HomeFeuilletonKulturBertolt Brecht: Gedanken über die rote Fahne (Bericht vom 1. Mai 1905)

Bertolt Brecht: Gedanken über die rote Fahne (Bericht vom 1. Mai 1905)

Die „Gedanken über die rote Fahne“ sind ein Abschnitt aus Bertolt Brechts (1898–1956) Stück „Die Mutter – Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer“, das 1932 mit Musik von Hanns Eisler uraufgeführt wurde. Als Vorlage diente Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“ (1906/07), doch Brecht verlegte die Handlung in die Zeit zwischen 1905 und 1917 – die folgenden Zeilen behandeln eine Arbeiterkundgebung am 1. Mai 1905 in Sankt Petersburg.

Gedanken über die rote Fahne

Als wir Arbeiter von den Sochlinow-Werken dann auf den Wollmarkt kamen, sahen wir schon den Zug der anderen Betriebe. Es waren schon viele Tausende. Wir trugen Transparente, darauf stand: „Arbeiter, unterstützt unseren Kampf gegen die Lohnsenkung; Arbeiter, vereinigt euch!“

Wir marschierten ruhig und in Ordnung, unser Betrieb kam direkt nach der großen roten Fahne.

Neben mir marschierte Pelagea Wlassowa, dicht hinter ihrem Sohn. Als wir diesen in der Frühe abgeholt hatten, war sie plötzlich angekleidet aus der Küche gekommen; und auf unsere Frage, wohin sie wolle, hatte sie geantwortet: „Mit euch gehen!“

Solche wie sie gingen vielen mit uns, denn der strenge Winter, die Lohnsenkungen in den Betrieben und unsere Agitation hatten viele zu uns geführt. Bevor wir zum Erlöserboulevard kamen, sahen wir einige Polizisten und keine Soldaten. Aber an der Ecke des Erlöserboulevards und der Twerskaja stand plötzlich eine zweifache Kette von Polizisten. Als die unsere Fahnen und Transparente sahen, schrie plötzlich eine Stimme uns zu: „Achtung! Auseinander gehen! Es wird geschossen! Fort! Fahne weg!“ – Und dazu kamen Stöcke.

Aber da die hinten Marschierenden nachrückten, konnten die Vordern nicht stehen bleiben, und jetzt wurde geschossen. Als die ersten Leute umschlugen, erfolgte nichts weiter als eine Verwirrung. Viele konnten nicht glauben, dass das, was sie sahen, wirklich geschehen war. Dann setzten sich die Polizisten in Bewegung auf die Menge zu.

Ich war mitgegangen, um für die Sache der Arbeiter zu demonstrieren. Es waren lauter ordentliche Leute, die da marschierten, die ihr Leben lang gearbeitet hatten.

Wir standen noch immer ziemlich vorn, und wir gingen auch nicht auseinander, als geschossen wurde.

Wir hatten unsere Fahne. Smilgin trug sie, und wir dachten auch nicht daran, sie weg zu geben, denn jetzt schien uns, ohne dass wir uns verständigten, dass es wichtig wäre, dass sie gerade uns treffen und niedermachten und die Fahne, gerade die unsere, die rote, wegnehmen.

Dies wollten wir Arbeiter mit allen Arbeitern sehen, wer wir sind und wofür wir sind, nämlich für die Arbeiter.

Die gegen uns waren, mussten sich benehmen wie die wilden Tiere, weil sie noch so von den Sochlinows ihren Lebensunterhalt bekamen.

Endlich würde es jeder sehen, und unsere Fahne, die rote, musste besonderes hochgehalten werden, allen sichtbar, nicht zum wenigsten den Polizisten, aber auch allen anderen.

Und die sie nicht sahen, den sollt es erzählt werden. Heute noch, oder morgen, oder in den nächsten Jahren, so lange bis sie wieder gesehen würde, denn, das glaubten wir zu wissen, und viele wussten es sicher in diesem Augenblick, sie würde immer gesehen werden, von jetzt ab bis zur völligen Umänderung aller Dinge, die auf dem Marsch ist, unsere Fahne, die die gefährlichste ist für alle Ausbeuter und Herrschenden, die Unerbittlichste!

Aber für uns Arbeiter, die Endgültige!

Darum werdet ihr sie sehen,

immer wieder, gern oder ungern,

je nach eurer Stellung im Kampf,

der nicht anders enden wird,

als mit dem vollkommenen Sieg,

aller Unterdrückten aller Länder,

aller Unterdrückten aller Länder.

Aber an diesem Tag trug sie der Arbeiter Smilgin.

Mein Name ist Smilgin, ich habe zwanzig Jahre lang der Bewegung angehört, ich war einer der ersten die im Betriebe revolutionäre Aufklärung verbreiteten, wir haben um die Löhne gekämpft und um bessere Arbeitsbedingungen, dabei habe ich im Interessen der Kollegen oftmals mit den Unternehmern verhandelt. Anfangs voller Feindschaft, aber dann, ich gebe es zu, dachte ich, es ginge anders leichter, wenn wir unsere Macht vermehrten, dachte ich, würden wir mitzubestimmen haben. Das war wohl falsch, jetzt stehe ich hier, hinter mir sind es schon viele Tausende, aber vor uns steht wieder die Gewalt. Sollen wir die Fahne weggeben?

„Gib sie nicht weg, Smilgin, es ging nicht mit Verhandeln!“, sagten wir. Und Pelagea Wlassowa sagte ihm:

„Du musst sie nicht weggeben, Smilgin. Gegen eine friedliche Demonstration kann die Polizei nichts haben!“

Und in diesem Augenblick schrie ein Polizeioffizier uns zu: „Gib die Fahne heraus!“

Und Smilgin sah hinter sich, und sah hinter seine Fahne unsere Transparente, und auf den Transparenten unsere Losungen, und hinter den Transparenten standen die Streikenden von den Sochlinow-Werken, und wir sahen hin, was er neben uns, einer von uns, mit der Fahne machte. Zwanzig Jahre in der Bewegung, Arbeiter, Revolutionär, am 1. Mai 1905 vormittags, elf Uhr, an der Ecke des Erlöserboulevards im entscheidenden Augenblick, er sagte:

„Ich geb’ es nicht weg! Es wird nicht mehr verhandelt!“

„Gut!“, sagten wir, „So ist es Recht! Jetzt ist alles in Ordnung!“ – „Ja“, sagte er und fiel vornüber auf sein Gesicht, denn sie hatten ihn schon abgeschossen.

Die Fahne lag neben ihn, da bückte sich unsere Pelagea Wlassowa, die ruhige, gleichmütige, die Genossin, und griff nach der Fahne.

„Gib die Fahne her, Smilgin, gib sie her. Ich werde sie schon tragen. Das wird alles noch anders werden!“

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