Am 22. Mai 1875 begann in Gotha der Einigungsparteitag der deutschen Sozialdemokratie, auf welchem die bisherige, die “Eisenacher” Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und der lassalleanische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) fusioniert wurden. Zu diesem Zweck verabschiedete man ein neues, gemeinsames Parteiprogramm der sodann Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), das als Gothaer Programm bekannt wurde. Noch bekannter und wichtiger ist jedoch die Kritik am Gothaer Programm, die Karl Marx Ende April und Anfang Mai 1875 formulierte (MEW 19, S. 13–32).
Marx hatte berechtigt ein ganz mieses Gefühl bei der Sache, als die verdienstvollen Sozialdemokraten August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) den Zusammenschluss ihrer marxistischen SDAP mit den preußisch-genossenschaftlichen Lassalleanern betrieben. Denn zu Gunsten der falschen Anschauungen von Ferdinand Lassalle (1825–1864) wurde die marxistische Grundlage der SDAP an entscheidenden Stellen nicht nur verwässert, sondern mitunter völlig entstellt. Es dauerte bis 1891, als die ab dann als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) firmierende Partei mit dem Erfurter Programm wieder marxistischen Boden unter die Füße bekam. Genützt hat dies der SPD bekanntlich trotzdem nichts mehr. Sie versank, eben erst der Bismarckschen Illegalität entkommen, in den kommenden 25 Jahren in Revisionismus, Opportunismus und Sozialchauvinismus, weshalb die 1918/19 gegründete KPD die Rolle der revolutionären Arbeiterpartei in Deutschland übernehmen musste.
Doch zurück zum Gothaer Programm und seiner Kritik. Marx verfasst einen Brief an den von ihm geschätzten SP-Funktionär Wilhelm Bracke (1842–1880), um seine Ablehnung zu bekunden. Beigefügt hatte er seine Randbemerkungen zu besonders problematischen Stellen des Gothaer Programms, die “Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei”. Die sozialdemokratische Parteiführung nahm die Kritik zur Kenntnis, ignorierte sie jedoch – der Allgemeinheit und den Mitgliedern gegenüber blieb Marx’ Schreiben unter Verschluss und wurde erst 1891 von Friedrich Engels veröffentlicht.
Dabei wäre es damals sehr wertvoll gewesen, die Anmerkungen von Marx zu lesen, zu verstehen und programmatisch zu übernehmen (sowie praktisch zu leben). Das ist heute, wo abermals viel Unfug gegen und sogar “mit” Marx ge- und betrieben wird, nicht anders. Wir verweisen daher auf den Link ganz unten und bringen zum Einsteigen im Folgenden die wichtigsten Stellen aus den “Randglossen”:
Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. (MEW 19, S. 28)
Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistisch Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. (MEW 19, S. 20)
In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! (MEW 19, S. 21)
Quelle: Karl Max, Kritik des Gothaer Programms