Pfarrer hielt eine Ansprache nach dem Motto: ‚Die Liebe höret nimmer auf.‘“ (IJ 232)
Nach vielen Monaten findet Heinrich Sperber in der Nähe von Braunschweig wieder einmal Arbeit als Dreher: „Nun wanderte ich wieder allein, durch Österreich, Böhmen, Sachsen und den Harz, in meinem Zahlstellenverzeichnis war auch der Ort Schönefeld eingetragen und die Adresse des Kassierers: Wilhelm Vogelsang, Bismarckstraße.“ Hier nahe Braunschweig agiert Heinrich erstmals als klassenbewusster Proletarier, gerade deshalb wird er entlassen und fällt wieder in das Elend des Wandergesellen zurück: „Nun war es zu Ende mit meinem ersten Urlaub. Der Betrieb Nagelbauer war für mich verschlossen, und übrig blieb die lange, lange Straße ohne Ende. Einige Tage suchte ich in den Zuckerraffinerien und Ziegeleibrennereien vergebens nach Arbeit, half Vogelsang in seiner Werkstatt, doch da war wenig zu helfen. Er hatte kaum genügend Arbeit für sich, und selbst wenn er nicht allein fertig geworden wäre, hätte er von seinen Einnahmen keinen Gesellen bezahlen können. Sein Reinverdienst betrug sechs, acht, wenn es hoch kam, zehn Mark pro Woche. Es war ein kleiner Zuschlag zu seiner Invalidenrente.“ (IJ 257–259)
In einer Berliner Gewerkschaftsherberge untergekommen kann er sehen, dass höchstens schlechtbezahlte Hilfsdienste, etwa Schneeschaufeln, erreichbar sind: „Mittlerweile hatte mich die Atmosphäre der Herberge mit ihrer ganzen abschreckenden Vertrautheit eingehüllt. (…). Da waren die ehrlichen Klingelfahrer, die zähe und unbeirrbar in ihrer Pfennigsammlerei waren. Da war aber auch der Zugang aus der Provinz, man sah ihnen an, dass sie dreißig, vierzig, vielleicht auch fünfzig Kilometer zurückgelegt hatten. Lahm und hungrig sanken sie auf einen Stuhl. Sie waren nach der einen Mark Reiseunterstützung gelaufen und hatten nach Lösung der Schlafmarke dreißig Pfennig übrig behalten, die sie längst in Brot und billigen Käse oder Wurst und Zigaretten umgesetzt hatten. Da waren auch die ‚Kohldampfschieber‘, das ist der zünftige Ausdruck für das Dauerhungern.“
Die deklassierten und demoralisierten Herbergsinsassen ziehen sich gegenseitig hinunter, der Berliner Arbeitsnachweis für die Metallindustrie zermürbt endgültig: „Mehrere hundert Menschen warteten in einem düsteren Raum. Die Vermittlung der einzelnen Berufe war nach bestimmten Stunden eingeteilt. Die Kupferschmiede waren vor den Eisendrehern an der Reihe, und die Vermittlung ging sehr rasch. Ein Beamter verkündete pünktlich zur festgesetzten Stunde: ‚Für Kupferschmiede ist nichts gemeldet.‘ Unterdessen hatte ich mich an einem Schalter in die Kartothek der Arbeitssuchenden eintragen lassen, und nun war auch die Vermittlung für Eisendreher an der Reihe. Der Beamte rief einige Firmen aus, die Eisendreher suchten, aber nach Nennung der Firma erschollen aus der Reihe der Wartenden warnende Zurufe: ‚Dort stehen die Kollegen im Streik!‘ … ‚Über diesen Betrieb ist die Sperre verhängt!‘ … ‚Gelber Betrieb, zahlt keine Tariflöhne!‘“
Heinrich Sperber ist wegen seines lückenhaften Arbeitsbuches schwer vermittelbar. Heinrich, von Suizidgedanken geplagt, ist bereit jede Arbeit anzunehmen, um der Landstraße zu entgehen. Er ist so herabgekommen, dass er jedes je vermittelte arbeitersolidarische Denken zu vergessen droht. Selbst in einer „gelben Bruchbude“ würde er anfangen: „‚Ehe ich noch einmal die Landstraße unter die Füße nehme, mache ich lieber sonst etwas …‘ ‚In die Spree springen?‘ ‚Nein, nein, mein Lieber!‘ ‚Oder dich vom Spitzbubenverband vermitteln lassen?‘ Damit war der Arbeitsnachweis des Verbandes Berliner Metallindustrieller gemeint, der einen besonderen Arbeitsnachweis für die gelben Werkvereine unterhielt. ‚Das auf keinen Fall!‘, beteuerte ich.“
Die gewerkschaftliche Unterstützung ist erschöpft. Heinrich findet eine Aushilfsarbeit als Teerarbeiter bei Straßenarbeiten, dann sucht er Hilfe bei der sozialdemokratischen Lokalstelle: „Drei Tage später waren meine Hose und mein Hemd durch diese Teerkocherei so verschmutzt und verbrannt, dass ich auf der Straße auffiel. Ich schlief nun im Asyl für Obdachlose, aber ich arbeitete doch jetzt in Berlin und ging ins Sekretariat der der Sozialdemokratischen Partei, um mich anzumelden.“ Die Genossen mustern Sperber misstrauisch. Er wird vor weiterer Arbeit bei „wilden Kolonnen, die unter Tarif“ schuften, gewarnt. (IJ 265–267)
Zufällig nach Stettin verschlagen kommt Heinrich in der Reparaturwerkstatt einer Margarinefabrik unter. Ein sozialdemokratisch organisierter Meister stellt ihn ein, obwohl Heinrich einen abgerissen verwahrlosten Eindruck macht. Sperber wirkt verstörend, allein im äußeren: „Diese Hose konnte ich fast zweimal um den Leib schlagen, aber die Hosenbeine waren für mich zwanzig Zentimeter zu kurz. (…) Meine Joppe hatte auf meiner Reise von Berlin nach Stettin sehr oft als Kopfkissen aushelfen müssen und war unzählige Male auf dem Körper nass und wieder trocken geworden. Da ein Kragen zu meiner Garderobe lächerlich gewirkt hätte, ging ich in ‚Seemannsbrust‘.“ Bedenklich ist auch das Arbeitsbuch, etwa mit dem Eintrag eines „Vereins gegen das Vagabundentum“, der Sperber vor Monaten auf einer Schweizer Verpflegungsstation aufgedrückt worden war. (IJ 270f.)
