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Die Erfindung des Faschismus

Vor genau 105 Jahren gründete Benito Mussolini die „Fasci di Combattimento“. Wir bringend zu diesem Jahrestag einen Artikel von Tibor Zenker aus dem Jahr 2009.

Am 23. März 1919 wurden im italienischen Mailand durch Benito Mussolini die „Fasci di Combattimento“ gegründet. Diese „Kampfbünde“ – mehr bedeutet der Name nicht – stellten die namensgebende Keimzelle der Herausbildung des Faschismus als reaktionäre politische Bewegung neuen Typs dar. So diffus und widersprüchlich sich die Inhalte des Faschismus zunächst darstellten, so war der Faschismus von Anbeginn vor allem eines: das endlich gefundene Instrument in den Händen des Großkapitals, um den proletarisch-revolutionären und sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse in Stadt und Land nicht nur wirksam Einhalt zu gebieten, sondern um sie zurückzuschlagen und zu vernichten. Und doch war diese antizipierte Konterrevolution lediglich die erste Aufgabe des Faschismus, der den Boden für umfassendere imperialistische Programme zu bereiten hatte.

Die Entwicklungslinie faschistischer Bewegungen aus dem weißgardistischen Terror am Ende und im Gefolge des Ersten Weltkrieges ist evident. Dies gilt für Italien ebenso wie für Deutschland oder Österreich. Derart zeigt sich auch die soziale Basis des Faschismus, die in aller Regel aus deklassierten oder vor der Deklassierung stehenden Kleinbürgern, bedrängten Bauern, Lumpenproletariern und nicht wieder ins „normale Leben“ zu integrierenden Soldaten besteht, während die Arbeiterklasse immer unterrepräsentiert bleibt. Diese Zusammensetzung ändert indessen nichts am eigentlichen Klassencharakter der faschistischen Bewegung ebenso wie der faschistischen Diktatur, der ein monopolkapitalistischer ist. Der Faschismus ist immer und überall ein Instrument bzw. die Herrschaft des Finanz- bzw. Monopolkapitals und des Großgrundbesitzes, je nach Zusammensetzung der jeweiligen nationalen Großeigentümerklassen.

Mussolinis Gründungsakt vor 90 Jahren ist freilich nur unter einer gewissen gezwungenen Zurechtrückung als „Geburtsstunde des Faschismus“ zu betrachten. Diese ist natürlich nicht punktuell festzumachen und letztlich auch keine vorrangig organisatorische Frage: Der Faschismus als reaktionär-konterrevolutionäres Instrument und offen terroristische und diktatorische Herrschaftsform des Monopolkapitals entsteht objektiv als Ergebnis des Eintritts des Kapitalismus ins Stadium seiner allgemeinen Krise im Zeitalter des Imperialismus. Die Entwicklung in Italien markiert, bereits vor dem März 1919 und in den folgenden 26 Jahren, lediglich ein recht klassisches Beispiel des Faschismus in Bewegungs- und als Herrschaftsform, weswegen sich von Mussolinis „Kampfbünden“ die Gattungsbezeichnung „Faschismus“ ableitet.

Das Wort Faschismus bedeutet in Wahrheit aber sehr wenig. Das italienische „fascio“ (Plural „fasci“) heißt nichts weiter als „Bund“ und ist somit eigentlich neutral. Es war bereits im 19. Jahrhundert für Gewerkschaften und linke Arbeiterorganisationen in Verwendung (z.B. Fascio Operaio). Seine eigentümliche, tendenziöse Bedeutung erhält das Wort erst bei Mussolini, der sich zudem auf eine Doppelbedeutung beruft, denn fasci im Plural meint nicht nur Bünde, sondern auch Bündel. In diesem Sinne leitet es sich vom lateinischen „fasces“ ab, was schon in der antiken Römischen Republik ein staatliches Machtsymbol in Form eines Rutenbündels (mit oder ohne Beil) war. Als Symbol der Staatsgewalt wurde das Rutenbündel in der Französischen Revolution wieder aufgegriffen, die staatliche Volkssouveränität versinnbildlichend. Vor diesem Hintergrund machte Mussolini das Rutenbündel auch zum Symbol der italienischen Faschisten. Somit bedeutet Faschismus im wörtlichen Sinn nichts als „Bundismus“, Bündlertum. Über politischen und ideologischen Inhalt wäre damit ursprünglich nichts gesagt, d.h. es bedurfte einer im Nachhinein entwickelten Faschismustheorie, die den Begriff definiert.

