Die kapitalistische Verwertung von Leiden und den Konsequenzen des Kapitalismus in der neuen Doku „Babo – Die Haftbefehl Story“.
Offenbach/Berlin. Kaum eine andere Produktion hat in den letzten Wochen derart breite Aufmerksamkeit erzeugt wie die Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl Story“. In den sozialen Medien ist sie Dauerthema, und kaum ein junger Mensch scheint sie nicht gesehen zu haben. Auffällig ist jedoch: Auch viele, die mit Deutschrap bislang nichts am Hut hatten, sehen fasziniert zu, wenn sich das Drama um Aykut Anhan alias Haftbefehl entfaltet – ein Drama zwischen Aufstieg, Exzess und Absturz.
Der Streaming-Erfolg ist so groß, dass bereits Stimmen laut werden, Haftbefehl und seine Texte in den Schulunterricht aufzunehmen. Medien von Der Standard bis WDR berichten über die Forderung, seine Musik im Deutsch- oder Politikunterricht zu behandeln. Die einen sehen darin eine Möglichkeit, Jugendliche über Popkultur an gesellschaftliche Themen heranzuführen. Andere warnen, dass Gewalt, Drogen und Kriminalität kein Schulstoff seien. Doch gerade diese Debatte zeigt: Die Figur Haftbefehl ist längst Teil des bürgerlichen Diskurses geworden und lange nicht mehr nur Symbol des Rap-Milieus, er ist auch ein Spiegel gesellschaftlicher und kapitalistischer Widersprüche.
Vom Rand der Gesellschaft zum Star des Mainstreams
Wer ist dieser Haftbefehl, dessen Leben nun von Netflix zu einem 90-minütigen Spektakel verdichtet wurde?
Geboren in Offenbach als Sohn einer kurdischen Mutter und eines türkischen Vaters, wächst Aykut Anhan in prekären Verhältnissen auf. Die Mutter kam einst als Sportlerin nach Deutschland, verdiente jedoch zu wenig, um davon zu leben. Der Vater, zwischen Gelegenheitsgeschäften und kriminellen Milieus, bewegte sich in einer Welt, in der Geld zwar vorhanden aber hart umkämpft und der Status stets prekär ist.
Offenbach in den 1990er-Jahren: eine Stadt, die exemplarisch für die Klassenspaltung in der Bundesrepublik steht: hohe Arbeitslosigkeit, soziale Brennpunkte, kaum Aufstiegschancen für Familien mit Migrationsgeschichte. Schon als Jugendlicher dealt Aykut mit Drogen, konsumiert selbst, flieht zeitweise in die Türkei, um dem Gefängnis zu entgehen. Der Rap wird schließlich sein Ausweg und seine Sprache, die Wut und Desillusionierung einer Generation artikuliert, die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft keinen Platz findet.
Doch während die Doku all dies zeigt, blendet sie den gesellschaftlichen Kontext aus. Die Filmemacher konzentrieren sich auf das Individuum: den „kaputten Künstler“, den traumatisierten Sohn, den Junkie. Die soziale Realität: Rassismus, Klassenausschluss, ökonomische Unsicherheit – bleibt bloße Kulisse. Das System, dass diese Realitäten hervorbringt, der Kapitalismus und seine Eigentumsverhältnisse, werden ausgeblendet und es wird sich an dem vermeintlichen Schicksal von Aykut und seinen Brüdern ergötzt, dieses wird als unausweichlich inszeniert.
Vom Einzelschicksal zur Ware
Diese Entpolitisierung und Entkontextualisierung ist kein Zufall. Die Doku erzählt bewusst keine Geschichte über gesellschaftliche Verhältnisse und deren Grundlage, sondern über ein Einzelschicksal, über Trauma, Therapie und Selbstzerstörung. Das Leiden wird nicht erklärt, sondern ästhetisiert. Die Kamera sucht den Schmerz, die Träne, das Zittern der Hände, malt diese aus und insziniert sie, nicht aber die Ursachen.
Der Film erfüllt damit exakt die Logik der kapitalistischen Kulturindustrie: Alles, auch das Leid, wird zur Ware. Die Doku zeigt nicht nur Haftbefehl, sie vermarktet ihn, mitsamt Absturz, Kokainnase und Klinikaufenthalt. Der Künstler, der sich selbst ruiniert, wird zur perfekt verwertbaren Figur: authentisch, kaputt, menschlich.
Es ist bezeichnend, dass das Label Universal prominent im Film auftaucht. Die Vertreter der Musikindustrie äußern zwar Bedauern über Haftbefehls Unzuverlässigkeit, aber nie Selbstkritik über ihre eigene Rolle. Sie klagen über abgesagte oder skandalöse Auftritte, und planen im nächsten Atemzug neue Tourneen. Was zählt, ist die fortgesetzte Verwertung, das nächste Geschäft, immer Höher immer mehr und dabei hilft auch die Dokumentation.