In der Werkstatt erfährt Heinrich wieder, wie durch unterschiedliche Lohnsysteme Konkurrenz und Zwietracht unter den Kollegen geschürt wird, – durch Stücklohn, Akkordlohn, Zeitlöhne aller Art, unterschiedlichste Lohnentgelte, teils in Naturalien. Sperbers Meister wird entlassen. Er war als „Roter“ denunziert worden, „weil ihm nachgewiesen werden konnte, dass er mit Vorliebe die ‚Rote Herberge‘ als Arbeitsnachweis benutzt hatte“.
Die Betriebsleitung kürzt bei erster Gelegenheit den Wochenlohn um dreißig Prozent: „Wir drohten mit Streik. (…) Über den Betrieb wurde für Schlosser, Dreher, Kupferschmiede, Schmiede und Klempner die Sperre verhängt.“
Heinrich steht wieder einmal vor dem Nichts. Neue Arbeit zu finden ist fast unmöglich, da er mit allen Streikenden vom Verband der Metallindustriellen ausgesperrt und auf die schwarze Liste gesetzt worden ist: „Stettin ist im Winter eine düstere Stadt. Sie birgt massenhaft Not und Elend in ihren Mauern und erhielt von Pommern, Ost- und Westpreußen, von Polen und Schlesien immer neuen Zuzug jener noch dumpfen und stumpfen Proletarier, denen der ortsübliche Tagelohn von drei Mark noch hoch erschien. Die Herbergen waren voll. Der Bahnhof wurde tagsüber mehrere Male zwangsweise geräumt.“
In einem Stettiner Fischhandel findet Heinrich noch für einige Wochen eine Aushilfsstellung. Eine übernervös religiöse Krämerin macht Heinrich gleich an, sie will ihn mit ihrer Tochter verkuppeln. Die „Roten“ hasst sie: „Ganz unvermittelt fuhr sie dann fort: ‚Die Roten hetzen bloß die Leute auf und verführen sie, und das Ende ist dann Not und Elend. Wer von Gott verlassen ist, der ist verloren.‘ (…) Mir wurde plötzlich recht unbehaglich in dieser Stube. Bisher hatte ich die vielen frommen Sprüche und die Kaiserbilder nicht sonderlich ernst genommen (…).“ Gelegentlich besuchte die junge Händlertochter gemeinsam mit Heinrich „Bildungsabende und Arbeiterversammlungen. Sie hatte Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und August Bebel in Arbeiterversammlungen sprechen hören, und Tausende von Arbeitern hatten den Rednern zugejubelt.“ (IJ 282–288)
Brüchiges Klassenbewusstsein. Sozialistisch und gewerkschaftlich organisiert?