Der Herausbildung der Fasci di Combattimento 1919 war 1915 die Gründung der „Fasci d’Azione Rivoluzionario“ („Revolutionäre Aktionsbünde“, FAR), ebenfalls schon durch Mussolini, vorangegangen. Hier ist es nötig, den politisch-ideologischen Hintergrund und die Vergangenheit Mussolinis kurz zu betrachten. Mussolini kam nämlich aus der Italienischen Sozialistischen Partei (1892/93 gegründet), einer Mitgliedspartei der II. Internationale, die marxistischen Charakter hatte. In dieser ISP hatte Mussolini eine steile Karriere hingelegt, als durchaus linksradikale Führungsfigur, die ideologisch anarchosyndikalistische Tendenzen zeigte. In der Frage der Weltkriegsbeteiligung Italiens kam es zum Bruch: Mussolini propagierte den Kriegseintritt auf Seiten der Entente, die ISP vertrat jedoch – wie die russischen Bolschewiki und die serbischen und bulgarischen Sozialdemokraten – eine im Wesentlichen antimilitaristische und antiimperialistische Position. Mussolini wurde aus allen ISP-Funktionen entfernt. Die FAR-Gründung war noch der Versuch Mussolinis, mit einem linksradikalen Mäntelchen sein eigenes Süppchen zu kochen – dieser Versuch misslang gründlich, da Mussolini in der Linken aufgrund seiner Kriegsbegeisterung hoffnungslos diskreditiert war. Deshalb entschloss sich Mussolini, da der linke Weg zur Macht für ihn versperrt war, die Seiten ganz offen zu wechseln, d.h. rechts und bei der Bourgeoisie nach Anerkennung zu suchen. Dem entsprach die Gründung der Fasci di Combattimento, der „Schwarzhemden“ oder „Squadristen“, wie sie auch genannt wurden.

Diese standen von Beginn an, trotz ihrer teilweise „sozialrevolutionären“ Rhetorik, dem Kapital und dem Großgrundbesitz als gegenrevolutionäre, weißgardistisch-terroristische Gruppierung gegen die revolutionäre Arbeiterklasse zur Verfügung. In den Jahren 1918 und 1919 befand sich die revolutionäre Arbeiterklasse in Norditalien in der Offensive. Das Kapital schien dagegen machtlos, bis Mussolinis Fasci mit ihrem Terror von rechts erfolgreich in die Klassenkämpfe eingriffen und der Reaktion dazu verhalfen, wieder die Oberhand zu gewinnen. Im Gegenzug wurde Mussolini (mit weiteren 33 Faschisten) auf der Regierungsliste „Nationaler Block“ im Mai 1921 ins Parlament gewählt. Gleichzeitig wurde der faschistische Terror verstärkt, bis schließlich Mussolini als „starker Mann“ präsentiert werden konnte, der für Stabilität und Ordnung sorgen sollte. Letzter Akt war diesbezüglich die Niederschlagung des linken Generalstreiks im Februar 1922.

Im Oktober desselben Jahres rief Mussolini zum berüchtigten „Marsch auf Rom“ auf, um die Macht zu ergreifen. Diese „Machtergreifung“ war – ebenso wie 1933 in Deutschland für die NSDAP – nicht nötig und ist ein Mythos, denn die Macht wurde Mussolini bereits zuvor am Silbertablett serviert und übertragen, nämlich durch den italienischen König Viktor Emanuel III., der Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannte und das Militär zum Gehorsam anhielt. So kam der italienische Faschismus als scheinbare Bewegung „von unten“ durch das Bündnis mit dem Konservativismus, dem König, dem Militarismus (und der Kirche) an die Macht, kurz: als Instrument des Großkapitals und Großgrundbesitzes, als Instrument des italienischen Imperialismus.

Die Vollendung der faschistischen Diktatur in Italien dauerte bis 1926. Auf Basis seiner vorübergehenden außerordentlichen Machtbefugnisse führte Mussolini 1923 ein rigoroses Mehrheitswahlrecht ein, dass ihm bei relativer Mehrheit über 25 Prozent der Stimmen eine automatische Zweidrittelmehrheit im Parlament garantieren sollte, was im Januar 1924 auch gelang. Im Juni 1924 wurde Giacomo Matteotti ermordet, der Sekretär der Vereinigten Sozialistischen Partei, des reformistischen Flügels der früheren ISP (die revolutionären Sozialisten hatten 1921 die Kommunistische Partei Italiens unter Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti gegründet). Matteottis Mörder waren Faschisten, worauf sich die Stimmung in Italien langsam gegen Mussolini wendete. In diesem Moment fasste die parlamentarische Opposition einen folgenreichen Entschluss: sie verließ das Parlament, um den König zur Absetzung Mussolinis und zur Ansetzung von Neuwahlen zu drängen. Doch Viktor Emanuel III. stellte sich abermals auf die Seite des Faschismus und blieb untätig, wodurch Mussolini bequem seiner politischen Gegner im Parlament entledigt wurde, ab Januar 1925 sogar zum Gegenschlag ausholen konnte und unbehelligt massenhaft Oppositionelle verhaften ließ. 1926 wurden alle politischen Parteien verboten – außer der „Nationalen Faschistischen Partei“ („Partito Nazionale Fascista“), die bei den „Wahlen“ 1928 sodann auch als einzige Kandidaten stellte. Im Ergebnis konnte auch die institutionelle Umstrukturierung des italienischen Staates zur offenen faschistischen Diktatur umgesetzt werden.