Der Film dokumentiert nicht etwa den Widerspruch zwischen Kunst und Kommerz – er reproduziert ihn. Denn der reale Absturz des Künstlers wird selbst zum Spektakel, zur Marketingkampagne für Streams und Konzerte. Schon jetzt ist der Effekt sichtbar: Haftbefehl erlebt einen massiven Popularitätsschub, neue Auftritte sind angekündigt. Leid wird in Profit verwandelt.
Familiäre Strukturen: das Ungesagte
Auch die Geschlechterverhältnisse bleiben im Film unhinterfragt. Haftbefehls Frau Nina wird als stille Leidende gezeigt. Sie trägt die familiäre Last, während ihr Mann konsumiert, verschwindet, zurückkehrt. Sie wird zur passiven Nebenfigur im Drama des Genies. Die Doku bedient damit das klassische Muster des patriarchalen Künstler-Mythos: Der Mann leidet für seine Kunst, die Frau hält treu aus.
Es wird weder problematisiert, wie er seine Familie behandelt, noch welche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in dieser Beziehung wirken. Die Ordnung wird ästhetisch überblendet, die Frau bleibt emotionales Beiwerk, während der „Babo“ im Zentrum steht. Auch das ist Teil der kapitalistischen Ideologieproduktion: das Genie, dessen Zerstörung und Erlösung zur Unterhaltungsform wird.
Ästhetik des Voyeurismus
Die Doku geht weit über Erzählung hinaus – sie inszeniert Leid. Szenen wie der Suizidversuch des Vaters oder Haftbefehls eigene psychischen Zusammenbrüche werden nachgestellt, mit Musik unterlegt, in Zeitlupe geschnitten. Der Zuschauerinnen und Zuschauer sollen fühlen, nicht verstehen. Das Elend wird zur Attraktion, nicht zur Erkenntnis.
Das ist die Ästhetik des Voyeurismus: Die Kamera wird zum Schlüsselloch, durch das das Publikum blickt, begierig nach Authentizität, nach der nächsten Eskalation. Die vermeintliche Ehrlichkeit („Ich will, dass alles gefilmt wird, Bro“) ist nichts anderes als die totale Durchdringung durch den Markt: Selbst das Leiden muss noch ehrlich, profitabel, sein.
Die Einhegung der Subkultur
Damit wird auch deutlich, wie die Hip-Hop-Kultur, einst Sprachrohr der Marginalisierten, in den Mainstream eingemeindet wird. Haftbefehl, einst Symbol für die Straße, für Widerständigkeit und Authentizität, ist längst Bestandteil der Unterhaltungsindustrie. Bereits sein letztes Album „Mainpark Baby“ wurde anerkennend im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung besprochen, Hafti ist schon lange en vouge, weil er den Voyeurismus bestimmter sozialer Schichten befriedigt, und nicht mehr so unangenehm politisch ist, wie er es mal war. Was als Ausdruck der Klassen- und Migrationserfahrung begann, wird zur dekorativen Kulisse für Konsum.
Netflix, Universal und andere Medien verwandeln den realen sozialen Schmerz in eine emotional vermarktbare Geschichte – gereinigt von Systemkritik, entschärft, konsumierbar. Es ist die alte Strategie der bürgerlichen Kulturindustrie: kulturelle Formen des Widerstands zu neutralisieren, indem man sie ästhetisch integriert.
Der Kapitalismus frisst seine Kinder – auch im Rap
„Babo – Die Haftbefehl Story“ ist keine Gesellschaftsanalyse, sondern ein Spiegel des gegenwärtigen Kulturbetriebs. Sie zeigt, wie Kapitalismus das Leiden der Menschen nicht lindert, sondern in klingende Münze verwandelt. Der Film liefert kein Verständnis für die Bedingungen, in denen Aykut Anhan sozialisiert wurde, er liefert Material für die Aufmerksamkeitsökonomie.
Haftbefehl wird hier nicht als Produkt einer Klassengesellschaft gezeigt, die Millionen Menschen vom gesellschaftlichen Reichtum ausschließt, sondern als tragische Einzelgestalt. Damit verschiebt die Doku die Perspektive, weg von der Struktur, hin zum Individuum.
Doch wer verstehen will, warum ein junger Mensch aus Offenbach in Drogen, Gewalt und Selbstzerstörung flüchtet, muss die Gesellschaft betrachten, die ihn hervorgebracht hat: eine Gesellschaft, in der Reichtum und Elend Seite an Seite existieren, in der Integration versprochen, aber Ausbeutung praktiziert wird.
Was Netflix zeigt, ist kein „authentisches“ Leben, sondern die kapitalistische Simulation davon. Die Kamera läuft weiter, auch wenn Blut fließt – denn das ist Content. Haftbefehl wird so zur tragischen Figur im Schauspiel der Kulturindustrie: ein Mensch, der glaubt, sich auszudrücken, während er längst Teil der Maschinerie ist, die ihn verschlingt.

















































