In Pirmasens war Heinrich Sperber um 1905 erstmals gewerkschaftlich organisiert worden. Die Stadt ist abhängig vom „Blühen“ der Schuhindustrie. Gearbeitet wird in Fabriken mittlerer Größe, aber auch in subproletarischer Heimarbeit: „Pirmasens ist die Stadt der Schuhindustrie. In einigen modernen Fabriken werden die Schuhe nach amerikanischen Arbeitsmethoden hergestellt, doch überwog Kleinindustrie und Heimarbeit. (…) Es gab ‚Fabrikbesitzer‘, deren Fabrik lediglich aus einem Expeditionsraum bestand. Als Fabrikationsräume dienten die Wohnungen der Heimarbeiter.“
Heinrich, der in patriarchalischen Kleinbetrieben, später auch in großen Industrieanlagen wie den Hamburger oder Bremer Werften arbeiten wird, kommt gerade in einem Moment der „Schuhkonjunktur“ in die Rheinpfalz: „Als ich ankam, hatte ein solche Konjunktur der Schuhindustrie eingesetzt, als sollten plötzlich sämtliche Landstreicher der Welt mit neuen Schuhen versehen werden.“ Auch die Maschinenfabrik Schaaf hat als Zulieferer Aufwind, der aber ebenso schnell wieder abreißt. Heinrich droht auf kurz oder lang wieder „freigesetzt“ auf der Landstraße zu landen: „Ich sträubte mich mit aller Energie gegen das Leben auf der Landstraße und fürchtete ihr für immer zu verfallen, wenn ich infolge von Untüchtigkeit meinen Arbeitsplatz nicht behauptete.“
Jakob, ein frommer Mitgeselle, fordert Heinrich auf dem „Verein christlicher junger Männer“ beizutreten: „Vor dem Einschlafen sprach er flüsternd ein Gebet. Einige Spötter hatten ihm den Spitznamen ‚der fromme Jakob‘ angehängt.“ Die Betriebsleitung wünscht, dass Heinrich das sozialdemokratische Gewerkschaftsbuch aufgibt. Als sich Heinrich weigert, wird er schikaniert, er muss höheres Kostgeld bezahlen. (IJ 181–186)
Die wenigen sozialdemokratisch „freigewerkschaftlichen“ Kollegen unterstützen ihn. So gibt es noch einen trügerisch schönen Sommer in Pirmasens, ehe die Nachricht, „dass die Firma Koppe, eine der modernsten und größten Schuhfabriken in Pirmasens, in Zahlungsschwierigkeiten geraten war“, hereinplatzt: „Sofort war der gesamte Kredit, der sich während der Konjunktur stabilisiert hatte, unterwühlt und erschüttert.“ Der Markt war „übersättigt“ und die „schlecht beschuhten und barfüßigen Landstreicher auf allen Landstraßen der Welt gehörten eben nicht zu diesem Markt“.
Die Arbeitszeit wurde „eingeschränkt, erst auf fünf Tage, dann auf vier, dann auf drei Tage in der Woche. Ich war nun völlig überflüssig geworden, die wenigen neuen Absatzmesser, die noch anzufertigen waren, konnten an einem einzigen Tage bewältigt werden. Meine Ersparnisse schmolzen zusammen wie Schnee in der Sonne.“ Die Belegschaft zerstreut sich in alle Gegenden: „Mein Selbstbewusstsein war gebrochen, der Boden unter meinen Füßen wieder schwankend geworden. Fort! lockte und rief es in mir. Fort von hier!“ Ein sozialdemokratischer Gewerkschafter mahnt Heinrich zum Abschied: „Nun geh … und bleib unserer Sache treu!“ (IJ 189–191)
Nach Monaten auf der Landstraße, in Arbeiterherbergen und in Obdachlosenasylen trifft Heinrich nahe Braunschweig erstmals auf einen klassenbewussten, sozialistisch kämpfenden Proletarier. Wilhelm Vogelsang war ein alter Arbeitergenosse, der sich für das Streik- und Koalitionsrecht in einem Metall-Betrieb, der nur „Gelbe“ aufnehmen wollte, eingesetzt hatte. Heinrich Sperber sieht in Vogelsangs Stube Bilder von Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel und von Wilhelm Liebknecht. Vogelsang ist als Sozialist nach über zwanzig Jahren Betriebszugehörigkeit aus der Maschinenfabrik „Nagelbauer u. Co Aktiengesellschaft“ geflogen. Rote werden nicht toleriert: „Zehn Wochen haben die Kollegen damals gestreikt, um unser Koalitionsrecht zu behaupten.“ Aber die Firma hat ein fieses, für gelbe Unternehmerpolitik typisches System von Abhängigkeiten geschaffen: „Es gab viele Kollegen, die hatten sich mit Darlehen der Firma ein Häuschen gebaut, etwas Land und Vieh angeschafft, waren aber noch an die Firma verschuldet, und bis zur Tilgung der Schulden blieb die Fima im Besitz der Eigentumsrechte. Sie fürchteten, ihre Häuschen und ihr bisschen Wirtschaft zu verlieren, und wurden schwach. Der Streik ging verloren. Das ist jetzt fünf Jahre her. Aber Eigentümer von seinem Häuschen ist kein einziger geworden.“ Die Firma hat nur die Nutzungs‑, nie die Eigentumsrechte übergeben: „Auf diese Weise hat sie hier eine Hochburg des gelben Werkvereines geschaffen, und jeder Abtrünnige wird sofort ausgesiedelt.“ Vogelsang erklärt alles mit eigenartig stoischer Ruhe. Er will nun den zugewanderten Heinrich Sperber in den Betrieb schicken: „Es werden Eisendreher gesucht.“ (IJ 242f.)