Damit, nachdem die Arbeiterbewegung zerschlagen war und die Demokratie beseitigt, konnte der italienischen Faschismus zu seinem weiteren imperialistischen Programm übergehen. Mussolini unterstützte faschistische Regierungen im Ausland, so in Ungarn und den Austrofaschismus in Österreich, 1935 sah er sich für militärische Expansionen gewappnet, es folgte der Abessinienfeldzug. Auch im Spanischen Bürgerkrieg griff der italienische Faschismus ab 1936 offen auf Seiten Francos ein. Gleichzeitig kam es zur Annäherung an Hitler und den deutschen Faschismus. 1937 trat Italien dem „Antikomintern-Pakt“ zwischen Deutschland und Japan bei. Im April 1939 besetzten italienische Truppen Albanien, das aber nur mit deutscher Unterstützung gehalten werden konnte. Im Zweiten Weltkrieg war der italienische Faschismus williger Partner des deutschen Faschismus – und sollte sein Schicksal teilen.

Die militärischen Potenzen des italienischen Faschismus waren dem Zweiten Weltkrieg nicht gewachsen, zumal es auch im Inneren ernsthaften antifaschistischen Widerstand und eine starke kommunistische Partisanenbewegung gab. Als die Alliierten in Sizilien landeten, wurde Mussolini vom eigenen „Großen Faschistischen Rat“ und mit Unterstützung des Königs im Juli 1943 abgesetzt und inhaftiert, mit den USA wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Die deutsche Wehrmacht besetzte im September 1943 die Nordhälfte Italiens, befreite Mussolini und ließ ihn die faschistische „Soziale Republik Italien“ am Gardasee ausrufen. Doch militärisch war für die deutschen und italienischen Faschisten nichts mehr zu gewinnen. Beim Fluchtversuch in die Schweiz wurde Mussolini im April 1945 von kommunistischen Partisanen festgenommen, in einer Gerichtsverhandlung verurteilt und erschossen. Am 28. April 1945 kapitulierten die deutsche Wehrmacht und ihre verbliebenen italienischen Verbündeten in Italien.

Der Faschismus in Italien ist aber nicht tot, denn es wird ihn mehr oder weniger latent immer geben, solange es den Imperialismus gibt. Bereits 1946 wurde die faschistische Partei „Movimento Sociale Italiano“ („Italienische Sozialbewegung“) gegründet, die mitunter bemerkenswerte Wahlerfolge feiern konnte und als Unterstützerin konservativer Regierungen Bedeutung erlangte. 1995 wurde die Partei unter Gianfranco Fini in „Alleanza Nazionale“ (AN, „Nationale Allianz“) umbenannt. Diese „postfaschistische“ AN war 1994 und 2001–2006 bereits Koalitionspartner in den Regierungen Silvio Berlusconis. Seit 2008 ist sie das abermals, Fini seither Parlamentspräsident und damit dritthöchster Amtsträger des italienischen Staates. Vor wenigen Tagen, am 22. März 2009, wurde die AN formell aufgelöst, um mit der Berlusconi-Partei gemeinsam die neue (Regierungs-)Partei „Popolo della Libertà“ („Volk der Freiheit“) zu bilden. Es existieren mehrere Abspaltungen der AN, die weiterhin ganz offen ihren neofaschistischen Kurs verfolgen. Die wichtigste davon ist gegenwärtig die „Azione Sociale“ („Soziale Aktion“), für die 2004 Alessandra Mussolini, eine Enkelin Benito Mussolinis, ins EU-Parlament gewählt wurde.

Ergänzung der Redaktion (2024): Alessandra Mussolini sitzt mittlerweile für die rechtskonservative Forza Italia im EU-Parlament und strebt im Juni 2024 die Wiederwahl an. Damit kommt es bei den italienischen EU-Wahlen heuer zu einem Mussolini-Duell: Auf der Liste der „postfaschistischen“ Regierungspartei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni kandidiert mit Caio Giulio Cesare Mussolini nämlich auch ein Urenkel Benito Mussolinis.

Quelle: Tibor Zenker, „Die Erfindung des Faschismus“, in: „Faschismus/Antifaschismus“, Wien 2011

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