HomeFeuilletonRezension: Aufbruch in die „Heimat des Proletariats“

Rezension: Aufbruch in die „Heimat des Proletariats“

Historikerin Gisela Hormayr schildert in ihrer aktuellen Publikation die Lebenswege von Tirolerinnen und Tirolern, die während der Zwischenkriegszeit in die Sowjetunion auswanderten.

Ehemalige Kriegsgefangene, Kolonisten, Spezialisten, Februarkämpfer, Menschen auf der Flucht vor kapitalistischem Elend und faschistischer Verfolgung: Die Motive und Lebenswege der etwa 3.000 Österreicherinnen und Österreicher, die vor 1938 in die Sowjetunion auswanderten, sind vielfältig. Den Tirolern unter ihnen (großzügig auch solchen, die nur einige Jahre in diesem Bundesland verbrachten) widmet sich Gisela Hormayr im jüngst erschienen Band „Aufbruch in die ‚Heimat des Proletariats‘. Tiroler in der Sowjetunion 1922–1938“.

Schutzbündler in Moskau

Es sind äußerst lesenswerte biografische Skizzen, die Hormayr akribisch recherchiert hat – Herausgeber Horst Schreiber berichtet in seinem Vorwort von der versprengten Quellenlage und beträchtlichen Aushebungs- und Übersetzungsaufwendungen. Wieder einmal erweisen sich dabei die in Moskau geführten Kaderakten der KPÖ als ergiebiges Quellenmaterial – ein großer Teil der über 500 in die Sowjetunion geflohenen Schutzbundkämpfer schloss sich der kommunistischen Bewegung an.

Hoffnung für die Werktätigen

Dabei war der Höhepunkt der Auswanderung in die Sowjetunion bereits in den Jahren 1931 und 1932, inmitten der kapitalistischen Krise, erreicht. Das Land der Oktoberrevolution erreichte damals in der Auswanderungsstatistik Österreichs klar den ersten Platz, deutlich vor den USA und Argentinien. Technische Spezialisten wurden gezielt angeworben, um das enorme industrielle Aufbauprogramm des ersten Fünfjahresplanes bewältigen zu können. Andere versuchten es teils auf abenteuerlichen Wegen: Eine Gruppe von Innsbrucker Kommunisten baute 1932 ein Boot, um bis zum Schwarzen Meer zu gelangen – und kenterte bereits bei der Volderer Brücke in der Nähe von Wattens. Neben solchen Episoden geht die Autorin auch auf die organisierten Arbeiterdelegationen ein, welche etwa die beiden Sozialdemokraten Angelus Pallestrang und Josef Populorum den Weg zur KPÖ finden ließen.

Die österreichische „Rote Fahne“ im April 1932: Werbung für die Sowjetunion als Hoffnung für die Werktätigen

Zusammen mit der Schilderung der Tiroler Emigration in die Sowjetunion wird auch die Entwicklung der unter besonders schwierigen Bedingungen kämpfenden, revolutionären ArbeiterInnenbewegung Tirols nachgezeichnet. Gerade der oft kleinräumige Fokus – etwa das Tiroler Unterland im Zeichen der Weltwirtschaftskrise oder Wörgl während der Februarkämpfe – ist eine wertvolle Ergänzung zur bisher vorhandenen Literatur.

Tiroler Bergbauer in Moskau

Eindringlich schildert die Autorin auch den weniger bekannten Teil der Biografie von Max Bair, jenem verarmten Bergbauern aus Steinach, der 1937 seine drei Kühe verkaufte, um zusammen mit drei Genossen aufzubrechen und auf Seiten der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Die Erzählung „Die drei Kühe“ von Egon Erwin Kisch machte Bair damals kurzzeitig weltberühmt – Hormayr ergänzt die weiteren Lebensstationen Moskau, jugoslawische Partisanen, KPÖ Tirol, Verhaftung durch das amerikanische CIC in Salzburg und schließlich DDR.

Ein großer Teil der geschilderten Lebenswege endete letztlich gewaltsam. Manche fielen im Spanischen Bürgerkrieg, gerieten in die Fänge der Hitlerfaschisten oder überlebten den Partisanenkampf nicht. Wie Hormayr anhand zahlreicher Einzelschicksalen aufzeigt, wurden viele Tiroler ab 1937/38 Opfer der sogenannten „Säuberungen“ in der Sowjetunion. Oft sind die genaueren Umstände von Verfahren, Haft und Hinrichtung nur unvollständig rekonstruierbar; die Familien erfuhren meist jahrzehntelang nichts über ihre Angehörigen. Die Autorin thematisiert auch umfassend die oft (aber spät) erfolgten Rehabilitierungen. Sie verzichtet dabei auf jegliche reißerische oder simplifizierende Darstellung der Thematik; stattdessen wird auch auf den Wissensstand des österreichischen Bundeskanzleramts eingegangen, welches sich kaum für die – meist ohne ihr Wissen ausgebürgerten – Februarkämpfer einsetzte.

Fazit

„Aufbruch in die ‚Heimat des Proletariats‘ überzeugt durch seine aufwändig recherchierten, präzise und einprägsam formulierten Schilderungen höchst unterschiedlicher Lebenswege von Personen, die bisher kaum im Fokus der Forschung standen. Die Zeit in der Sowjetunion selbst ist dabei in vielen Fällen nur eine von mehreren geschilderten Stationen. Dieser breite Zugang geht jedoch auch zulasten einer umfassenderen Darstellung der Exilstrukturen, Hilfsorganisationen und politischen Aktivität der Tiroler in der Sowjetunion.

Deutlich umfassendere Überblickswerke zu den angeschnittenen Thematiken Schutzbundkämpfer in der Sowjetunion, Remigration, Österreicher an der Leninschule in Moskau, als Partisanen und als Kundschafter, Interbrigadisten nach dem Spanischen Bürgerkrieg, die KPÖ-Führung im Moskauer Exil, österreichische Opfer der Stalin-Zeit etc. sind für spezifisch interessierte Leserinnen und Leser wohl vorzuziehen; das umfassende Quellenverzeichnis bietet hierzu einen guten und aktuellen Einblick in die relevante Forschungsliteratur.

Gisela Hormayr: Aufbruch in die „Heimat des Proletariats“. Tiroler in der Sowjetunion 1922 – 1938 (= Studien zu Geschichte und Politik Band 27)
Studienverlag, Innsbruck 2022
172 Seiten, 21,90 €
ISBN: 978–3‑7065–6220‑1

Zur Autorin: Gisela Hormayr ist Historikerin mit Forschungsschwerpunkt Nationalsozialismus und Widerstand. Sie veröffentlicht unter anderem in den Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft (beispielsweise zu Widerstandskämpferin Josefine Schneider oder zur Antifaschistischen Ausstellung in Innsbruck 1947).

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