Vogelsang lebt von einer bescheidenen Unfallrente. Er betreibt eine kleine Reparaturwerkstätte für Fahrräder, Töpfe, Kinderwagen und agiert lange als „Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, Ortsgruppe Schönefeld, und Kassierer des Metallarbeiterverbandes“: „Es gab Zeiten, da bestand die gesamte offene Anhängerschaft der Roten im Ort in den gelegentlichen zugereisten Handwerksburschen. Vogelsang focht dies nicht an. Aus den Zuckerraffinerien und Ziegeleien rings um Schönefeld rekrutierte sich ein kleiner, aber zuverlässiger Stamm der Partei und der Gewerkschaften, und so blieb Schönefeld im Mittelpunkt. An den Sonntagen kamen manchmal Kollegen von Braunschweig, es wurden Versammlungen abgehalten, und so war die gelbe Hochburg der Firma Nagelbauer doch ständig bedroht und belagert.“
Die Nagelbauer-Fabrik zählt gut 500 Arbeiter, „der Reinverdienst überstieg eine Million Mark jährlich“. Die Fabrikherren wohnen im vornehmen Villenviertel des nahen Braunschweig und beherrschen sämtliche Reichtümer der Gemeinde, die ergiebigen Kohlengruben, die großen Wälder, während die Gemeine Schönefeld ganz verarmt ist. Es gibt weder Geld für Straßenausbesserungen, „kein Geld für die Anlage einer Wasserleitung, kein Geld für die Armenkasse“.
Heinrich Sperber kann bei Nagelbauer als Eisendreher untergebracht werden, sogar „ohne die Verpflichtung, dem gelben Verband beizutreten“. Sperber arbeitet sich als guter Dreher rasch ein und erreicht den bescheiden abgegoltenen Akkordsatz. Rasch lernt Heinrich die ganze Palette gelber Herrschaftstechnik kennen. Fast ganz Schönefeld, die Arbeiter, Taglöhner, Krämer, Kleinhandwerker werden von der Fabrikdirektion in halbsklavischer Abhängigkeit gehalten. Nicht nur Miet‑, Darlehens- oder Pachtverhältnisse, auch raffinierte Truck-Systeme binden eine ganze Kleinstadt an diese Herrschaft.
Hinzu kommt der gelbe Terror im Betrieb. Kaum eingetreten wird Heinrich schon unter Druck gesetzt. Er soll als Untermieter bei Vogelsang ausziehen und in die Fabrikkolonie übersiedeln: „Du wirst dir für die Zukunft überlegen müssen, ob du zu uns halten willst oder zu diesem Vogelsang.“ Heinrich soll sein freigewerkschaftliches Buch aufgeben, dem direktionsloyalen „Werkverein“ beitreten. Vogelsang warnt vor einem Kollegen Huber: „Diese Huber ist einer aus dem Vorstand der Gelben und dafür bekannt, dass er vor nichts zurückschreckt. Er ist während des Streiks mit einer ganzen Bande aus der Slowakei herübergekommen, um unseren Streik zu brechen. Nimm dich in acht vor ihm, er ist ein hinterhältiger und gewalttätiger Mensch.“
Sperber steht loyal zu den Freigewerkschaftlern, nicht zuletzt da er „während [s]einer langen Reise immer auf die Hilfe der freiorganisierten Kollegen angewiesen“ war. Sperber pocht auf das freie Organisations- und Koalitionsrecht: „Nach dem Gesetz steht es jedem Arbeiter frei, sich zu organisieren, wo er will.“
Heinrich wird als Handlanger des „sauberen Genossen Vogelsang“, der von außen „das Feuer schürt“, „es auf Streik und Aufruhr“ anlegt, verpfiffen. Der Arbeitsdruck auf Sperber wird erhöht. Er hat einen mittelschweren Arbeitsunfall, offenbar war die Maschine gezielt manipuliert. Seine Gegner schimpfen, es sei „ein empörender Zustand, der Betriebskrankenkasse zuzumuten, rote Agitatoren zu besolden, noch dazu mit Unfallzuschlag als Extraprämie.“
Heinrich wird (wieder einmal) entlassen. Die frei organisierten Metallgewerkschaftler nützen seinen Fall zur Agitation gegen die Machenschaften des gelben Unternehmerterrors. Vogelsang organisiert eine Parteiveranstaltung. Ein Genosse aus Braunschweig spricht über „Sozialismus und Landvolk“: Das Landvolk ist abhängig von einer Unternehmerdynastie, die alle katzbuckeln lässt, alle verjagt und verfemt, die „den Herren nicht freiwillig die Hände küssen“, die „in anderer Leute Taschen herumsucht, ob nicht ein rotes Parteibüchlein“ zu finden ist. Der Referent spricht über den „Zukunftsstaat“, „in dem den arbeitenden Menschen alles gehören solle“.
Angesichts der Gendarmen mit ihren blankgeputzten Helmspitzen kehrt bedrückende Stille ein. Niemand meldet sich zu Wort – nur Heinrich Sperber. Er spricht erstmals als politischer Agitator: „Als ich stand und reden musste, redete ich mir vom Herzen, was einen Menschen, der ohne Heimat und Obdach in der Welt herumirrt, bewegt. Wie er von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt wandert, immer eingeschätzt als Mensch zweiter Klasse, als ständige Weggenossen nur Sorge, Hunger und Angst. So wurde meine Rede ein Bericht über meine Wanderschaft, und die Leute hörten so aufmerksam zu, als säßen sie in der Kirche.“ (IJ 246–257)
Erst gut zwei Jahre später – nach weiteren unsicheren Wandermonaten, nach vielen persönlichen Verwicklungen, Abstürzen, polizeilichen Kriminaluntersuchungen und Affären – wird Heinrich um 1910 an der Ruhr zu einem zuverlässigen Genossen: „Ich ließ mir daher den Mut nicht nehmen, als ich auch im Ruhrgebiet feststellen musste, dass ich Tausende meiner Berufskollegen mit denselben Vorzügen und ohne Arbeit lediglich um einen Arbeitslosen vermehrte. Inzwischen war es Herbst geworden, und im Ruhrgebiet ist der Herbst noch trübseliger als sonst in der Welt. (…) Die Menschen und Häuser sind schwärzlichgrau wie der Ruß und das Leben und der Alltag.“ (IJ 307)
Monotonie durchzieht jeden Arbeitstag, einen traurigen Alltag: „Die Proleten sind dort auch des Sonntags ärmlich angezogen, die Gesichter der Frauen und Kinder blass wie Margarine, die Kneipen voll, es riecht nach Schnaps und Bier und billigen Suppen, und die Unterhaltung kreist meist um billige Witze über das Liebesleben sozial und geistig tief niedergedrückter Menschen.“
Heinrich schult sich als politischer Redner. Er vergräbt sich „in Geschichte“, studiert vor allem die Geschichte der Revolutionen. Er besucht sozialdemokratische Bildungskurse. Er wird gebeten ein Koreferat über die „russischen Revolution 1905“ zu halten. Der offizielle Hauptreferent, ein junger Gewerkschaftsbeamter, würde die Sache vom reformistischen Standpunkt angehen: „Ich wusste, dass sein Vortrag unantastbares Zahlenmaterial barg über das Verhältnis der organisierten zu den unorganisierten Arbeitern und dass nach diesem Zahlenmaterial das ‚klassenbewusste Proletariat‘ stark in der Minderheit sei, dass aber – wiederum nach der Logik meines Gegners – der Kampf dieser immerhin recht respektablen Minderheit nach anderen Gesichtspunkten geführt werden müsste als in Russland. Dass die in Deutschland vorbildlichen sozialen Einrichtungen eben in Russland fehlten und deshalb eine Revolution ausbrach. Dass diese Epoche in Deutschland überwunden sei, dass es gelte auf dem vorhandenen Fundament weiterzubauen.“ Es wäre leichtfertig mit der Revolution „alles Errungene in Frage stellen und der Reaktion einen billigen Vorwand“ zu liefern, „die bereits erkämpften vorbildlichen Errungenschaften zu kassieren.“
Heinrich Sperber, der in der Frage des politischen Massenstreiks offenbar auf dem Standpunkt der Parteilinken um Rosa Luxemburg steht, hält die Ängstlichkeit der Sozialdemokratie im Hinblick auf ein neues Parteiverbot, auf eine neue „Umsturzvorlage“ für das Hauptproblem, er erwidert: „Hat es auch in Deutschland bereits diese Massenstreikkämpfe gegeben? Jawohl! Sind die Errungenschaften der deutschen Arbeiter nicht durch die Entwicklung selbst in Frage gestellt? Jawohl! Vor mir lag der ‚Wahre Jakob‘, darin ein Bild: Eine Arbeiterfamilie sitzt in ihrer ärmlichen Behausung beim Abendbrot: Hering und Kartoffeln. Da stürzt ein schnauzbärtiger Feldwebel zur Tür herein und brüllt Eltern und Kinder an: ‚Zu den Waffen! Eure Interessen in Marokko sind in Gefahr!‘ Die Antwort spricht aus den verblüfften Gesichtern: ‚Was haben wir in Marokko zu suchen?‘ Auch meine Antwort gegenüber meinem Referenten ist klar: ‚Diese Reaktion treibt zum Krieg und dann gibt es nur ein Entweder-Oder.‘“ Von linken Parteigenossen gibt es Beifall, man sehe ja wie „gewitterschwanger“ die Lage, die Aufrüstung, das Kriegstreiben, auch die Bürgerkriegshetze nach innen ist. Es gelte die Massen rechtzeitig „aufzurütteln“. (IJ 315–319)
Unter dem Vorwand des Ehebruchs mit der Frau seines Logierwirts und der Straßenräuberei in Vagabundentagen wird Heinrich Sperber verhaftet und damit aus dem politischen Leben gezogen. Dank eines engagierten Arbeiteranwalts wird er freigelassen, verliert aber seine Arbeit. Die Direktion teilt mit, „dass meine Tätigkeit innerhalb der Fabrikanlagen dieser Firma für die Zukunft unerwünscht sei. Grund: umstürzlerische Propaganda unter den Arbeitern.“
1912 in Hamburg angekommen, nach misstrauischer Prüfung des Arbeitsbuches an die Großwerft Blohm & Voß verwiesen findet Heinrich auch hier das scheinbar unentrinnbare Proletenschicksal, das schikaniert und diszipliniert werden, das öde Alltagseinerlei vor: „Einige hundert Arbeiter wurden täglich vermittelt und einige hundert entlassen. Ob einer einen Tag, ein Jahr, ein Menschenalter bei der Firma Blohm & Voß arbeitete: wenn die lebendige Fracht des Abends und des Morgens durch die Riesenfahrstühle des Hamburger Elbtunnels versenkt und auf der andren Seite wieder ans Tageslicht befördert wird, sieht ein Prolet dem andern ähnlich wie ein Soldat dem andern.“
Sperber bleibt nicht lange vor Ort. Er protestiert gegen die Stücklohn-Ausbeutung und wird sofort von der Betriebspolizei abgeführt: „Auf der mir zugewiesenen Maschine war eine bereits begonnene Arbeit fertigzustellen. Der Vertrauensmann der Abteilung klärte mich auf: ‚Du bist nun schon der vierte Mann an dieser Maschine in einer Woche. Beginne nicht früher mit der Arbeit, bis du dir einen auskömmlichen Akkordpreis gesichert hast.‘“ Langes Feilschen um „den üblichen Akkordpreis pro Stunde. (…) Dass ich zwei Wochen später mit meiner Arbeit bereits vier Schichten im Rückstand war, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.“
Heinrich wandert nach Bremen weiter: „In der Herberge zu Bremen herrschte derselbe Betrieb wie in allen Herbergen der Wasserkante.“ Sperber trifft dort seinen Kumpel Paul Zander, ein viel herumgekommener Schiffsheizer, im erlerntem Beruf Schlosser, letzter Wohnort Gera. „Einige Tage später wurden wir bei der Schiffswerft Weserwerke, Aktiengesellschaft, eingestellt. Wir beschlossen, im Gewerkschaftshaus ein ‚Extrazimmer‘ zu mieten, …“ Paul Zander hat zahlreiche Familie zu erhalten: „Er war einer Kolonne zugeteilt, die im Akkord arbeitete, und hoffte, das Reise- und Umzugsgeld durch Akkordüberschuss herauszuschlagen. Seine Frau betreibe nun einen Milchhandel und bestreite dadurch den Lebensunterhalt für sich und die Kinder, berichtete er.“ Paul ist mit täglichem Akkordabzug konfrontiert.
Heinrich und Paul sitzen im Gewerkschaftshaus immer am Stammtisch, der für die „Klassenbewussten“ reserviert ist, ihnen gegenüber die politisch Indifferenten. Auch ein Metallnieter „gehörte zum Stamm der ‚Klassenbewussten‘ und war von einem fanatischen Hass gegen den Indifferentismus besessen und ein unermüdlicher Agitator.“
Eine in unzählige Lohnkategorien, in Zeitlohn- und Akkordlohnsysteme zersplitterte, rasch wechselnde Arbeiterschaft behindert die gewerkschaftliche Organisation. Die Werftbesitzer wissen genau, wie man gezielt Solidarität sabotiert und unterbindet. Suff, Alkohol tun ein weiteres. Viele würden sich ihrer Lage nicht einmal dann bewusst, wenn sie „jeden Tag nach getaner Arbeit mit dem Gummiknüppel auf den Allerwertesten“ bekommen. „Und die Proleten, die haben weiter keine Sorgen, als sich vollzusaufen!“ Ein Arbeitergenosse sieht klar: „‚Die Werftbesitzer wissen sehr gut, warum sie sich über die Forderungen der Gewerkschaft keine großen Sorgen zu machen brauchen. Es ist nicht nur der Suff, der ihnen zur Hilfe kommt. Die Handwerker, die mit dem Vorarbeiter unter einer Decke stecken und einigermaßen verdienen, machen jeden Betrug auf Kosten ihrer Kollegen mit. Die ungelernten Arbeiter in den Akkordkolonnen ducken sich erst recht, um nicht auf Tagelohn gesetzt zu werden. Die Lohnarbeiter ohne Akkord suchen durch Überstunden mehr Geld herauszuschinden und sind manchmal sehr froh, wenn man ihnen das erlaubt. Dazu kommt der stetige Wechsel. Auf sechs bis zehn Mann kommt ein Vorarbeiter, der immer einige Freunde um sich hat. Einen ständigen und verlässlichen Stamm Vertrauensleute zusammenzubringen, ist bis jetzt noch nicht gelungen. Die Hälfte der Werftarbeiter ist ja immer unterwegs, von einem Betrieb zum anderen.“ (IJ 357–364)[9]
An der Jahreswende 1912/13 scheint die allgemeine Konjunktur rückläufig, nur über Rüstungsaufträge ist die Lage einigermaßen stabil, trotzdem gibt es laufend Entlassungen, vor allem von politisch Verdächtigen: „Trotz großer Arbeitsaufträge, vor allem im Kriegsschiffbau, wurden fortgesetzt Entlassungen wegen Arbeitsmangels vorgenommen, und immer zum Schaden derjenigen Arbeiter, die irgendwie ‚verdächtig‘ waren, und nun schien auch ich an der Reihe zu sein.
Akkordverschärfung ist Alltag, nun wird sie immer perfider inszeniert. Durch raffiniertes Manipulieren der Akkordzettel erleiden Sperber und Kollegen enorme Lohnabzüge: „Bis die Geduld der Hamburger und Kieler Werftarbeiter riss. Sie legen die Werften still. Streik! Streik! lief es nun auch in Bremen und in den anderen Werften von Mund zu Mund. Die Maschinen blieben stehen. Das Konzert der Niethämmer klang ab. Die Heizer rissen die Feuer heraus. Die Arbeiter kletterten von den Schiffen, aus den Werkstätten, eine sich vereinigende, drohende Masse. Die Autorität der Vorgesetzten und der Polizisten versank in nichts. Das Schweigen der Sirenen rückte nie Geahntes in aller Bewusstsein. Die Ruhe der feiernden Tausenden und ihre Solidarität waren erhebend und unheimlich.“ Es ist ein geradezu utopisch anmutender Moment der Solidarität, der Arbeitermacht!
Mitte Juli 1913 greift von den Hamburger Werften ausgehend eine Streikbewegung nach Kiel, Stettin und eben auch nach Bremen über, nachdem viele Vertrauensleute in provokatorischer Absicht entlassen worden waren. Die Metallarbeitergewerkschaft erklärt den Streik zu einem „statutenwidrig“ wilden Streik. Die Streikenden sollen die Arbeit sofort wiederaufnehmen. Der Streik gefährde die Arbeiterorganisationen, liefere nur den Vorwand für neue antisozialistische Ausnahmegesetze.
In den bürgerlichen Zeitungen wurde gegen den „Streik-Terror“ getrommelt und „Frieden gepredigt“: „Die Werftindustriellen blieben unerbittlich. Untragbar seien die Forderungen: höhere Löhne, Kontrolle der Akkorde durch die Arbeiter, höhere Prozente für Überstunden und Nachtstunden, Aufhebung des Systems der Schwarzen Listen. Der Terror der Streikenden sei unerhört. Schon morgen könnten die Elektrizitäts- und Verkehrsarbeiter durch Arbeitsverweigerung die Allgemeinheit zu vergewaltigen suchen. Hier stehe Gewalt gegen Gewalt! Ein Staat, der die Geister des Umsturzes nicht zu bannen vermöge, gebe sich selbst auf.“
Im Zeichen verschärfter Klassenkämpfe, des Krieges im Anzug reagierten die Unternehmer mit scharfen Generalaussperrungen. Erschöpfte Streik- und Solidaritätskassen belasten die Streikbewegung bis hin zu ihrer Spaltung. Heinrich Sperber stellt sich als maßgeblicher Aktivist die Frage: Wie lange ist der Kampf durchhaltbar? „Aber die Mehrheit war der Meinung, dass die Existenz der Gewerkschaften auf dem Spiele steht, weil die Regierung nur darauf wartet, die Handhabe zu einem neuen Sozialistengesetz zu bekommen und das Proletariat noch nicht stark genug ist, die kapitalistische Klasse und ihre Regierung zum Nachgeben zu zwingen.“ Dagegen wieder Rufe: „Hört! Hört! Und wir sollen zu Kreuze kriechen.“
Die reaktionäre Hegemonie aus Militär, Polizei, bürgerlicher Presse beginnt zu greifen. Die (Werft-) Industriellen nützen den Arbeitskampf, um eine Exempel zu statuieren, wie ein von den Kollegen bedrängter Vertrauensmann meint: „Die Werftgewaltigen haben nämlich mit Bedacht und auf ihre Art auf den Streik hingearbeitet, und unser Pech ist, dass die Arbeiterschaft im Reich noch nicht begriffen hat, was auch für sie auf dem Spiel steht. Wenn aber die Gewerkschaften den Streik sanktionieren würden, müssen sie mit der Generalaussperrung der Metallarbeiter im ganzen Reiche rechnen, und in einer Woche haben die Gewerkschaften keinen Pfennig Geld mehr in der Kasse“. Dagegen ein „fängst du auch so an? Hast dich aber schön einwickeln lassen.“ (IJ 357, 366–370)
In riesigen Versammlungen herrscht angespannte Stimmung, empörte Arbeiter da, niedergedrückte zur Disziplin aufrufende Gewerkschaftsbeamte dort: „‚Haltet Disziplin! Die Streikleitung wird entsprechende Maßnahmen treffen.‘ (…) Langsam lehrte sich der Saal. Auf der Straße sammelten sich die Massen von neuem. Polizeipatrouillen versuchten, sie auseinanderzutreiben, da kam von hintern her Gesang auf: ‚Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet …!‘, der alle festhielt, alle hochriss, alle zum Widerstand vereinigte.“
Wenige Tage kann die Solidarität noch halten, Spenden langen ein: „Arbeiterorganisationen spendeten aus Vereins- und Lokalkassen. (…) Die ruhenden Hämmer und Räder demonstrierten den Sklaven die Macht, die sie hatten, doch sie täuschten sich über die Kräfte des Gegners, nahmen alles auf die leichte Schulter, waren wie von der Kette erlöste Hunde, verschlossen ihr Hirn vor den kommenden Entscheidungen. Die Lokale waren voll. ‚Lass kommen, was will, dreckiger kann es uns nicht mehr gehen. Hauptsache, die Herren merken, dass die Arbeiter auch eine Galle im Leib haben.‘
Wochen vergingen. Die letzten Groschen wurden aufgezehrt. Die Mittagsgäste mehrten sich. Neue Küchen mussten eingerichtet werden. Die Hilfsquellen flossen spärlicher. “
Noch gelingt es Streikbrecher als „Lumpengesindel“ zu vertreiben, aber die Kraft der Bewegung sinkt. Die Polizeipräsenz wird immer dominanter: „Noch an demselben Tag wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Polizei um ein Vielfaches verstärkt und auf Verdächtige sofort scharf geschossen. Noch drei Wochen trotzten die Streikenden der bewaffneten Gewalt, dann siegte der Hunger über sie.“
Auch wenn sich der Streik totläuft, soll er zumindest eine Warnung an „die Herren“ sein, so Paul Zander zu Heinrich Sperber gewandt: „Die Herren sollen wissen, dass sie auch etwas riskieren, und sie sollen sich auch verrechnen und haben sich bereits verrechnet, denn dass die Werften an der ganzen Wasserkante nun bereits seit acht Wochen stillliegen, das haben sie sicher nicht mit einkalkuliert.“
Paul und Heinrich finden sich unter den Entlassenen: „Ein Drittel der Werftarbeiter wurde nicht wieder eingestellt.“ Wieder geht viel Kampfkraft verloren, da sich die „Klassenbewusstesten“ in alle Winde zerstreuen müssen: „Gottlieb schnürte sein Bündel, um sich irgendwo als Hufschmied Arbeit zu suchen. Kartau musterte auf einem Fischdampfer ein. (…) Gegen Paul lag ein Haftbefehl vor. In den Zeitungen wurde eine Personalbeschreibung von ihm veröffentlicht.“ (IJ 373–376)
Nach vielen Jahren besucht Heinrich die Eltern in seinem bayerischen Heimatdorf: „Meine Eltern sind Menschen mit ganz anderen Anschauungen, fromm und brav auf ihre Art, und ich bin ihrer Meinung nach ganz aus der Art geschlagen.“
Scharrer gestaltet eine trügerisch idyllische Dorfszene, ganz im Kontrast zu den Arbeitervierteln in Bremen: „Ein klarer Himmel lag über der winterlich glitzernden Heimat, kein Hauch bewegte die schneetragenden Bäume. Kirchgänger begegneten uns, grüßten, einige gaben mir die Hand. Am Kruzifix schlugen sie das Kreuz. (…) Derselbe vereiste Dorfbrunnen, die in Nebel gehüllten Berge des Frankenjura (…). Viele meiner Geschwister hatte ich noch nicht gesehen und alle bewunderten den großen Bruder. Es fiel mir schwer, die dreizehn Namen zu behalten. Auch Vater und Mutter versprachen sich manchmal.“
In der Isolation des Dorfs sind die Sorgen aber sogar noch größer: „Es war kein Äckerchen dazugekommen; was dazu kam, waren Kinder. Es reichte nicht für den Schuster, den Krämer, den Pfarrer und die Hebamme“. Der alte gebeugte Vater ist enttäuscht, dass Heinrich so lange nichts von sich hat hören lassen. Zwischen ihnen liegt eine Welt, auch wenn es nur die Welt der einen selben Entbehrung ist, die Welt der Kleinkeuschler, der Taglöhner und die Welt der Werftarbeiter: „Ihr habt in eurem Leben immer das getan, was man euch befohlen hat. Ihr habt gehungert und nicht danach gefragt, warum immer die hungern müssen, die arbeiten. (…) Ihr habt mich zwingen wollen, genau so zu denken, wie ihr.“ Der Vater hört nachdenklich zu: „Dann sprach ich darüber, dass es etwas anders sei, wenn Hunderte, Tausende, Zehntausende Fäuste sich ballen, als wenn ein einzelner von so vielen getreten wird. Wie die Werftarbeiter sich emporreckten, drohend verkündeten: ‚Völker, hört die Signale!‘“ Die Autobiographie endet mit einem Motiv wie aus einem lieblichen Heimatroman: „Ja, dort am Waldabhang, wo Brombeersträucher den Weg zum Bahnwärterhäuschen überwuchern: Dort singt ein Hirtenknabe in Lied.“ Der ganz junge Heinrich war Ziegenhirte am Bahndamm gewesen! (IJ 382–384)
[1] Adam Scharrer: Vaterlandslose Gesellen. Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters, Agis-Verlag, Wien-Berlin 1930 (kurz: VG).
[2] Adam Scharrer: In jungen Jahren. Erlebnisroman eines Arbeiters (Gesammelte Werke 7), Aufbau-Verlag, Berlin-Weimar 1977 (kurz: IJ)
[3] Hans Marchwitza: Meine Jugend. Roman, Verlag Tribüne, Berlin 1952 (kurz: J).
[4] Hans Marchwitza: Die Kumiaks, Zürich-Wien-Prag 1934 (kurz: K).
[5] Adam Scharrer: Der große Betrug. Die Geschichte einer Arbeiterfamilie, Thüringer Volksverlag, Erfurt 1951 (kurz: GB)
[6] Ludwig Turek: Ein Prolet erzählt. Lebensschilderung eines deutschen Arbeiters, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1972.
[7] Max Hoelz: Vom „Weißen Kreuz“ zur roten Fahne. Jugend‑, Kampf und Zuchthauserlebnisse, Malik-Verlag, Berlin 1929.
[8] Weitere Beispiele für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa in Jürgen Kocka: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015, 266–290.
[9] Vgl. zu „Lohnformen – Arbeitszeiten“ etwa Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, 354–371.